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Romankritik: Blasmusikpop, von Vea Kaiser (2012) – 4/10 Sterne
Die Schnurre beginnt 1959: Das österreichische 400-EW-Dorf St. Peter am Anger auf 1200 Meter Höhe hat noch 1969 keinen Fernsehempfang und staunt erst 1974 über den ersten Fernseher. Allerdings törnt der Roman inhaltlich und sprachlich ab: Vea Kaiser setzt auf Klamauk statt Plausibilität und Realismus hat zunächst eine trocken-lässige Stimme, schreibt markantes, aber nicht deftiges und oft unterhaltsames Deutsch. Ihr Deutsch hält aber nicht über die Langstrecke des 469-Seiten-Romans. Sie klingt auf Dauer flach flapsig, anbiedernd oder schlicht desinteressiert, nicht wirklich charakterstark, wenn auch nie völlig spröd. Nicht ihr Business: Nur momentweise ist es witzig. In der zweiten Hälfte Ende wirkt die Handlung pubertär – sie spielt unter 17jährigen, und…
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Kritik Roman: Queenie, von Candice Carty-Williams (2020) – 5/10 Sterne
Candice Carty-Williams schreibt ein paar witzige Dialoge und Chat-Verläufe, aber letztlich eine Zeitgeist-Soap mit dümmlicher Ich-Erzählerin, gegen Ende sehr unrealistisch. Warum das Buch Preis und Preise von Qualitätsmedien wie Time oder Guardian erhielt, weiß ich nicht. Die junge schwarze Londonerin Queenie, 25, jiepert dümmlich Männern hinterher, u.a. ihrem weißen Ex-Freund Tom, trifft sich mit Freundinnen, hat Trost-Sex mit Arschlöchern, erträgt Alltagsrassismus und Frauenfeindlichkeit, streut BLM und MeToo ein, nur LGBTQXY fehlt. Starke, ruhige Männer: Queenie genießt immer wieder starke, ruhige Männer*: It was so nice to be physically supported by someone und präsentiert sich schmachtend den Herren der Schöpfung: I ran around the office asking different colleagues for various make-up…
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Lese-Eindruck: Ein Mann fürs Haus, von Nina Stibbe (2014, engl. Man at the Helm)
Gleich auf den ersten Seiten hatte ich Bauchschmerzen vor Kichern und Lachen, das gibt’s ganz selten. Die Szenen sind teils zu cartoonhaft, aber es gibt drollige Einzeiler. Das Vergnügen legte sich schnell. Ich brach ab etwa auf Seite 70, das tue ich sonst nicht, aber YOLO. Warum feiern Profikritiker das Buch als Spaßkanone – haben sie nur die ersten Seiten gelesen? Amazon-Werbelinks: Nina Stibbe | Nick Hornby | Sue Townsends Adrian Mole Unrealistische Kinder: Es ist ein alter Kniff, eine Neunjährige altklug brabbeln zu lassen, schon wird’s lustig. Doch die Kinder hier reden so weit über ihren Altershorizont hinaus, dass Stibbe besser in der dritten Person erzählt hätte, oder sie…
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Romankritik, Filmkritik: Der Liebesbrief, von Cathleen Schine (1995, 1999, engl. The Love Letter) – 6 Sterne – mit Video
Der Roman (1995, 6 Sterne): Fazit: Cathleen Schine schreibt eine gedruckte romantische Komödie, fluffig, lustig, unrealistisch, etwas belanglos. Die Hauptfigur, Buchhändlerin Helen, ist Ü40, lässig, attraktiv, unliiert und produziert ebenso wie das andere Buchpersonal unentwegt coole Einzeiler – unplausibel, aber vergnüglich. Ein Beispiel (ich kenne nur das engl. Original): You read my mind even when there’s nothing in it. Autorin Cathleen Schine ist zu verliebt in ihre Figur: Schine beginnt den Roman zwar mit einer kurzen Szene in der erzählten Jetztzeit, dann aber lässt sie ihre Buchhändlerin die Vergangenheit reminiszieren und müßig spekulieren. Sie beschreibt unermüdlich ihr fantastisches Aussehen. Und im Bett ein Feger. Bis die Handlung in Fahrt kommt,…
