Romankritik: Die einzige Geschichte, von Julian Barnes (2018, engl. The Only Story) – 7/10 Sterne

A nineteen-year-old boy, or nearly-man, and a forty-eight-year-old woman?

Das fragt der Ich-Erzähler zu Beginn verblüfft – doch es funktioniert in diesem Roman über viele Jahre, jedenfalls für die zwei Hauptfiguren, weniger für die Familien und den Tennisclub, in dem sie sich begegneten (ich kenne nur die engl. Fassung und kann die Eindeutschung der langjährigen Barnes-Übersetzerin Gertraude Krueger nicht beurteilen).

Erinnerungsfetzen:

Julian Barnes (*1944) textet zunächst überaus einfühlsam, erwachsen und mit scharfen Dialogen – ein Genuss. Allerdings schreibt der Ich-Erzähler mit 50 Jahren Abstand, er berichtet explizit nur einzelne, unzuverlässige Erinnerungsfetzen und kredenzt immer wieder ganze Absätze voll dröger Verallgemeinerungen wie

Memory sorts and sifts according to the demands made on it by the rememberer.

Zudem drückt mindestens ein Buchdrittel lang eine Suchterkrankung auf Inhalt, Stimmung und Gesamteindruck. Der Ich-Erzähler schreibt nun – nicht durchgehend – “you”(“you kiss her”) und zuletzt “he”; eine etwas aufdringliche Art, auf Distanz zu gehen.

Sprachlich ist das sonst immer makellos, elegant. Und jedes kleine Motiv kehrt zuverlässig 50 oder 100 Seiten später wieder. Fast wirkt es schon zu auffällig.

Manche Leute, wenn sie alt werden:

Gegen Ende schlurfen Barnes’ Sentenzen immer matter:

Some people, when they grow old, decide to live by the sea. They watch the tides approach and recede, foam bubbling on the beach, further out the breakers, and perhaps ((…))

Dann beginnt die gealterte Hauptfigur auch noch

pursuing counterfactuals. What if this had happened rather than that?

Dem folgt eine Seite mit vielen “What if”s – denkbar langweilig, wenn es doch anders war, wie wir bereits wissen.

Nicht ganz klar wird mir, warum sich der mild rebellische Teenager und die Mittelschichthausfrau verlieben. Der Ich-Erzähler berichtet von ihren

sudden bursts of fierce opinion, which so endeared her to me… some of the things I most loved her for: her irreverence, her free-spirited laughter at the world.

Neu gelernt habe ich die Ausdrücke Scarlet Woman und Jezebel.

Assoziation:

  • Ältere Lustmolchin mit Jüngling, das gibt’s auch in Colettes Romanen Chéri und Erwachende Herzen, aber die Verhältnisse dort sind andere. Der Ich-Erzähler beim frankophilen Barnes sagt selbst: “You might think: French novels, older woman teaching ‘the arts of love’ to younger man, ooh la la. But there was nothing French about our relationship…”
  • Die aufdringlichen Verallgemeinerungen und Lehrsätze des Ich-Erzählers erinnern vag an Barnes’ nervigen Ich-Erzähler Oliver/Ollie aus Darüber reden und Liebe usw. In allen drei Barnes-Büchern gibt es ein Ehepaar und einen weiteren Mann, der die Ehefrau haben will, zwischenzeitlich in USA arbeitet und sich mit Feinkost selbständig macht
  • Auch im Barnes-Roman Vom Ende einer Geschichte (2011, engl. The Sense of an Ending) blickt ein alter Herr zurück
  • “those newspaper features where couples go for a meal, mark one another out of ten…” – unverkennbar eine Anspielung auf den Guardian
  • Der Buchteil in der zweiten Person (“of course you trust…”) erinnert an ähnliche Konstruktionen in Jay McInerneys Ein starker Abgang/Bright Lights, Big City und an Leben ist Glückssache von Lorrie Moore
  • Im ersten, eher humorigen und leicht rebellischen Buchteil dachte ich momentweise an Nick Hornby
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