Tag Archive for Buch

Romankritik: Die einzige Geschichte, von Julian Barnes (2018, engl. The Only Story) – 7/10 Sterne

A nineteen-year-old boy, or nearly-man, and a forty-eight-year-old woman? Das fragt der Ich-Erzähler zu Beginn verblüfft – doch es funktioniert in diesem Roman über viele Jahre, jedenfalls für die zwei Hauptfiguren, weniger für die Familien und den Tennisclub, in dem sie sich begegneten (ich kenne nur die engl. Fassung und kann die Eindeutschung der langjährigen…

Romankritik: Washington Square, von Henry James (1880) – 8/10 Sterne – mit 2 Videos

Naive, zukünftige Erbin in New York wird von attraktivem Nichtsnutz umworben. Der Tochtervater, gutverdienender Arzt, ahnt den Braten und will den Bewerber blocken. Der jedoch wanzt sich unerschrocken an das Jungfräulein und ihre charmierte Tante heran. Henry James (1843 – 1916) erzählt mit feiner Ironie und psychologischer Einfühlung. Er verwendet kurzweilige Plot- und Stilelemente, die…

Romankritik: Daisy Miller, von Henry James (1878, 1909) – 7/10 Sterne – mit Video

Henry James (1843 – 1916) liefert brillante Dialoge und einen kultiviert-ironischen auktorialen Erzähler, der ständig halb amüsiert, halb schockiert die Stirn zu runzeln scheint. Doch schildert Henry James die Gegensätze Europa/USA und steife Konvention/Freizügigkeit zu zaunpfahl. Das Ende konstruiert Henry James zu deutlich als Moral von der Geschicht‘ und nicht ganz glaubhaft. Seinen frühen Erfolgstext…

Romankritik: Welcome to Lagos, von Chibundu Onuzo (2016) – 4/10 Sterne

Fünf Nigerianer aus allen Regionen und Gesellschaftsschichten machen sich nach Lagos auf – Deserteure, Minister, Journalisten, Dörfler. Doch im ersten Drittel verbindet Chibundu Onuzo (*1991) ihre Geschichten zu wenig und beleuchtet sogar noch Nebenfigurenschicksale. Später leben alle gemeinsam in einer absurden, unterirdischen WG. Die hochgelehrte Autorin überfrachtet ihren Roman mit zu viel Material. Sie schreibt…

Romankritik: Liebe usw., von Julian Barnes (2000, engl. Love etc) – 5/10 Sterne

Nach einigem Vorgeplänkel schließt der Roman Love etc. nahtlos an den Vorgänger Darüber reden (engl. Talking It Over, 1991) an. Das heißt auch: Es gibt wieder endlose Schwafelei von Oliver/Ollie. Ich hätte gewettet, dass Autor Julian Barnes die Logorrhoe seines evtl. Alter ego im zweiten Band zügelt. Aber nein, Ollie muss wieder obsolete  Betrachtungen und…

Romankritik: Darüber reden, von Julian Barnes (1991, engl. Talking It Over) – 6/10 Sterne – mit Video

Drei Personen reden abwechselnd direkt zum Leser und schildern jeweils ihre Sicht eines sich anbahnenden Liebesdreiecks; teils erzählen sie ihre Geschichte fortlaufend, ohne Überlappung. Diese interessante Konstruktion schwächt Julian Barnes durch die Geschwätzigkeit und Blasiertheit der Figur Oliver/Ollie samt Angeber-Fremdwörtern („Gillian’s rebarbatively quotidian motor-car“) und anlasslosem Deutsch oder Französisch mitten im englischen Satz (ich kenne…

Kritik: Nolde und ich. Ein Südseetraum, von Hans Christoph Buch (2013) – 3/10 Sterne

Wie monetarisiert man die 2012er Teilnahme an einer ornithologischen Gruppenreise nach Papua-Neuguinea? Man erfindet ein paar Kapitel über die historische Tropenreise eines berühmten Malers und verschneidet diese Fiktion mit eigenen Tagebuchstichwörtern. Wenn man damit in der renommierten Anderen Bibliothek landet, muss es gut sein. Vielleicht findet Buch sein Buch lässig, ich finde es nachlässig. Amazon-Werbelinks:…