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Kritik Kurzgeschichten. Der weite Weg zu zweit, von John Updike (engl. The Maples Stories bzw. Too Far to Go) – 8 Sterne
Diese Wirklichkurzgeschichten entstanden über Jahrzehnte hin und sind sehr heterogen, auch wenn immer dasselbe Ehepaar Maple im Mittelpunkt steht. Tonfall und Erzählperspektive schwanken, es gibt wenig Verbindungen oder Querbezüge, Übergänge fehlen. In zwei Geschichten (Wife-Wooing, Plumbing) tauchen die Namen der Hauptakteure gar nicht auf, sie wurden dem Storyreigen wohl erst nachträglich zugeordnet. Besonders unzusammenhängend wirken die ersten etwa acht Geschichten. Liebe, Untreue, Kinderaufzucht, Scheidung und Wohnen sind die Hauptthemen. Man weiß jedoch kaum, ob und was Richard Maple arbeitet – er hat zu viel mit Frauen, Kindern und Heimwerken zu tun; nur die erste Geschichte ordnet ihn der Werbebranche zu, in Giving Blood erwähnt er werktägliche Trips in die Bostoner…
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Kritik Justiz-Kurzgeschichten: Die Sau, von Ludwig Thoma (2015) – 7 Sterne
In Ludwig Thomas Justiz-Kurzgeschichten hauen sich Bayernmänner im Bierhaus Bierkrüge und mehr auf den Kopf: Mit diesen eichenen, buchenen und eisernen Wehren haben die grimmigen Huglfinger Helden gestritten gegen die Mannen von Kraglfing und Hiebe ausgeteilt, daß der weite Saal des Unterbräu erdröhnte… Bayernfrauen eskalieren verbal, keifen an Wäscheleine und Fensterbank. Solche Konflikte und ihr gerichtliches Nachspiel schildert Ludwig Thoma (1867 – 1921) im Bändchen Die Sau. Gelegentlich zoffen sich Bauern um Ackergrenzen. Diebstahl, Mord, Bigamie oder Erbschleicherei bespricht Thoma kaum. Allgemein greift Thoma mit Musik in die Saiten, nicht mega-subtil, sondern deftig-krachert: Korbinian Ranftlmoser knarzt mit seinen neuen Stiefeln tapfer fürbaß. Das amüsiert. Doch interessanter klingt der Bericht von…
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Kritik Kinderbuch: Gans im Gegenteil, von Wolf Haas, Teresa Präauer (2010) – 6 Sterne
Das Gedicht hat man in etwa 13 Minuten gelesen. Ein Teil der Zeit wird dabei zum Umblättern benötigt, denn manchmal erscheint nur eine Zeile pro Doppelseite. Wolf Haas liefert ein paar drollige Reime und kuriose Ideen (ein Fuchs mit Frisurproblem). Das Gedicht hat jedoch wegen uneinheitlichen Stils keinen Fluss, und gelegentlich regiert Reim-dich-oder-ich-fress-dich oder es wird originalitätssüchtig, zum Beispiel bei der „Gans im Gegenteil“: ein Gegenteil spielt keine Rolle für die Handlung. Die Bilder von Teresa Präauer haben etwas grob Expressives, Rot-Blau-Braunes, der Stil und die holzschnittartige Eindringlichkeit erinnern mich vag an Munchs Der Schrei. Ich weiß nicht, ob Kinder Spaß daran haben. Ich würde dieses Buch nicht Kindern geben,…
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Romankritik. Urs Widmer: Liebesbrief für Mary (1993) – 6 Sterne
Das Romänchen hat drei unterschiedliche Aspekte: Handlung: Im Kern erzählt Urs Widmer (1938 – 2014) ein Liebesdreieck – zwei Schweizer Männer, einer von ihnen der Ich-Erzähler und der andere der Verfasser des langen Liebesbriefs, sind hinterereinander in Zürich mit der Irin Mary zusammen; die haut nach Australien ab und beginnt im Outback ein neues Leben mit einem weiteren Mann. Unzuverlässig bis verrückt: Der lange Liebesbrief des einen Schweizers und dessen Kommentierung durch den anderen Schweizer widersprechen sich. Gelegentlich rasten oder klinken sich Akteure völlig aus, mehrere Nebenfiguren müssen in die Nervenheilanstalt Humor und Englisch: Der mehrfach unterbrochene Liebesbrief des Schweizers an die Irin Mary nimmt gut die Hälfte des Büchleins…
