Gut
-
Romankritik: Die einzige Geschichte, von Julian Barnes (2018, engl. The Only Story) – 7/10 Sterne
A nineteen-year-old boy, or nearly-man, and a forty-eight-year-old woman? Das fragt der Ich-Erzähler zu Beginn verblüfft – doch es funktioniert in diesem Roman über viele Jahre, jedenfalls für die zwei Hauptfiguren, weniger für die Familien und den Tennisclub, in dem sie sich begegneten (ich kenne nur die engl. Fassung und kann die Eindeutschung der langjährigen Barnes-Übersetzerin Gertraude Krueger nicht beurteilen). Amazon-Werbelinks: Die einzige Geschichte | Julian Barnes allg. | Darüber reden | Liebe usw. Erinnerungsfetzen: Julian Barnes (*1944) textet zunächst überaus einfühlsam, erwachsen und mit scharfen Dialogen – ein Genuss. Allerdings schreibt der Ich-Erzähler mit 50 Jahren Abstand, er berichtet explizit nur einzelne, unzuverlässige Erinnerungsfetzen und kredenzt immer wieder ganze…
-
Kritik Roman: Stolz und Vorurteil, von Jane Austen (1813, engl. Pride and Prejudice) – 7 Sterne – mit Videos
Um Seite 50 herum wollte ich das Buch fast rauswerfen. Ich überblickte das zahlreiche Personal nicht ganz – nicht mal mit den Personenlisten und kernkraftwerkschaltplangleichen Organigrammen aus der Wikipedia. Außerdem erschien mir das Gedankengut vieler Protagnisten allzu hohl, nur auf Konvention, Geld und bella figura gerichtet: Mr. Bingleys stattliches Vermögen, bei dessen Erwähnung ihre Mutter immer ganz munter wurde, erschien in ihren Augen wertlos, verglichen mit der Uniform eines Fähnrichs. Zudem trägt Jane Austen (1775 – 1817) die Satire dick auf, die unsympathischen Figuren reden allzu krass unsympathisch. Die Hauptfigur Elizabeth Benneth strahlt zu sehr in ihrer abgeklärten, vernunftorientierten Art, die sich auch nicht von hochmögenden Adelsnasen einschüchtern lässt. Ein…
- Auswandern, Belletristik, Buch, England, Gut, Hongkong, Hot Country Entertainment, Interkulturell, Roman
Romankritik: Aufregende Zeiten, von Naoise Dolan (2020, engl. Exciting Times) – 8 Sterne
In Hongkong hat der reiche Banker Julian, 28, Brite, eine WG+ mit der armen irischen Englischlehrerin Ava, 22: Sie lebt gratis bei ihm, packt seine Koffer, erledigt den Müll und erträgt seine billigen chinesischen Zigaretten; nachts geht’s manchmal in die Kiste, zumindest oral. Aushälter und Haushälterin betonen das Unverbindliche, letztere etwas zähneknirschend. Ihre Sicht zu Romanbeginn: I am glad Julian does not demand intimacy, and annoyed at him for not offering it. (Ich kenne nur das engl. Original und kann die Eindeutschung von Anne-Kristin Mittag nicht beurteilen.) Allmählich äußert sich in flapsigen Randbemerkungen, im Abholen am Flughafen, auch Sympathie. Er nennt sie, so die Ich-Erzählerin, a tiger cub, and I…
-
Kritik Roman und 2 Verfilmungen: Überredung, von Jane Austen (1817, engl. Persuasion) – 7 Sterne – mit Videos
Der Roman: Jane Austen plaudert elegant, markant und flüssig (im englischen Original; nicht in meiner mittelprächtigen Eindeutschung; s.u.). Sie schafft spannende soziale Situationen, lebhafte Dialoge und plastische Kulissen, ohne unrealistisch, melodramatisch oder aufdringlich symbolisch zu werden – es klingt fast wie genau beobachtete Gesellschaftsreportage oder nüchternes Tagebuch. Die Geschichte ist „erwachsener“ und weniger satirisch als andere bekannte Austen-Bücher, weil die Hauptfigur schon um 28 Jahre zählt und vielleicht, weil Austen bei der Niederschrift älter war. Freilich: Austen beginnt mit seitenlang dialogfrei referierter Familiengeschichte. Dem folgen viele gelungene Dialoge, Abläufe und Gruppenaufstellungen voll Entwicklung und Interaktion. Gegen Ende gibt’s wieder ein Kapitel, in dem eine Frau einer anderen langwierig das Vorleben…