Romankritik: Café der Unsichtbaren, von Judith Kuckart (2022) – 6/10 Sterne

Judith Kuckart erzählt zunächst nicht uninteressant von der Telefonseelsorge in Berlin – von Seelsorgern und Anrufern. Der Roman beginnt annehmbar und baut dann stark ab: Schwächen: Kuckart schildert einzelne Episödchen und Anrufe. Von einer Romanhandlung kann keine Rede sein – ein paar Plot-Spurenelemente begegnen zu Beginn, und dann wartet man lange vergeblich auf Fortsetzung. Kuckart…

Romane mit Pidgin-Englisch

Vergnügliches Pidgin-Englisch liefern u.a. die folgenden Romane und Kurzgeschichten im englischen Original: die frühen Geschichten von V.S. Naipaul, sie spielen ca. 1950 unter eingewanderten Indern auf Trinidad, bekannt v.a. Ein Haus für Herrn Biswas und Der mystische Masseur, in dem eine Frau schnöseliges Neureichen-Pidgin intoniert die Bücher von Naipauls Bruder Shiva und seinem Vater Seepersad…

Kritik Kurzgeschichten: We Move, von Gurnaik Johal (2022) – 4/10 Sterne

Sein nächstes Buch sollte Gurnaik Johal ganz in Amritsari-Punjabi schreiben, mit Einsprengseln in Hindi und Marathi zwecks Multikultur. Er sollte es mit weiteren Sikhismus- und Pogrom-Hintergründen spicken und jeden, der die Lektüre verweigert, anklagen. Gurnaik Johal schreibt lakonisch über Inder (oder Indischstämmige?) im Londoner Stadtteil Southall in Flughafennähe. Teils schildert er junge, schon etablierte Paare;…

Kritik Sachbuch: Wie Gott verschwand aus Jorwerd, von Geert Mak (1996) 8/10 Sterne

Geert Mak schreibt ein fast ideales Sachbuch: Faktensatt, ohne Blabla, sehr flüssig. Er mischt allgemeine Schilderungen gut mit Einzelschicksalen und flicht gelegentlich Landschaftsimpressionen ein. Maks Bericht entwickelt einen Zug fast wie ein Roman. Interessant: In den Niederlanden erschien das Buch 1996, auf Deutsch erst 2007 – offenbar hielt der deutsche Verlag Maks Buch trotz aller…

Kritik Biografie: Georg Kreisler gibt es gar nicht, von Hans-Jürgen Fink und Michael Seufert (2007) – 7 Sterne

Ein hochinteressanter Charakter hat ein hochinteressantes Leben in einer hochinteressanten Zeit. Er und seine langjährige Bühnen- und Lebenspartnerin reden darüber ausführlich und „auf das Freundlichste“ (Nachwort) mit zwei Journalisten, sie überreichen Fotos und Zeitungsausschnitte, auch die witzigen Liedtexte darf man zitieren. Besser könnte die Ausgangslage für eine Biografie kaum sein – freilich wirkt es schon…

Kritik Biografie: The Colonel: The Extraordinary Story of Colonel Tom Parker and Elvis Presley, von Alanna Nash (2003) – 7 Sterne

Alanna Nash arbeitet gut heraus, wie Elvis-Manager „Colonel Tom Parker“ schon als Kind fürs Showgeschäft schwärmte: Er präsentierte verbotswidrig Kunststückchen im Pferdestall des Vaters, jobbte bei Zirkus und Varietees. Seine ersten Musiker vermarktete Parker bei Wohltätigkeitskonzerten zugunsten des Tierheims, das er leitete. Colonel Parker  (1909 – 1997) traf erst Ende 1954 auf Elvis Presley (1935…

Kritik Kurzroman: Der harte Handel, von Oskar Maria Graf (1832) – 7/10 Sterne

Oskar Maria Graf erzählt spannend und unidyllisch vom Leben auf dem Dorf mit Versicherungsbetrug, Ausbeutung, Hinterfotzigkeit und kalkuliertem Sex unter Unsympathen. Der Titel „Der harte Handel“ passt perfekt zu Atmosphäre, Intrigen und Geschacher im Roman. Die Figuren werden äußerst lebendig, aber nicht liebenswert. Das Herz erwärmt nichts, zumal die Geschichte gutteils im Winter spielt. Nebenbei…

Kritik Kurzgeschichten: Dorfbanditen, von Oskar Maria Graf (1832) – 6/10 Sterne

Oskar Maria Graf erzählt Schnurren aus Kindheit und Jugend. Teils sind es haarsträubende Missgeschicke, etwa der Gang übers brüchige Starnbergerseeeis oder die Torte auf dem Parkettboden („wie ein auseinandergespritzter Fladen Kuhdreck“). Solche Kurzgeschichten enden oft unspektakulär mit einer weinenden Mutter und Prügel vom Vater. Andernteils kredenzt Graf derbe Lausbubenstreiche, etwa Schüsse auf Nachbars Spitz, die…