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Kritik Roman: Lucrecia515, von Lasha Bugadze (2013) – 1 Stern
Fazit: Der Autor hat eine interessante Plotidee: die Ehefrau lässt das Passwort ihres ehebrecherischen Mannes knacken, chattet unter seinem Namen mit der Konkurrenz. Doch Lasha Bugadze schreibt primitiv, vulgär, banal, unrealistisch und verwirrend. Nicht eine Sekunde lustig oder auch nur charmant. Rein raus rein raus: Der reiche Saucenfabrikant Sandro betrügt seine Ehefrau Keti unentwegt. Der Protagonist ist dabei so banal, schwanzgesteuert und irrational wankelmütig, dass er nicht charmiert. Der Text tönt teils aufdringlich vulgär, und die vielen kurzen Kapitel und Affären klingen wie rein raus rein raus. Im sehr leicht lesbaren Buch geht‘ s auch um, Zitat, „buschige Schambehaarung“, „Ficken“, um „Scheißen“ beim Aufriss; „ziemlich ideale Pimmel“ harpunieren „ihre rot…
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Kritik Roman: Privateigentum, von Julia Deck (2019) – 7 Sterne
Julia Deck (*1974) beschreibt lakonisch-bösartig die Vorort-Hölle in einer Pariser Reihenhaus-Siedlung, inklusive „Solarmodulen und Kompostbecken“ und Wüsteneien entlang der Ausfallstraßen. Die Nachbarn plaudern scheißfreundlich über „Komposthaufen oder Flohmärkte“, belauern sich, werden beiläufig läufig und übergriffig. Diesen Albtraum samt giftgrünem Rasen und Autowaschen vorm Haus schildert Julia Deck beklemmend, düster satirisch, momentweise lustig. Allerdings schwächelt das Romänchen auch: Das letzte Drittel ist weitgehend ein Kriminalfall, dessen Wendungen ich nicht ganz verstanden habe. Es unterscheidet sich deutlich von den ersten zwei Dritteln, spielt auch gutteils nicht im Vorort. Ich rätsele bis heute, wer welche Verantwortung trägt. Und: Beide Hauptfiguren sind verschrobener als nötig. Der Mann der Ich-Erzählerin geht seit 27 Jahren zur…
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Rezension Kurzgeschichten, Gedichte, Kritiken: The Collected Dorothy Parker (Penguin Classics 2001) – 7 Sterne – mit Ausgabenvergleich, Links & Hintergründen
Dorothy Parker ist bekannt für extrem sarkastische, selbstironische Gedichte und Kurzgeschichten über das Liebes- und Sozial-Leben im New York der 1920er bis 1940er Jahre. Dieser gut 600seitige Sammelband zeigt: Oft schreibt Dorothy Parker gar nicht so amüsant hochtourig sarkastisch. Nicht überall lauern köstliche Einzeiler. Einige Kurzgeschichten klingen einfach stark satirisch oder auch psychologisch genau, sozialkritisch, mitunter melancholisch bis verbittert. Parker schreibt zumeist über Mittelschichtfiguren, sie karikiert Großtuerei, Heuchelei, Hinterhältigkeit, Eifersucht und Vielweiberei – in diesem Band teils repetitiv. Herzlose Männer beherrschen das Feld, Frauen hecheln ihnen verliebt nach, aber sie zicken und intrigieren auch. Ärmere Frauen wünschen sich reich. Kein Paar lebt harmonisch, will dies jedoch vorspiegeln. Parker schreibt nüchtern…
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Kritik Kurzroman. Eudora Welty: The Ponder Heart (1953) – 6 Sterne
Die Ich-Erzählerin berichtet mit unterhaltsamer Schnatterschnauze vom Leben in der Mississippi-Kleinstadt Clay und von ihrem Onkel Daniel Ponder, der sich eine viel zu junge (und zu dünne) (und zu arme) Braut anlacht. Eudora Welty (1909 – 2001) kreiert eine fulminante Ich-Erzählerin aus Fleisch und Blut. Die redet teils direkt zum Leser: I size people up: I’m sizing you up right now. Doch Ich-Erzählerin Edna Earle ergeht sich vor allem über Hauptfigur Onkel Daniel – sehr reich, sehr spendabel, immer schmuck in Schale und geistig etwas verwirrt. Also ein unrealistischer Protagonist, der die Handlung willkürlich in alle Richtungen schleudern kann, Slapstick included. So etwas fesselt mich weniger als purer Alltag, aber…