-
Kritik Roman, Film. Zoë Heller: Tagebuch eines Skandals (2003, 2006, engl. Notes on a Scandal) – 7 Sterne – mit Video
42jährige verheiratete Lehrerin beginnt Affäre mit 15jährigem Schüler. Sie fliegen auf, die Presse frohlockt. Die 62jährige Freundin und Kollegin der 42jährigen erzählt die Geschichte im Rückblick – auf Seite 2 wissen wir alles Wichtige. Zoë Heller kreiert eine plausible Erzählstimme, plausible Dialoge, plausible Figuren mit viel Alltagsrealismus. Sie konstruiert sehr durchdacht einen Roman voll Spannung. Tagebuch eines Skandals auf Amazon Im Roman: Die 62jährige Ich-Erzählerin pflegt im Roman einen sehr persönlichen, fast Tagebuch-artigen Ton. Sie tönt leicht geschwätzig bis sensationsheischend, mal blasée cultivée, mal unerwünscht privat und aufdringlich verständnisvoll. Dem kalten Blick dieser Matrone entgeht nichts, keine kleine Peinlichkeit, kein gescheitertes Witzchen, keine Verschiebung im Beliebtheitsranking oder im Lehrerklo-Papierkorb. Die…
-
Kritik Roman. W. Somerset Maugham: Seine erste Frau bzw. Rosie und die Künstler (1930, engl. Cakes and Ale) – 7 Sterne
W. Somerset Maugham schreibt einen freundlichen Plauderton, der runtergeht wie milder Cognac. Ein paar Snobismen und ironische Arroganz geben die nötige Würze. Dazu kommen clevere Dialoge – einen Tick filmi vielleicht, aber gut zu haben, voller Persönlichkeit und Idiomatik. Den Stil-Pep braucht’s auch, denn inhaltlich passiert zunächst nicht viel: das erste Kapitel redet nur allgemein über den Schriftsteller Roy Kears, ein weiteres Kapitel enthält den ergebnislosen Dialog zwischen Schriftsteller Kears und dem Ich-Erzähler-Schriftsteller Ashenden, und das dritte Kapitel berichtet vom Auftauchen des Schriftstellers Driffield im südenglischen Kaff Blackstable, beobachtet vom Ich-Erzähler-Schriftsteller Ashenden in jungen Jahren. Drei Schriftsteller und keine Handlung, na Danke. Aber gefällig klingt’s. Der Roman blendet dann in…
-
Kritik Roman. W. Somerset Maugham: Theater, ein Schauspieler-Roman bzw. Julia, du bist zauberhaft (1937, engl. Theatre) – 7 Sterne – mit Videos
W. Somerset Maugham erzählt routiniert, gefällig und sehr ironisch von einem Ehepaar in der Theaterbranche in London um die 1930er Jahre herum, meist aus Sicht der Starschauspielerin Julia, 46. Im zweiten Drittel kommt eine betont undramatische Ehebruchiade in Gang. Erfolgs-Stückeschreiber Maugham kennt das Milieu bestens und delektiert sich an Karrieristen, Schleimern, Statusgockeln, Selbstdarstellern, Edelmännern und gesellschaftlichen Zwängen. Show, don’t tell: Der kurze Roman wechselt zwischen gut gezeichneten Szenen mit markanten Dialogen und längeren Passagen, in denen Maugham über ganze Jahre flüchtig hinwegerzählt – die überzeugen nicht so. W. Somerset Maugham macht es sich zu leicht, behauptet zuviel, statt Handlung und Dialog zu präsentieren. Er schreibt seinen Protagonisten fast willkürlich Eigenschaften…
-
Rezension England-Roman: Just Like You, von Nick Hornby (2020) – 8 Sterne