Sachbuch-Kritik: Wolf Schneider, Speak German (2008) – 7 Sterne

Schneider schreibt kraftvolles, knackiges Deutsch. Er schreibt sehr kompakt und verdichtet; man kann nichts streichen, ohne gleichzeitig Information zu verlieren. Sein Buch ist voller Fakten und interessanter Informationen – Linguistik genauso wie unzählige kuriose Beispiele. Die sehr einfachen Hauptsätze passen syntaktisch auch in die Bild-Zeitung. Amazon-Werbelinks: Wolf Schneider | Deutsche Sprache Manchmal eifert Wolf Schneider…

Kritik: Thailand – der Norden, von Sandra Wohlfart (Michael Müller Verlag, 1. Auflage 2022)

Thailand

Dies ist die 1. Auflage von Oktober 2022, und eine erste Auflage ist nie ideal (ich war vor Ort Dez-Januar 2022-23). Auf jeden Fall liefert das MM-Buch mehr Inspiration für Nordthailand als die anderen, auch englischen Reiseführer, die auf ähnlich vielen Seiten das ganze große Thailand behandeln und sich teils auf die überfüllten Strände konzentrieren.…

Kritik Kurzgeschichten: Liebes Leben, von Alice Munro (2012, engl. Dear Life) – 7/10 Sterne

Alice Munro schreibt sehr realistische, plastische Erzählstimmen und Dialoge. Ihre Kurzgeschichten wirken undramatisch sowie nicht geschriftstellert rundgeschliffen und dadurch vielleicht realistischer. Allerdings flanscht sie mehrfach sehr heterogene Handlungsteile aneinander und bringt wenig glaubhafte Wiederbegegnungen nach Jahrzehnten des Auseinanderseins. Munro klingt minimalistisch präzis, ohne männliche Herbheit à la Raymond Carver oder teils Richard Yates. Jedes Wort…

Kritik Kurzgeschichten: Himmel und Hölle, von Alice Munro (2001, engl. Hateship, Friendship, Courtship, Loveship, Marriage) – 6,5/10 Sterne

Allgemeines: Schon in der englischen Fassung haben die neun Geschichten im Schnitt je gut 35 Seiten – im Deutschen also wohl deutlich mehr. Alice Munro findet in ihren Kurzgeschichten passende, uneitle Worte – ohne Bling, ohne Schäkern, auf den Punkt. Sie beschreibt genaueste Beobachtungen, ohne langatmig zu werden, und die Dinge klingen so lebensecht, dass…

Lese-Eindruck: Europastraße 5, von Güney Dal (1981)

Güney Dal beschreibt zunächst detailliert und plastisch Gefühle und Lebensumstände kleiner türkischer Gastarbeiter im Vorwende-Westberlin. Allerdings stören mich persönlich Dinge: Vater Hasan, solange er noch lebt und in Rückblenden, erzählt weitschweifend vom Krieg. Damit ermüdet er seine Familie – und den Leser. Und Sünbül, die Frau der Hauptfigur Salim, war in der Psychiatrischen und verhält…

Kritik Politik-Buch: Alleiner kannst Du gar nicht sein, von Peter Dausend, Horand Knaup (2020) – 7/10 Sterne

Peter Dausend und Horand Knaup liefern interessante Einblicke in die deutsche Politik – auch in wenig bekannte Gefilde wie die Beziehungen Abgeordneter-Mitarbeiter oder Abgeordneter-Partner (ich gendere nicht). Aber richtig investigativ ist das nicht: Sie bringen offenbar nur, was nach Interviews freigegeben oder schon woanders berichtet wurde, auch wenn sie gelegentlich anonymisieren. Amazon-Werbelinks: Dieses Buch von…

Romankritik: Striptease, von Georges Simenon (1958) – 7/10 Sterne

Eine kleine Stripteasebar in Cannes: Die alternden Tanzdamen fürchten die Konkurrenz der blutjungen Neuen. Ein oder zwei wollen zudem den Besitzer erobern. Doch der ist schon verheiratet und polyamor; seine Frau sitzt krank an der Kaschemmenkasse, sie ahnt die Konkurrenz. Amazon-Werbelink: Bücher Georges Simenon Unglamourös, nicht dramatisierend: Georges Simenon (1903 – 1989) recherchierte selbstlos für…