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Kritik Paar-Roman: Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst, von Nick Hornby (2018, engl. State of the Union), von Nick Hornby – 7 Sterne – mit Video
Ich habe beim Lesen öfter laut gegackert, gewiehert und gequakt, wann gibt’s das schon. Der Autor entwirft ein originelles Szenario und bringt einen komischen Satz nach dem anderen. Nick Hornby bei Amazon Gepfefferte Einzeiler: Freilich zelebriert Roman- und Drehbuchroutinier Nick Hornby (*1957) seine Kunst fast zu lässig-souverän: Wie sich das Ehepaar im Zentrum des Buchs wieder und wieder in Kleinkram verdiskutiert und daraus amüsante Minidramen generiert; wie Randbemerkungen überinterpretiert werden; die kleinen, wunderlichen Aktionen (zum Beispiel ein gefälschter Gipsverband); die originellen Vergleiche zwischen Brexit und Scheidung. Hornby platziert da einen gepfefferten Einzeiler nach dem anderen. Ist das wirklich tiefschürfend? Oder nur intelligent lustig? Klug oder Spaßgymnastik? Warmherzig ist es auf…
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Rezension England-Roman: Just Like You, von Nick Hornby (2020) – 8 Sterne
2016 in London. Eine 42jährige weiße Lehrerin, alleinerziehend, gerät in eine Beziehung mit einem 22jährigen Schwarzen, den sie als Babysitter und Aushilfsmetzgereifachverkäufer kennenlernte. Autor Nick Hornby (*1957) macht die Annäherung einigermaßen nachvollziehbar. Doch ist es Liebe oder nur ein Pausenfüller? Die Umwelt zeigt sich schockiert. Anspielungen und Missverständnisse: Hornby schreibt pfiffige Dialoge voll unterschwelliger Anspielungen und Missverständnisse – das versetzt den Leser sofort in vertrautes Hornby-Land, und man möchte es als Quasselkomödie verfilmen. Ein paar Mal habe ich laut gelacht; viele andere Gespräche sind so ernst und genau, dass man die Luft anhält. Die in vielen Rezensionen angesprochenen Diskussionen über den Brexit erdrücken den Roman nicht, sie klingen aber gelegentlich…
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Kritik Kurzgeschichten: Not a Star, von Nick Hornby – 8 Sterne – mit Video
In der Kurzgeschichte Not a Star sieht ein biederes Ehepaar völlig überraschend ihren 22jährigen Sohn in einem Pornovideo, und zwar mit gewaltigem Kopulationsorgan. Daraus entstehen hochnotamüsante Diskussionen des Ehepaars mit dem Sohn, mit Angehörigen und mit einer tratschenden Nachbarin. Die spektakuläre Anatomie des Juniors führt zu heiklen Vergleichen mit nahen Verwandten und uralten Liebschaften. Nick Hornby bei Amazon Not a Star: Nick Hornby (*1957) schreibt gewohnt gelungene Dialoge. Im Gegensatz zu seinen anderen Büchern reden hier nicht smarte Städter oder hippe Rockfans, sondern biedere Vorstädter. Sie bleiben bei aller peinlichen Berührtheit stets bemüht umgänglich, sprachlich diskret, nicht konfrontativ. Das Lesen ist ein Vergnügen, und dass ein Autor hier eine Frau…
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Kritik Kurzgeschichten: Jeder liest Drecksack/Everyone’s Reading Bastard, von Nick Hornby (2012) – 8 Sterne