2016 in London. Eine 42jährige weiße Lehrerin, alleinerziehend, gerät in eine Beziehung mit einem 22jährigen Schwarzen, den sie als Babysitter und Aushilfsmetzgereifachverkäufer kennenlernte. Autor Nick Hornby (*1957) macht die Annäherung einigermaßen nachvollziehbar. Doch ist es Liebe oder nur ein Pausenfüller? Die Umwelt zeigt sich schockiert. Anspielungen und Missverständnisse: Hornby schreibt pfiffige Dialoge voll unterschwelliger Anspielungen und Missverständnisse – das versetzt den Leser sofort in vertrautes Hornby-Land, und man möchte es als Quasselkomödie verfilmen. Ein paar Mal habe ich laut gelacht; viele andere Gespräche sind so ernst und genau, dass man die Luft anhält. Die in vielen Rezensionen angesprochenen Diskussionen über den Brexit erdrücken den Roman nicht, sie klingen aber gelegentlich…
-
Buchkritik, Filmkritik: An Education, von Nick Hornby (2009), von Nick Hornby – 8 Sterne – mit Video, Hintergründen & Links
Das Drehbuch (2009): Hornby schreibt scharfe Dialoge: kultiviert, witzig, psychologisch genau und zugleich hintergründig bedrohlich in der Annäherung des charmant-öligen Älteren an die 16jährige Bürgertochter Jenny. Dazu kommen die vielen schnellen Szenenwechsel und die anstehenden Entwicklungen – ich konnte die dünne Fibel kaum weglegen. Nick Hornby bei Amazon Dies ist ein Drehbuch mit Dialogen. Doch in den mitgedruckten Regieanweisungen schildert Nick Hornby (*1957) knapp auch Gefühle, Mimik und Gedanken seiner Figuren. Der Text liest sich perfekt – wie ein Roman – und dürfte nicht anders sein (dt. u. engl. Titel An Education; ich kenne nur das engl. Original und kann die Eindeutschung nicht beurteilen). Ein paar Details schwächen den Text:…
-
Kritik E-Mail-Romane von Matt Beaumont: E-Mail an alle (2000, engl. e, Teil 1 von 3 der E-Mail-Reihe) + The e. before Christmas (2000, Teil 2) + eSquared (2010, Teil 3) – 7 Sterne
E-Mails, hunderte kurze E-Mails in Londoner Werbeagenturen fliegen durch diese drei modernen Briefromane: E-Mail an alle (2000, engl. e, Band 1) spielt im Januar 2000, The e. before Christmas (2000, Band 2, nicht auf Deutsch, sehr kurz) zeigt dieselben Figuren in derselben Agentur im Oktober 2000. e2 (auch „e squared“, 2010, Band 3, nicht auf Deutsch) spielt 2008/2009 in einer anderen Agentur, aber auch in Familien, mit teils bekannten Figuren. Das schaukelt sich schnell hoch zur witzigen Kakophonie mit bösen Intrigen, Missverständnissen, Schweinigeleien, Heucheleien, Fehlleitungen, Karrierehoffnungen, Appellen und jovialen Nervköppen, die per Rundmail ihren alten Toaster verhökern. Es wird bald drastisch und etwas vulgär. Weil wir nur den schriftlichen Austausch…
-
Buchkritik: Sweet Sorrow – Weil die erste Liebe unvergesslich ist, von David Nicholls (2019) – 7 Sterne
Fazit: David Nicholls schreibt vergnügliche, exzellente Dialoge – vielleicht etwas zu unrealistisch geschriftstellert, wie in einer cleveren britischen Komödie, aber allemal charmant witzig und teils psychologisch feinsinnig. Dazwischen produziert Nicholls jedoch zähe allgemeine Seiten und Beschreibungen – kein konkreter Vorgang, kein Dialog, sondern ein blutarm schweifender Rückblick nach 20 Jahren, in immer neuen Rückblenden. Allgemeines Gelaber: Teenager und Scheidungskind Charlie lebt bei seinem klinisch depressiven Vater. Er will die coole Frances näher kennenlernen, und dazu bequemt er sich gegen sein Naturell in eine Theater-AG. Ich-Erzähler Charlie berichtet von seiner Jugend und ersten Liebe mit 20jährigem Abstand. Gleich die ersten Seiten gelingen David Nicholls (*1966) fast dialogfrei kursorisch, ein beängstigender Beginn.…
-
Romankritik: Dreigroschenroman, von Bertolt Brecht (1934) – 7 Sterne