Romankritik: Blasmusikpop, von Vea Kaiser (2012) – 4/10 Sterne

Die Schnurre beginnt 1959: Das österreichische 400-EW-Dorf St. Peter am Anger auf 1200 Meter Höhe hat noch 1969 keinen Fernsehempfang und staunt erst 1974 über den ersten Fernseher. Allerdings törnt der Roman inhaltlich und sprachlich ab: Vea Kaiser setzt auf Klamauk statt Plausibilität und Realismus hat zunächst eine trocken-lässige Stimme, schreibt markantes, aber nicht deftiges…

Kritik Biografie: Françoise Gilot, Die Frau, die Nein sagt: Ihr Leben mit und ohne Picasso, von Malte Herwig (2015) – 4/10

Fazit: Malte Herwig schreibt keine Biografie, sondern eine lange Reportage, eine unkritische Anhimmelung, in der fast nur Françoise Gilot und der Reporter zu Wort kommen. Gilot redet meist über Leben und Kunst allgemein, liefert aber wenig biografische Fakten. Amazon-Werbelinks: Pablo Picasso | Françoise Gilot | Malte Herwig Märchenonkel: Herwig schreibt lebendig und mit eigenen Reporter-Erlebnissen.…

Lese-Eindruck Humor-Buch: Sex am Sabbat, Moderne jüdische Witze, von Ilan Weiss (2010)

Amazon-Werbelinks: Sex am Sabbat | Jüdischer Witz Sowas Schlechtes habe ich selten gesehen. Schon das dreiseitige Vorwort kredenzt falsches Deutsch ohne Ende: „Sie“ und „Ihre“ mehrfach groß statt klein, indirekte Rede in Anführungszeichen und direkte Rede ohne Anführungszeichen – oder ist das auch Humor? Dazu allerlei schmerzhafte Schreibfehler wie „im stehen“ (sic, S. 7). Und…

Buchkritiken: 84 Charing Cross Road (1970) & Die Herzogin der Bloomsbury Street (1973), von Helene Hanff – 7/10 Sterne

84, Charing Cross Road ist ein kauziger, zunehmend persönlicher Briefwechsel zwischen der exzentrischen, buchversessenen Helene Hanff in New York und einem Londoner Antiquariat zwischen 1949 und 1969. Er spielte sich angeblich wirklich so ab. In der Fortsetzung Die Herzogin der Bloomsbury Street berichtet Helene Hanff (1917 – 1997) in Tagebuchform von einer Bildungs- und Publicity-Reise…

Kritik: Theodor Storms Novellen (1861 – 1888) – 7/10 Sterne

1861 – Veronica – 6/10 Junge, schöne Ehefrau gewährt jungem Galan außerehelichen Kuss unter rauschendem Mühlrad – und das als Katholikin, vor dem Osterfest. Der Beichtstuhl wartet, gefühlt sogar das Schafott. Für Stormverhältnisse sehr schmalzig, pompös und anzüglich, dazu aufdringlich religionskritisch. In der Länge eine Kurzgeschichte, aber weil’s Storm ist, eine kurze Novelle. Assoziation: Punktuell…

Kritik Indien-Roman: Ghachar Ghochar, von Vivek Shanbhag (2013) – 7/10 Sterne

Vivek Shanbagh (*1962) liefert interessante Einblicke in indisches Alltagsleben heute, ingesamt stimmig erzählt. Eine Zwei-Generationen-Familie scheint vor dem Abgrund zu stehen, als der Familienvater und Ernährer den Job verliert. Doch sein jüngerer Bruder hat eine erfolgreiche Geschäftsidee, und kurzum bewohnt die Familie sogar ein besseres Haus in einem teuren Viertel. Die Beziehungen zwischen den Akteuren…

Kritik Biografie: Theodor Fontane, von Regina Dieterle (2018) – 7 Sterne

Regina Dieterle berichtet zu ausführlich von Theodor Fontanes Eltern und Großeltern, auch von Napoleon, Preußen und Sachsen. Immerhin schreibt sie meist lebendig und wissenswert für Geschichtsinteressierte. Sie portraitiert vor allem in der ersten Hälfte auch Randfiguren und deren Ehefrauen seitenlang. In Leipzig schreibt Dieterle sogar über Promis, die Jung-Apotheker Theodor Fontane explizit nicht traf: Leipzig…