Die Kurzgeschichte Jeder liest Drecksack/Everyone’s Reading Bastard berichtet unterhaltsam von einem Ehemann, der in der Zeitung lesen muss, wie seine getrennt lebende Frau ihn Woche für Woche in einer Glosse durch den Dreck zieht. Das liest sich sehr unterhaltsam, wenn auch vielleicht nicht sehr realistisch. Zerknirschte Männer in Beziehungsnöten sind eine Spezialität von Nick Hornby (*1957). Eifernde Frauen präsentiert er sonst allerdings nicht. Ich habe mich gut amüsiert, doch endet die Kurzgeschichte unrund abrupt. Nick Hornby bei Amazon Gletscherbrille empfohlen: Auf der Titelseite der KiWi-Ausgabe steht „Zweisprachige Ausgabe“. Die dünne Fibel bringt wohlgemerkt Deutsch und Englisch nicht nebeneinander – sondern erst die komplette Geschichte am Stück auf Deutsch, übersetzt von…
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Rezension Roman: How to Be Good, von Nick Hornby (2001) – 6 Sterne
Fazit: Der Autor kreiert einerseits realistisch unterhaltsame Alltagsszenen einer Londoner Mittelschichtfamilie und pfiffige Dialoge – alles sehr Hornby, mit seinen typischen Zutaten wie Ehebruch, linksliberalem Gutmenschentum und altklugen Kids, aufgelöst in amüsantes Palaver. Die Wandlung der männlichen Hauptfigur ist jedoch enttäuschend unrealistisch: Erst atemraubend aggressiv, dann abrupt maximal zugewandt, denn ein Wunderheiler vollführt unerklärliche Wunderheilungen. Nick Hornby bei Amazon Ehekrieg: Ich-Erzählerin Katie sieht ihren Romangatten David als „highly skilled in the art of marital warfare“ (S.10*)¸ diagnostiziert „inexhaustable and all-consuming anger“ (S. 20) und erwartet bei jeder Auseinandersetzung „a lot of ranting, some raving, several million caustic remarks and an awful lot of contempt“ (S. 47). In einer anderen Auseinandersetzung…
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Kritik Werbeagentur-Roman: Gummi (2003, engl. The Book, the Film, the T-Shirt), von Matt Beaumont – 4 Sterne
Werbeagentur-Chef Greg Fuller in Nöten: Der für den Autoreifen-Werbedreh gebuchte Hollywoodstar sitzt bei der Polizei fest, ein unverzichtbares Kreativteam für Sofaprospekte ist dummerweise gefeuert, die schwangere Ehefrau verlangt dreist Zuwendung, eine zu ehrgeizige Kollegin will ihm an die Wäsche (sie hat freilich unbestreitbare Talente), ein lukrativer Verkauf scheint gefährdet, Gott und die Welt belagern ihn und seine Sekretärin am Telefon. Romanautor Matt Beaumont (ist der Name eigentlich echt) gefällt sich in allerlei vierbuchstabigem Unrat („Paul and Shaun, known only to me as Piss and Shit“, S. 12). Zu ermüdend ausführlich schildert Beaumont die Tics und Eingebildetheiten der Hollywoodstars, die im Werbefilm agieren. Ein paar Skandale und Minidramen erzeugen zwar eine…
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Kritik E-Mail-Romane von Matt Beaumont: E-Mail an alle (2000, engl. e, Teil 1 von 3 der E-Mail-Reihe) + The e. before Christmas (2000, Teil 2) + eSquared (2010, Teil 3) – 7 Sterne
E-Mails, hunderte kurze E-Mails in Londoner Werbeagenturen fliegen durch diese drei modernen Briefromane: E-Mail an alle (2000, engl. e, Band 1) spielt im Januar 2000, The e. before Christmas (2000, Band 2, nicht auf Deutsch, sehr kurz) zeigt dieselben Figuren in derselben Agentur im Oktober 2000. e2 (auch „e squared“, 2010, Band 3, nicht auf Deutsch) spielt 2008/2009 in einer anderen Agentur, aber auch in Familien, mit teils bekannten Figuren. Das schaukelt sich schnell hoch zur witzigen Kakophonie mit bösen Intrigen, Missverständnissen, Schweinigeleien, Heucheleien, Fehlleitungen, Karrierehoffnungen, Appellen und jovialen Nervköppen, die per Rundmail ihren alten Toaster verhökern. Es wird bald drastisch und etwas vulgär. Weil wir nur den schriftlichen Austausch…
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Kritik Grotesken: Katastrophen-Geschichten von Hermann Harry Schmitz – 7 Sterne