Bertolt Brecht schreibt aus dem Geschlechts- und Geschäftsleben von Händlern und Kriminellen in London um 1904 – bei Brecht ist das alles kein Unterschied, und mit vielen scheinbar absurden, zynischen, widersprüchlichen und menschenverachtenden Sätzen und Manövern verkörpern die Figuren vermutlich Brechts soziale, wirtschaftliche und politische Ansichten (S. 244 in der Suhrkamp-TB-Einzelausgabe): Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was… ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes? Es klingt nie vollends platt programmatisch oder proklamatorisch, aber auch nicht ganz realistisch – episches Theater? Ganz verstanden habe ich die vielen betont abstrusen Manöver der dubiosen Geschäftsleute, Ganoven,…
-
Rezension Roman: Wie macht sie’s bloß, von Michael Frayn (1989, engl. The Trick of it) – 7 Sterne
Ein kleiner englischer Uni-Dozent geht eine Beziehung mit der Großschriftstellerin ein, deren Werk er seit 12 Jahren erforscht und lehrt. Darüber berichtet er in aufgeregten Briefen an einen befreundeten Geisteswissenschaftler in Australien. Frayns Roman gibt ausschließlich die Briefe des neu verbandelten Uni-Dozenten wieder. Dieser Dozent, Extremkauz, schreibt schrullig und mit Esprit. Sicher textet so etwas niemand besser als Michael Frayn (*1933; ich habe das Buch auf Englisch gelesen). Da gibt es reizvolle stilistische Varianten, sehr kurze und sehr lange Schreiben. Das macht viel Spaß, aber: Auf Dauer ermüdet der eigentlich vergnügliche, jedoch perma-hochtourige Briefton des Dozenten. Frayn nimmt zudem das Brief-Genre nicht übermäßig ernst, liefert fast mehr einen Ich-Erzähler-Roman. So…
-
Romankritik: Ein abgetrennter Kopf bzw. Maskenspiel, von Iris Murdoch (1961, engl. A Severed Head) – 7 Sterne – mit Presse-Links
Ein distinguierter, reicher Londoner Weinhändler lebt kinderlos glücklich mit Frau und heimlicher Liebhaberin. Die Frau verlässt ihn für ihren Psychologen, mit dem auch der Weinhändler befreundet ist. Dies stürzt den Mann in eine Krise, aber alle Beteiligten wollen die Situation betont vernünftig, sogar freundschaftlich bewältigen. Amüsant, wie die großbürgerlichen, aber auch etwas steifen Figuren nonchalant über ihr Schicksal und Liebesleben parlieren. Dass hier eine Autorin einen männlichen Ich-Erzähler inszeniert, fällt nicht störend auf. Diese Hauptfigur ist freilich definitiv ein Weichei und Frauenversteher, dabei gleichwohl Frauenverhauer, und in der zweiten Buchhälfte driftet ohnehin alles ins Absurd-Beliebige. Das Milieu der oberen Mittelschicht in London beschreibt Murdoch reizvoll detailliert, wenn auch teils zu…
-
Romankritik: Hummer zum Dinner, von Helen Fielding (1994, engl. Cause Celeb) – 7 Sterne – mit Presse-Links
Noch vor ihrem ersten Bridget-Jones-Band brachte Helen Fielding den Roman Hummer zum Dinner (engl. Cause Celeb) heraus. Die Ich-Erzählerin hier ist zunächst PR-Agentin und zeitweise Geliebte eines egozentrischen TV-Stars in London. So gelangt sie auf Schickeria-Parties und TV-Galas, die sie sehr satirisch beschreibt. Nach einem Kurzbesuch in Afrika verlässt die Ich-Erzählerin Freund und Job in London und leitet ein Flüchtlingslager in Afrika (ein fiktionalisierter Sudan). Als im Camp die Lebensmittel ausgehen, will die Hauptfigur Londoner Promis für ein TV-Spektakel einfliegen. Hier wird das Buch zur bösen Mediensatire. Die Berichte aus der Londoner Promi-Welt wie auch aus Afrika klingen realistisch. Immerhin arbeitete Helen Fielding einst als TV-Produzentin, und sie berichtete in…
-
Romankritik: Anita and Me, von Meera Syal (Einwanderer-Roman, 1996) – 7 Sterne – mit Video & Presse-Links
