Roman-Kritik: Erwachende Herzen, von Colette (1923, frz. Le Blé en herbe) – 3/10

Vielleicht überfrachtet Colette in diesem kurzen Roman den Liebesreigen etwas: Es britzelt zwischen Vinca, 15, und Philippe, 16, aber auch zwischen Jung-Philippe und einer gelangweilten Dame “vielleicht dreißig, zweiunddreißig”.

Sturm und Drang:

Colette (18173 – 1954) übertreibt auch sonst: Die zwei jungen Leute verfluchen ihr Lebensalter und wünschen sich fünf Jahre älter:

Ich zerspring’, hörst du, ich platze bei dem Gedanken, daß ich erst sechzehn bin! All die Jahre, die da kommen… Abitur, weitere Prüfungen, Berufsausbildung – all das Tasten und Versuchen und Stottern und Von-frischem-Anfangen, wenn’s einem nicht gelingt ((…)) Da wir doch erst fünfzehn und sechzehn sind. Da wir ja doch warten müssen ((…)) Sie haßte ihre Jugend, hatte sie geschrien ((…))

Völlig unrealistisch. Auch die Beschreibung Vincas am Strand schwülstet:

((…)) der schlanken, gut geformten, terrakottafarbenen Beine ((…)) der ungezähmt linkische Backfischkörper mit den sportlich trainierten, mageren und festen Gliedmaßen ((erinnerte)) mitunter an eine scharfe und spröde Reitgerte ((…)) die lebendige Gegenständlichkeit des kräftigen, schwungvollen, vollkommenen Jungmädchenkörpers ((…)) das zu Sprung und Galopp geschaffene Bein eines rassigen Tiers, dessen Grazie durch die zahlreichen Narben und die harte Haut, die es bedeckten, keine Einbuße erlitt. Auf dem zarten Knochen lag fast kein Fleisch und nur so viel Muskel, wie es die anmutige Rundung verlangte. Vincas Bein erweckte kein Verlangen, sondern nur eine Art Berückung, wie sie reinstem Stil entgegengebracht wird ((…)) die offensichtliche Kraft ihres von Tag zu Tag weiblicher werdenden Leibes: die fest und zart geformten Knie, die geschmeidigen Muskeln der Schenkel, den stolzen Rücken ((…)) Nirgends eilten zwei braungebrannte Beine mit feinknochigen Knien auf ihn zu oder leuchtete ein Augenpaar, in dem sich dreierlei Blau mit ein wenig Malvenfarbe vermengte, seinem dürstenden Blick entgegen.

Aber wie sagt Fachfrau Colette in Erwachende Herzen:

Die Vereinigung Liebender ist ein mühseliges Wunder

Wohl auch für Autoren. (Nein, ich gendere nicht.)

Schmalztopf:

Darüber hinaus kredenzt Colette triefenden Groschenheft-Schmalz und so rein gar nichts von Frechheit und Zynismus aus Chéri oder Gigi:

Ein zäher Tau glitzerte am Fuß der Hecken, und wenn Vinca zur Mittagsstunde ein reifes, vor- zeitig abgefallenes Espenblatt aufhob, dann schimmerte die feuchte weiße Innenseite des noch grünen Blattes wie mit Diamanten besät. Schlaffe Pilze sprossen aus dem Boden ((…)) Und dann verlor der Traum seine Ahnungskraft und seinen kräftigen Schwung, kenterte und landete sturzhaft im tiefen, weichen Grund schwärzester Ruhe ((…)) Und da stieg, ohne daß er den Blick vom verlöschenden Meer abgewandt hätte, ein glückhaft gequälter Aus- druck in seine Augen, deren weißer und schwarzer Glanz zwischen den Lidern erstarb ((…)) In seinem neuen Schmerz hauchte er seine ältesten Worte, die Urworte – so wie dem alten Soldaten, der auf dem Schlachtfeld stirbt, ein längstvergessenes ‘Mutter!’ auf die Lippen steigt.

Sogar der deutsche Buchtitel Erwachende Herzen ist schwülstiger als der französische oder englische. Das penetrante Dativ-e (“auf dem Wege”, “aus seinem Munde”) ist noch das kleinste Problem.

Im tannenbeschattenen Haus:

Nunja, ich hatte die alte, holprige, teils irritierende Übersetzung der Verlage Paul Zsolnay und Moewig. Meine Ausgabe (die auch Colettes Geschichte Gigi enthält) nennt nicht mal eine Übersetzerin (waren es Roseli und Saskia Bontjes van Beek?). Die Übersetzung liefert auch ein paar groteske Deutschfehler (“in ihrem tannenbeschattenen Haus”, sic, “die sich so bitter kränken musste”, sic). Zumindest meine Moewig-Ausgabe zeigt viele unpassende Anführungszeichen. Zugegeben, ich las Erwachende Herzen v.a., weil es in einem Band mit Gigi steckte.

2008 erschien eine Neuübersetzung oder zumindest Überarbeitung der Erwachenden Herzen von Stefanie Neumann im Manesse-Verlag. Leider fand ich keine Leseprobe dazu, und gebraucht ist mir die Manesse-Ausgabe zu teuer (mind. 13 Euro). Aber die Fassung kann nur besser sein.

Hier noch meine Lieblingsstelle, denn die gibt es auch:

Aber plötzlich fuhr sie sich mit beiden Händen ins dichte Haar und zog aus dessen Wirrnis ein trockenes Ästchen hervor. Ihr Gesicht erblühte in einem jähen Erröten und Lächeln

Assoziation:

  • Eine hochgeschossene, spindeldürre 15jährige steht auch im Mittelpunkt von Colettes Gigi (1945); beide Geschichten erscheinen teils in einem Band, sie unterscheiden sich stark im Ton
  • Die Erwachenden Herzen haben eine Beziehung 16jähriger/ältere Frau, vag vergleichbar mit Colettes Chéri und mit Julian Barnes’ Die einzige Geschichte.
  • Amazon-Werbelinks: Chéri | Colette | Erwachende Herzen

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