Harry Hermann Schmitz (1880 – 1913) schreibt Alltagsszenen: die Familie beim Kaffee, der tropfende Füllfederhalter, der Umzug. Die Geschichten beginnen spießbürgerlich banal und weiten sich bald ins Groteske und Fantastische: Figuren gehen auf den Händen, damit der Füller in der Tasche nicht mehr tropft, Robotermenschen tragen Umzugskisten unablässig auf und ab, die Kaffeemaschine spuckt Tod und Teufel, die Fadennudel geriert sich heimtückisch. Fantastische Geschichten meide ich sonst. Schmitz schildert indes drastische, aus dem Ruder laufende Szenen so staubtrocken bierernst und spießt menschliche Macken so bösartig auf, dass ich nicht widerstehen kann – ich habe öfter gelacht, das gibt’s nicht oft. Dabei schreibt der Autor militärisch knappe Sätze mit vielen drolligen…
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Erster Lese-Eindruck Thaibuch: Jasmine Nights, von S.P. Somtow (1994)
1963 vor den Toren Bangkoks. Im Mittelpunkt stehen Thaijunge Little Frog, 12, und sein afroamerikanischer Freund Virgil. Deren Jugendgeschichten sind witzig und kurzweilig, und doch habe ich auf Seite 40 abgebrochen: Denn das Buch ist mir viel zu unrealistisch, bis hin zu Chamäleon-Haustier, Limbo-tanzenden Thaitanten, konspirativen Urgroßmüttern und Blowjob beim Leichenschmaus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Thailand passiert. Es klingt eher wie eine Humorsammlung des weltgewandten und ungemein gebildeten Autors S.P. Somtow (*1952), der auch Science Fiction, Horror und Historisches schreibt; und diese Einfälle siedelte er dann irgendwie in Thailand an. Auf Amazon: Bücher über Thailand, Südostasien, ganz Asien Im einzelnen irritierte mich u.a.: Immer wieder redet…
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Romankritik: Rumplhanni, von Lena Christ (1916) – 8 Sterne – mit Video
Fazit: Die ersten drei Viertel spielen auf dem Dorf und bereiten Freude: Deftiges Bairisch, scharfzüngige Dialoge und schöne Beobachtungen, wenn „die Bauern ((…)), die Jungen und die Dienstigen“ interagieren, ganz zu schweigen von den Männern und den Frauen. Ich habe oft laut gelacht, wann gibt’s das schon. Das München-Viertel am Ende klingt ganz anders: Die Autorin beklagt wehleidig soziale Kluft und kalte Staatsmacht. Dieses Viertel wirkt angeklebt. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Erzählstimme: Etwas wunderte mich die Erzählperspektive: Als allwissende Erzählerin blickt Autorin Lena Christ mal in diesen, mal in jenen Kopf – nicht nur Hanni begleitet sie, Lena Christ…
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Buchkritik: Madam Bäuerin, von Lena Christ (1919) – 7 Sterne – mit Video
Fazit: Jungbauer Franz und „Stadtmamsell“ Rosalie wollen heiraten. Doch beide Mütter protestieren gegen eine Stadt-Land-Ehe; zudem ist Rosalie einem spröden Assessor versprochen. Aus diesem schlichten Konflikt zimmert Lena Christ (1881 – 1920) eine alpenländische Romkom, einen heiteren Intrigantenstadl mit vielen vergnüglichen Sprüchen in derbem Bairisch. Die Autorin trägt den Humor etwas breit und schenkelklopfend auf – nie peinlich, aber auch nicht so pointiert und sozial aufschlussreich wie in ihrer Rumplhanni. Gelacht habe ich allemal öfter, und das passiert nicht bei allen „lustig“ gemeinten Texten. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Schachern und Pokern um geldige Hochzeiter: Andere Qualitäten wahrt Lena Christ…
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Buchkritik: Bauern: Bayerische Geschichten, von Lena Christ (1919) – 7 Sterne