Einfühlsam, informativ und oft lustig, aber nie schrill beschreibt Meera Syal in ihrem Romanerstling gleich drei verschiedene Welten in einer: das Innenleben einer Neun- oder Zehnjährigen, ziemlich frühreif indische Einwanderer im England der 1960er ein englisches Bergbaudorf Das liest sich grundsätzlich interessant, leicht und unterhaltsam; aber Schwächen gibt es auch: So wird Syal mitunter zu belehrend, etwa auf den Seiten über die Folgen der indischen Teilung speziell im Punjab, über Unterschiede in den familiären Beziehungen bei Indern und Engländern und bei Fremdenfeindlichkeit. Die Handlung wirkt dann nicht mehr plausibel, sondern konstruiert. Vielleicht will die Autorin auch zu vieles aus ihrer eigenen Kindheit einbauen. Im ersten Buchteil schweift Syal überdies zu…
-
Rezension: Verwandte Stimmen von Vikram Seth (Musiker-Roman 1999, engl. An Equal Music) – 7 Sterne – mit Presse-Links
Seth erzählt von einem englischen Kammermusiker in London, der zufällig nach zehn Jahren ohne Kontakt seine einstige Liebe wiedertrifft, die er nie vergessen konnte. Dann spielen sie auch noch zusammen – doch es gibt ein trauriges Geheimnis. Fazit: Vikram Seth schreibt durchgehend spannend, dazu sehr sensibel, hochatmosphärisch, im letzten Viertel jedoch zu melodramatisch und weinerlich. Viele intelligente, kurzweilige, aber nie betont originelle Dialoge steigern die Kurzweil ebenso wie die knappen Kapitellängen. Die Mischung aus Liebe und Kammermusik spricht an. Im letzten Drittel wirkt der Roman mit seinen 480 (englischen) Seiten überdehnt, Seelenpein und Musikeralltag entwickeln sich nicht weiter, werden nur zunehmend ausgewalzt, die Hauptfigur wird unsympathischer. Venedig-Tourismus und Geigenauktion klingen…
-
Romankritik: Eines Menschen Herz, von William Boyd (2002, engl. Any Human Heart) – 7 Sterne – mit Links & Video
Das fiktive, fast lebenslange Tagebuch von Logan Gonzago Mountstuart: Es beginnt mit Internatsjahren in England in den 1920er Jahren, dann erste Erfolge als Schriftsteller in London und Paris, Abenteuer im zweiten Weltkrieg, später Kunsthändler und Schriftsteller in New York, einige Jahre in Afrika, schließlich London und Südfrankreich bis zum Tod 1991. 2010 wurde eine vierteilige TV-Serie daraus, vier verschiedene Schauspieler verkörpern die Hauptfigur in unterschiedlichen Lebensphasen. Fazit: William Boyd kreiert einen intelligenten, reflektierten, mild sympathischen Ich-Erzähler, dessen Geschichte einen eigentümlichen Sog entwickelt, obwohl sie kaum einmal spannend und – wegen der manchmal sporadischen Tagebucheinträge – ungleichmäßig ist. Ein paar Krimi-Episoden stechen seltsam heraus. Die Geschichte ist flüssig formuliert und gut…
-
Rezension Einwanderer-Roman: Bloß (k)eine Hochzeit, von Bali Rai (2001, engl. (Un)arranged Marriage) – 7 Sterne
Manjit ist in England aufgewachsen, doch seine konservative und ungebildete indische Punjabi-Familie will ihn 17jährig mit einer Punjabi-Frau verheiraten, die er nicht kennt und nicht will. Autor Bali Rai, der in ähnlichen Umständen aufwuchs, schildert vor allem, wie sich der intellektuelle Manjit von seiner Familie abhebt und immer verzweifelter gegen die arrangierte Ehe sträubt – samt einem unfreiwillig langen Aufenthalt in Indien, bis zum dramatischen Finale. Das liest sich lebendig, nicht stereotyp, mit vielen Einblicken und mehreren sehr spannenden Passagen. Sitten und Gebräuche erklärt der Autor manchmal zu pädagogisch aufdringlich. Das Stehlen, Saufen und die Straßensprache öden an, aber es gehört wohl dazu. Sehr mechanisch träumt Manjit einmal von einer…
-
