Romankritik: Blasmusikpop, von Vea Kaiser (2012) – 4/10 Sterne

Die Schnurre beginnt 1959: Das österreichische 400-EW-Dorf St. Peter am Anger auf 1200 Meter Höhe hat noch 1969 keinen Fernsehempfang und staunt erst 1974 über den ersten Fernseher. Allerdings törnt der Roman inhaltlich und sprachlich ab: Vea Kaiser

  • setzt auf Klamauk statt auf Plausibilität und Realismus
  • hat zunächst eine trocken-lässige Stimme, schreibt markantes, aber nicht deftiges und oft unterhaltsames Deutsch. Das bringt sie aber nicht über die Langstrecke des 469-Seiten-Romans. Kaiser klingt auf Dauer flach flapsig, anbiedernd oder schlicht desinteressiert, nicht wirklich charakterstark, wenn auch nie völlig spröd.

Nicht ihr Business:

Nur momentweise ist es witzig. In der zweiten Hälfte Ende wirkt die Handlung pubertär – sie spielt unter 17jährigen, und auch die Autorin (ca. 24 bei Romanveröffentlichung)  klingt pubertär: beliebig, kalauernd, unrealistisch. Kaiser sagt über sich:

Ich bin aber keine Journalistin, ich hab mit der Realität eigentlich nichts zu tun. Das ist nicht mein Business. Ich merke, wenn ich versuche, irgendwas Reales reinzubringen, dann kippt es und wird ganz schlecht.

Warum schreibt sie dann Reportagen über Kuhpsychologie?

Ist ihr Roman Blasmusikpop nun besser? Kaiser scheint bemüht, Drama und Herzschmerz herauszuwringen und kredenzt komplizierten Slapstick, der nur Film wirken würde. Der verschwiemelte Abiturient Johannes A. Irrwein erklärt sich zum Völkerkundler im eigenen Dorf auf den Spuren Herodots, das gibt Gelegenheit zu allerlei (kursiviert  gedruckten) (und pseudo-lustig arrogant klingenden) Notizen; dazu groteske RomkomLiebes-Wirren Johannes’ mit einer Stadtschickse und fehl-interpretierten und womöglich perforierten Kondomen.

Sigrid Löffler soll gesagt haben: Vea Kaiser

ist auch eine begnadete Ausblenderin großer Realitätsbereiche, die ihr nicht ins Harmonisierungskonzept passen.

Ich persönlich hab’s gern realistisch, nicht Comic-haft beliebig.

Auf dem Dorf:

Vea Kaiser (*1988) kredenzt erwartbar liebenswert Dörfliches wie:

Sogar die Gendarmen tranken mittags ihr erstes Bier, da zur Regenzeit ohnehin nie etwas passierte, und wenn, dann im Wirtshaus

Oder, haha:

Sobald ein Spanferkel und genügend Gerstensaft vorhanden sind, verhalten sich die Bergbarbaren generell freundlich.

Dazu natürlich austriakische Mundart:

“Lasst di dei Frau nimmer zuwi und wüllst hiazn a Pfaff werdn”

Womöglich ist das jedoch ein “Kunstdialekt”, den Kaiser laut Nachwort auch dem Soziolinguisten Manfred Glauninger verdankt. In der Presse sagt sie dazu:

Ich wollte einen Dialekt, der als Dialekt erkennbar, aber regional nicht zuzuordnen ist. Also einen Kunstdialekt.

An anderer Stelle rührt sie Dialekt und Hochdeutsch heterogen zusammen, hier bei einem echten Dörfler:

Da muss ma reinli sein! Bei klinischer Sauberkeit…

Skizze mit Wohnhäusern:

Hübsch die Skizze des Dorfs mit Wohnhäusern auf der ersten Doppelseite. Die Karte kehrt jedoch sinnlos auf der letzten Doppelseite wieder – hier wünscht man sich einen Plan der weiteren Umgebung einschließlich dem rivalisierenden St. Michael am Weiler, dazu Lenk im Angertal, Angerberg und der Große Sporzer.

Das Buchende liefert auch eine dramatis personae – recht nützlich beim großen Personal, jedoch spoilern die Erläuterungen. Ebenfalls am Ende dankt Kaiser allzu überschwänglich “dem tollsten Agenten der Welt” und “meiner großartigen Power-Lektorin mit dem emsigsten Auge der Welt und einem Haufen toller Ideen”.

Manches erzählt Kaiser zweimal, so dass Gemeindearbeiter Schuarl einen “Notfall” ausruft, sobald “ein Strauch ein Blatt verlor” (u.a. S. 344).

Humorversuche:

Es gibt anbiedernd humoristische Sätze, bis hin zu angestrengter Alliteration, wie auf S. 91:

Alois’ Mutter entpuppte sich als der agile Albtraum einer jeden Schwiegertochter.

Das stadelt schon. Auch sonst kalauert Kaiser teils platt, etwa

Die langjährige Reinigungskraft war zwar keine hübsche, aber eine sehr eitle Frau

Gemeint ist Mitzi Ammermann, die ihre “goldene Krankenkassenbrille” aus Eitelkeit nicht immer trägt. Später agiert eine völlig absurde Reporterin,

eine viel zu stark geschminkte Frau,

an deren Zähnen “der grell-rote Lippenstift klebte”.

Die jungen Dörflerinnen schneiden für die Fußballer aus Hamburg ihre Röcke “knapp unter den Pobacken ab” und hoffen auf “genug hübsche Männer für alle”. Sie goutieren aber auch

Pfadfinderführer…, braun gebrannt, von strammem Körperbau… strahlend weiße Zähne.