Lena Christ erzählt viele kurze, unverbundenene, humoristische Anekdoten vom Dorf um 1918. Sie schwafelt nicht lang rum, sondern schreibt zackig knapp über ihre typischen Themen vom Bauernstand: Pokern und Schachern um die geldigste Hochzeiterin; Kälber, Ferkel, Hunde und Gockel; Streit mit dem Gespons, dem Nachbarn, der anderen Generation; uneheliche Kinder; Missachtung und Ausbeutung der Alten; Heirats- und Hundevermittler („Schmuser“); (keine) Rückkehr aus dem Krieg; Statusgehabe der Bossbäuerin; Sterben, Erbschaft, Erbzank; Nachbarschaftsdiplomatie; Gier, Missgunst & Betrug. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Kalauer: Fast immer erinnert der Ton an einen Bauernschwank, nur einmal wird Christ besinnlich. Und auffällig: Liebe, Triebe, Herz, Schmerz…
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Buchkritik: Unsere Bayern anno 14/15, von Lena Christ (1914/15) – 7 Sterne
Fazit: Lena Christ liefert kurze, lebensnahe Vignetten voller Dialog aus den ersten Monaten des ersten Weltkriegs in München und auf dem Dorf – mal kabarettistisch, mal herzerwärmend, gelegentlich beklemmend; schlicht, und doch pfiffig, jedenfalls in den Auszügen der Gesammelten Werke (s.u.). Im Gegensatz zu ihren teils entflammten Figuren klingt die Erzählerin weder hurrapatriotisch noch pazifistisch; doch erklärte Kriegsgegner gibt’s bei ihr nicht, nur eine genervte Totengräberin, der die Bayernfahne „an gscheckatn Fetzn“ ist. Die Erzählstimme ist weitgehend Hochdeutsch, die vielen Dialogzeilen schreibt Christ in entzückendem Münchner Bairisch. Das reden in einer Geschichte auch der „Himmelvater“, die „Himmelmutter“ und ihre Engel (trotzdem keine Anklänge an den Münchner im Himmel). Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher…
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Buchkritik: Lausbubengeschichten, von Ludwig Thoma (1905) – 5 Sterne – mit Links
Ludwig Thoma (1867 – 1921) schreibt kurze nüchterne Geschichten. Es gibt keine deftigen Schenkelklopfer und kaum deftiges Bairisch, auch kein deutlich bayerisches Ambiente. Ich-Erzähler Ludwig ist immer wieder verwickelt in: Steine durch Fensterscheiben; hinterhältige Beleidigung; Prügelei; Pulverfrosch an Katzenschwanz; Pulver in Modellboot; kaputte Goldfische; Senf an Türschnalle; Farbe auf Lehrerpult; Pech auf Lehrerstuhl; Blindschleichen im Mädchenbett; Brause im Nachttopf. Attackiert werden v.a. Lehrer, Pfarrer und blasierte Verwandte oder Nachbarn, seltener Gleichaltrige. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Kühle Streiche, Pointen und Bekenntnisse: Thoma erzählt so dezidiert unbeteiligt, dass es nach vier, fünf Geschichten wie eine Leier klingt. Der kühle Ton passt…
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Buchkritik: Tante Frieda, von Ludwig Thoma (1907) – 6 Sterne – mit Links
Zwei der sechs Geschichten erinnern deutlich an Ludwig Thomas Lausbubengeschichten von 1905 (diesmal Schießpulver in Vogelkäfig; Eier, Spucke und Kartoffeln auf Leute; Luftgewehr auf Spiegel). Die vier anderen Geschichten erzählen vom Aufenthalt der jungen Halb-Inderin Cora in der Kleinfamilie des Ich-Erzählers Ludwig: Die Dorfmänner bringen der schönen Cora Ständchen im Mondschein und schleichen verliebt ums Haus. Der Brauereifranz schmachtet verzweifelt aus der Ferne. Onkel sabbern und saufen, Tanten stricken und kommentieren maliziös. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Bairische Grammatik: Das ist gelegentlich lustig – vor allem bei den Sticheleien in der Großfamilie – und oft schön beobachtet. Es könnte auch…
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Kritik Kurzgeschichten: Der Münchner im Himmel u.a. Satiren, von Ludwig Thoma (1911) – 7 Sterne – mit Links