Rezension komischer England-Roman: Zwei an einem Tag, engl. One Day, von David Nicholls (2009) – 7 Sterne – mit Video & Links
Eine lakonisch romantische Komödie über zwei Jahrzehnte: Nach der Uni-Abschlussfeier verbringen Emma und Dexter eine gemeinsame Nacht; anschließend bleiben sie befreundet, haben aber jahrelang jeweils andere Partner. Dexter ist reich, lässig und wird TV-Moderator; Emma strampelt sich ab und endet als kleine Lehrerin. Die Geschichte verkaufte sich in Deutschland angeblich 1,5 Millionen Mal und wurde 2011 mit unverändertem Titel verfilmt (s.u.). Nicholls Roman Drei auf Reisen (2014) hat einige Parallelen, ist aber keine Fortsetzung. Fazit: Nicholls schreibt spannend, witzig, teils einfühlsam und mit viel Zeitgeist – sehr leicht lesbar. Smarte Dialoge ohne Ende. Allerdings erzeugt Nicholls die Spannung teils mit aufdringlichen Cliffhangern – er unterbricht, kurz bevor es interessant wird.…
-
Romankritik: Drei auf Reisen, von David Nicholls (2014, engl. Us) – 8 Sterne
David Nicholls beginnt diesen Roman einer Ehe mit einem Schock: Ich-Erzähler Douglas hört von seiner Frau Connie (beide über 50), dass sie ihn nach 20 Jahren eigentlich angenehmer Ehe verlassen möchte, aber nicht von heute auf morgen. Bald gehen die beiden samt Sohn Albert, 18, auf eine lange geplante Sommerreise durch Museen auf dem europäischen Festland. Ab hier bewegt sich der Roman auf zwei Schienen: Douglas erzählt, wie es weitergeht und schildert in vielen kleinen Rückblenden die Phase des Kennenlernens, als sie beide Endzwanziger waren, und die ersten Ehejahre. Und der Leser will bis zum Schluss wissen: Bleiben sie zusammen oder nicht? Leicht konsumierbar: David Nicholls schreibt kurze, markante Kapitelchen,…
-
Rezension Unterhaltungsroman: Die Reisen mit meiner Tante, von Graham Greene (1969, engl. Travels with my Aunt) – 7 Sterne
Henry (Mitte 50, frühpensionierter Bankfilialleiter) und Tante Augusta (75) begegnen sich nach Jahrzehnten wieder. Sie reisen mit dem Zug von London über Paris nach Istanbul; später treffen sie sich in Paraguay erneut. Henry ist dezidiert dröge, die alte Dame flamboyant und etwas rätselhaft. Gepflegtes Parlando: Greene schrieb Die Reisen mit meiner Tante, engl. Travels with my Aunt, zur eigenen Unterhaltung (Quelle), mehr als seine anderen Romane. Der gepflegt langweilige Ich-Erzähler parliert in gepflegt unterhaltsamem Ton, auch die Dialoge klingen gefällig (ich kenne nur die englische Originalfassung und kann die Eindeutschung nicht beurteilen). Der ganze Roman wirkt gediegen und wohlkonstruiert – und ermüdet doch auf Dauer: zu viel Komik möchte Greene…
-
Roman-Kritik: Towards the End of the Morning – Gegen Ende des Morgens, 1967, von Michael Frayn – 7 Sterne
John Dyson ist unbedeutender Redakteur bei einer Londoner Tageszeitung, langweilt sich dort oft, fühlt sich aber zu Größerem berufen – da wird er zu einer Talkrunde im Fernsehen eingeladen. Sein Ego schwillt, sein Redefluss auch. Autor Michael Frayn karikiert die Eitelkeiten und Banalitäten im Redaktions- und Büroalltag, die Kleinkämpfe und Rangeleien bei der Arbeit und im Beziehungsalltag. Dabei verarbeitet Frayn ganz offensichtlich seine eigene Zeit bei Guardian und Observer (Frayn taucht als auch als Nebenfigur in Philip Norman’s Fleet-Street-Roman Everyone’s Gone To the Moon auf, in dem eine Hauptfigur so heißt wie seine Hauptfigur hier). Vielleicht deshalb wirkt der Roman etwas heterogen – Frayn will zu viele kuriose Figuren und…
-
Rezension England-Roman: Bordeaux: Ein Roman in vier Jahrgängen – The Irresistible Inheritance of Wilberforce, von Paul Torday (2008) – 8 Sterne