Speziell in den Kapiteln übers Gymnasium tritt Vea Kaiser in ihrem Erstling allerlei Erwachsene in die Pfanne, als ob sie aufdringlich eigene Erinnerungen verwertete. In dem Zusammenhang stört auch der running gag über den pessimistischen “Pater Hiob”. Die gelernte Altphilologin Kaiser redet weitaus zu viel von Latein, Griechisch, klassischen Dichtern und Schlachtenlenkern.

Kaiser bringt streng Unplausibles wie die mit Sonnenschirmen fliegende Seifenkiste oder die Tatsache, dass Ilses Kindsvater nie eine Rolle spielt, obwohl er als Ehebrecher im eigenen Dorf bekannt ist. Zudem wird die Hauptfigur der ersten Hälfte, der Schnitzer und Arzt Johannes Gerlitzen, als Ilses “Vater” bezeichnet, obwohl er wegen des Seitensprungs seiner Frau sieben Jahre wegblieb. Die zweite Hälfte um den jugendlichen Johannes junior ist eh schrille Comedy.

Hatte, hatte, waren, waren:

Auf fallen sprachliche Schwächen – Unschönheiten und Ungenauigkeiten.  So sagt Kaiser

  • auf S. 12 dreimal “sich” in drei Zeilen
  • auf S. 69 dreimal “waren” innert vier Zeilen
  • auf S. 200 2x “in welchem” innert 6 Zeilen
  • auf S. 324 “wurde… wurde… geworden” innert 2 Zeilen
  • auf S. 80 “…war, war…”, in unschöner Stoß
  • auf S. 220 “…hatten, hatte…”, ein unschöner Stoß
  • auf S. 240 “…waren, waren…”, ein unschöner Stoß
  • auf S. 377 “…hatte, hatte…”, ein unschöner Stoß
  • auf S. 473 “…hatte, hatte…”, ein unschöner Stoß

Mehrfach konstruiert sie Sätze mit “bezüglich”. Die hochschwangere Maria besichtigt einen “Kreissaal” (sic). Kaiser sagt auch “Ghanesen” (S. 458) und “ghanesischer Herkunft”.

Einmal schreibt Kaiser:

…mit dem Funkmikrofon des Pfarrers verbunden waren, als jener ((sic)) schon gar nicht mehr…

Es muss “dieser” heißen. Dazu kommen Klassiker wie

Der Stiegenaufgang im Hause Irrwein war sehr schön und die Gemeinderäte so beleibt

Geht auch nicht. Ebensowenig wie kompliziertere Fehler, etwa auf S. 178:

Einen ((sic)) der schlimmsten Krampfanfälle im Unterbauch ereilte Pater Tobias am Palmsonntag im Wirtshaus, nachdem er…

(Korrekt “Einer der”.) Noch ein komplizierter Fehler – der alte Bauer Rettenstein inspiziert den Traktor, dann folgt dieser vollständige Satz:

Dem Stallburschen, der den ersten Kratzer hineinmachte, hatte er geschworen, persönlich an den Knöcheln über die Jauchegrube zu hängen.

Entweder schreibt man “ihn persönlich” oder evtl. “über der”; aber nicht so wie hier aus dem Hardcover S. 362 zitiert.

Dann heißt es beim Kaninchenstall auch noch “das Spreu” (S. 181, oder ist das eine öst. Besonderheit?). Kaiser sagt “abtreibende Tabletten”, wenn “abführend” gemeint ist.

Heulende Klingeln:

Immer wieder verwendet Vea Kaiser nicht zusammenpassende Wörter: So springt Johannes Gerlitzen “an den Stamm” des Maibaums und bewegt sich per “Klimmzug” aufwärts – doch ein Klimmzug braucht eine Querstange, die gibt es hier nicht.

Ein weggeräumtes Regal hinterlässt am Boden “eine quaderförmige Stelle” (“heller”) – aber die Stelle am Boden ist nicht dreidimensional? Sie meint “rechteckig”?

Man(n) wünscht sich mehr Sensibilität auch bei weiteren Irritationen: Über die besondere Türglocke im Arzthaus sagt Vea Kaiser auf S. 136:

…die ehemalige Greißlerglocke ((eine Ladenglocke))… die Klingel heulte nochmals auf…”

Eine Glocke ist also eine Klingel, die aufheult? Verstörend widersprüchlich auch Pater Tobias’ Meinung zu den vier Dorfältesten im Wirtshaus, innerhalb einer einzigen Stunde (S. 179f):

Pater Tobias wusste nicht, dass man ihnen… nicht widersprach… beim Verlassen des Wirtshauses verstand er, warum man sich im Dorf erzählte, diese vier alten Haudegen seien die klügsten und wichtigste Männer St. Peters

Diese zwei Aussagen passen nicht zusammen. Und einmal heißt es, die Dorfbewohner trinken selbstverständlich nur Leitungswasser, doch auf S. 412 erscheint eine oft benutzte “Mineralwasserkiste”, das passt auch nicht (warum nimmt Kaiser nicht ein altgedientes Biertragl?).

Der “Verstärker für des Pfarrers Funkmikrofon” heißt auf der nächsten Seite “Lautsprecherverstärker”, unübersichtlich. Auf dem Fest will sich Abiturient Johannes A. Irrwein nicht “den Wanst mit Fett und Alkohol” vollschlagen. Irrwein ist aber ein hochgeschossenes Klappergestell, wie wir wissen. Da passt “Wanst” nicht.

Wo blieb die “Power-Lektorin mit dem emsigsten Auge der Welt”?

Assoziation:

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