Der Halleluja schmetternde Dienstmann Aloisius ist nur einer von vielen Käuzen in dieser Sammlung kurzer, knackiger Satiren. Ludwig Thoma (1867 – 1921) karikiert Spießbürger, Feministinnen, wackere Soldaten, verschnarchte Juristen und Obrigkeitshammel mit kräftigem Strich – dialogreich, militärisch kurz angebunden, vergnüglich. Künstler oder arme Leute figurieren seltener, dafür berichtet Thoma gleich mehrfach aus seinem Rechtsberuf (Der Befähigungsnachweis, Als Referendar, Assessor Karlchen, Der Vertrag, Die unerbittliche Logik, Die Volksverbesserer). Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Sie Mistamsel, Sie abscheilige: Auch eine weitere Thoma-Geschichte führt von München in den Himmel – und natürlich wieder zurück, denn der Ruf des Bräuhauses ist stärker als der…
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Buchkritik: Sweet Sorrow – Weil die erste Liebe unvergesslich ist, von David Nicholls (2019) – 7 Sterne
Fazit: David Nicholls schreibt vergnügliche, exzellente Dialoge – vielleicht etwas zu unrealistisch geschriftstellert, wie in einer cleveren britischen Komödie, aber allemal charmant witzig und teils psychologisch feinsinnig. Dazwischen produziert Nicholls jedoch zähe allgemeine Seiten und Beschreibungen – kein konkreter Vorgang, kein Dialog, sondern ein blutarm schweifender Rückblick nach 20 Jahren, in immer neuen Rückblenden. Allgemeines Gelaber: Teenager und Scheidungskind Charlie lebt bei seinem klinisch depressiven Vater. Er will die coole Frances näher kennenlernen, und dazu bequemt er sich gegen sein Naturell in eine Theater-AG. Ich-Erzähler Charlie berichtet von seiner Jugend und ersten Liebe mit 20jährigem Abstand. Gleich die ersten Seiten gelingen David Nicholls (*1966) fast dialogfrei kursorisch, ein beängstigender Beginn.…
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Romankritik: Emil und die drei Zwillinge, von Erich Kästner (1935) – 5 Sterne
Friede, Freude & auch Eierkuchen herrschen in Neustadt, Berlin & auch in Korlsbüttel: Penetrant harmonisch geht’s zu zwischen Jung und Alt, zwischen Arm und Reich in diesem Sequel zu „Emil und die Detektive“. Zwei Jahre danach: Die Geschichte spielt zwei Jahre nach „Emil und die Detektive“, versammelt alle Hauptakteure dieses Romans, zeigt aber eine neue Handlung an der Ostsee. Pfiffig startet Autor Emil Erich Kästner (dies der volle Name, 1899 – 1974) die „Zwillinge“ gleich mit zwei pfiffigen Vorworten: Ein Vorwort für Leser, die den „Detektive“-Roman schon lasen und ein zweites für alle, die den „Detektive“-Roman nicht hatten. Laut Kästner in einem der Vorworte kann man die „Zwillinge“ unabhängig von…
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Romankritik: Emil und die Detektive, von Erich Kästner (1929) – 7 Sterne – mit Video
Erich Kästner (1899 – 1974) zeigt den betont gutherzigen – heute sagt man: achtsamen –, aber auch pfiffig-ironischen Emil Tischbein und seine betont gutherzige, aber auch pfiffig-ironische Mutter. Immer wieder baut Kästner kleine, fast unauffällige Witze ein wie Die Mutter pfiff sich eins, vermutlich um ihre Sorgen zu ärgern… Die kleinen Cleverle-Einsprengsel unterhalten, kommen aber fast zu regelmäßig und zu penetrant geistreich. Immer wieder auch necken sich die Akteure mit mild frechen, liebgemeinten Rüffeln. Das formuliert Kästner teils zu deutlich aus, etwa hier: „Ihr verfluchten Kerle!“, knurrte der Wachtmeister. Doch das Knurren klang sehr gutmütig. Oder: Die Großmutter ((…)) gab ihm gleichzeitig einen Kuss auf die linke Backe und einen…