Ein sehr überzeugender Roman mit stets durchgehaltenem, gutem Momentum, wenn man bedenkt, dass es in großen Teilen nur um einen unsympathischen, blassen Alkoholiker und Computerfex geht und dass wenig passiert. Es fiel mir schwer, die Lektüre zu unterbrechen. Reizvoll, wie der Ich-Erzähler seine Weinsucht ummäntelt, negiert, mit immer neuen Erklärungen und Ausflüchten; ganz lässig – literarisch sehr nonchalant – leert er Glas um Glas, Flasche um Flasche, und das schon vor dem Abendessen. Gut geschrieben. Gute Einblicke: Auch andere Personen schildert Autor Paul Torday sehr markant und mit treffendem Tonfall, vor allem den versnobten englischen Landadel, der sich auf seinen Anwesen amüsiert, gepflegtes Parlando und britisches Understatement zelebriert. Das endlose,…
-
Rezension Geistreicher London-Roman: The London Embassy, von Paul Theroux (1983) – 8 Sterne
Der Ich-Erzähler arbeitet Anfang der Achtziger in der US-Botschaft in London. Das Buch besteht aus 18 sehr lose bis gar nicht verwobenen Episoden. Die meisten Geschichten haben nicht viel mit der Botschaft zu tun: Der Ich-Erzähler lernt zum Beispiel jemanden bei einem Empfang kennen, fühlt sich zu einem Besuch vor Ort bemüßigt, der Rest spielt dann in entlegenen Stadtteilen. Auf Amazon: Bücher von Paul Theroux Starke Dialoge, schwächeres Gesamtgerüst: Milde Käuze aus allen, oft aber gehobenen Gesellschaftsschichten stehen im Mittelpunkt, einige wenige Erzählungen handeln auch von Liebesbeziehungen. Das Buch ist voll funkelnder, unterhaltsamer, gebildeter Dialoge; Engländer werden als exotische Wesen vorgeführt. Doch während einzelne Seiten, Szenen und Charaktere oft hinreißen,…
-
Rezension Lustiger Roman: Ewig zweiter (2005), von David Nicholls – 8 Sterne
Ein Schauspieler und Drehbuchschreiber, der einen Roman über einen Schauspieler mit Schreibambitionen schreibt – das klingt gefährlich. Man befürchtet distanzlose Insidergeschichten, Egotrips, selbstmitleidige Selbstbespiegelung, Ablästern über Kollegen, Werke und Alphafiguren. Es gibt ja nichts Schlimmeres als Schriftsteller, die Romane über, ausgerechnet, Schriftsteller, schreiben, womöglich noch in Berlin. Doch bei Nicholls (*1966) steigt nie das säuerliche Gefühl auf, dass hier einer vor allem seine eigene Lebensgeschichte reinquetschen will, womöglich gar in Leipzig schreiben gelernt hat. Dieser Schauspieler und Drehbuchautor hier, David Nicholls, ist klasse. Warum das Buch funktioniert: David Nicholls liefert Insidergeschichten, aber nur genau so viel, dass sie die Atmosphäre verdichten und anfassbar machen. Die Gefühle des Buch-Helden, wenn er…
-
Rezension lustiger Roman: Keine weiteren Fragen, von David Nicholls (2003) – 8 Sterne
Viele exzellente Dialoge und Abläufe, für ein lustiges Buch recht realistisch, wenn man auch die Zuneigung der beiden Hauptdarstellerinnen für den männlichen Helden etwas unglaubwürdig finden kann. Die Rolle des verstorbenen Vaters wird etwas überhöht. Ich habe das Buch verschlungen. In meiner Suche nach lustigen, aber nicht doofen Büchern hatte ich zuletzt Matthias Keidtels Ein Mann wie Holm gelesen. Nicholls ist aber weitaus temporeicher, cleverer und weniger abstrus. Obwohl englische Unis in den 80ern nicht genau mein Milieu sind. Assoziation: Nicholl’s 2019er Roman Sweet Sorrow zeigt auch viertelprekäre Teenager, dort in einer Shakespeare-AG und nicht als Quizteam, dazu alleinerziehende schweigende Väter. Die Atmosphäre ist ähnlich, aber weniger lebendig Nicholls wird…
-
Romankritik: Liebe und andere Parasiten, von James Meek (2012, engl. The Heart Broke in) – 8 Sterne
Über 500 Seiten smarte, coole Dialoge – genauer: Dialoge und viele heikle Hintergedanken – zwischen smarten, modernen Menschen meist zwischen 30 und 40, überwiegend in London. Interessante, moderne, moralische Konflikte im Medien- und Wissenschaftsbereich und in Paarbeziehungen; gut und rund konstruiert, meist sehr spannend. Darum geht es: Einige Konflikte zielen auf speziell englische Sensibilitäten, so die Medienhatz auf Prominente und Kindesmissbrauch im BBC-Umfeld (vom Savile-Skandal hat James Meek erst nach Erscheinen seines Romans erfahren, wie er in der NYT schreibt). Mitunter bauscht der einstige Top-Journalist Meek das Dilemma seiner Protagonisten etwas auf, indem er denkbare Lösungen einfach nicht auf den Tisch bringt oder einzelne Akteure zu dämonisch gestaltet; dennoch wirkt…
-
Rezension Finanzkrise-Roman: Charlie Summers, von Paul Torday (2010) – 8 Sterne
An diesem Roman über die Finanzkrise gefiel mir: solide Konstruktion, sichere Erzählstimme – der Leser ist in guten Händen ordentliche Dialoge mit klar unterscheidbaren, markanten Charakteren (Kleinstadtbetrüger, zynischer Geldadel, lässiger Landadel) (ich hatte die englische Ausgabe) einige Mechanismen der Finanzkrise anschaulich, aber nicht zu simpel dargestellt eher wenig interessante Figuren (meist englische Landedelmänner) in interessante Handlung gepackt obwohl das Thema nicht wirklich fesselt, konnte ich den Roman kaum weglegen Wiedersehen mit netten Bekannten aus früheren Torday-Romanen mehrere Parallelhandlungen unaufdringlich verschränkt, ohne viele Rückblenden Bedenken erzeugten jedoch: kleinere Implausibilitäten z.B. beim Dreieck Eck – Aseeb – Bilbo die Auswüchse vor dem Finanzcrash werden etwas zu dräuend gezeigt gegen Ende scheint Paul…
-
Romankritik: Lachsfischen im Jemen, von Paul Torday (2006) – 7 Sterne
Die Idee ist reizvoll – ich meine die interessante Handlungsidee und die Präsentation quasi ohne Erzähler, sondern nur durch Wiedergabe von fiktiven E-Mails, Interviews und Tagebucheinträgen. Der Autor ist offenkundig auf die britische Regierung (wohl ein Blair-Kabinett) nicht gut zu sprechen, und ein paarmal habe ich laut gelacht über die Politsatire. Diese Schwächen fielen mir auf: Paul Torday überfrachtet seinen Erstling aber auch in mehreren Punkten: Wir erfahren zu viel über Lachse und zu viel über Glaube und Hoffnung. Der weise Scheich kommt zu heiland-artig daher. Es gibt eine Nebenhandlung im Iran und Irak – also kulturell und geographisch nicht so weit vom Yemen entfernt, dem Ort der Haupthandlung; die…
-
Romankritik englische Medien-Satire: Everyone’s Gone to The Moon, von Philip Norman (1995) – 7 Sterne
1996: Der blasse Louis Brennan, 22, wird Topjournalist bei der schicken Farbbeilage, nein, beim Magazin des Londoner Wochenblattes Sunday Dispatch. Große Teile des Romans beschreiben Leben, Liebe und Intrigen in der Redaktion – und in den Swinging Sixties. Fazit: Norman schreibt mit Insiderkenntnis, spannenden Intrigen, deftiger Satire, ausgeprägten Charakteren und eleganten Worten – umso verblüffender, dass der Roman auch reichlich Sprachfehler liefert (ich hatte die englische Arrow-Ausgabe). Es gibt kaum Leerlauf. Auch wenn alles wild übertrieben klingt, ich konnte das Buch kaum weglegen. Hintergründe: Philip Norman fiktionalisiert (und glorifiziert) hier seinen eigenen Einstieg bei der Sunday Times. Im Roman heißt das Blatt Sunday Dispatch – eine Zeitung, die unter diesem…