Buchkritik: Chéri, von Colette (1920) – 7/10 Sterne – mit Video

Oh là là, die Franzosen. Da treiben’s nicht nur die Endvierzigerin Léa (“mit Doppelkinn und verwüstetem Hals”) und ihr Chéri, 25, sondern auch die rund 70jährige toy-boy-Halterin Lili, die ihr Gspusi an den “wie Leder gegerbten Busen” presst.

Schlichte, effektive Plot- und Stilmittel machen Colettes Roman zum Hingucker:

  • Ältere Frauen halten sich ganz offen blutjunge toy boys – sonst ist’s umgekehrt.
  • Die älteren Damen denken und reden sehr unsentimental, materialistisch und frivol über ihre Gespielen – auch das ist sonst umgekehrt –, und sie reden und denken gehässig über- und miteinander.
  • Jung-Ehemann Chéri béhandelt seine blutjunge Braut schockierend lieblos (“ich habe sie gut dressiert”) und ist ungeniert materialistisch/luxusverliebt/weibisch.
  • Colette (1873 – 1954) deutet Erotik an, befeuert Kopfkino, ohne je direkt zu werden.
  • Die allwissende, multiperspektivische Autorin redet genauso unverblümt wie ihre älteren Damen:

Lilis wulstige Pranken, die verkrüppelten Pfoten der alten Aldonza, die harten Finger von Charlotte Peloux…

Laut Colette-Biografin Judith Thurman entstand Chéri aus einem Ein-Akter, daher die Dialogfreudigkeit.

Sottisen und Kapricen:

Das ist zunächst amüsant, man liest sich aber nach einer Weile wund. Denn die Sottisen und Kapricen – angeblich schon 1910 geschrieben, doch erst 1920 erschienen – werden vorhersehbar oder beliebig, zumal die Autorin öfter die Perspektive wechselt. Und Hauptfigur Chéri, der junge toy boy/Schnösel, bleibt charakterfrei hohl.

Interessanter ist Chéris ältliche Loverin Léa. Doch sie spielt für die ähnlich alte Autorin, die Léa gelegentlich in ihrer Theaterfassung verkörperte, nur zweite Geige.

Erst im letzten Fünftel bekommt die Geschichte Drama und ernstes Gefühl.

Kaffee mit fetter Milch:

Manchmal klingen bei Colette sogar die Speisen anzüglich, etwa der

Kaffee mit fetter Milch, hell und süß, der nochmals einem milden Herdfeuer anvertraut wurde, nachdem man getoastete und mit Butter bestrichene Brotscheiben hineingebrockt hatte, die in aller Ruhe vor sich hinköchelten und den Kaffee mit einer köstlichen Kruste überzogen

oder im Bett die

große Tasse schön dicke Schokolade, mit einem verquirlten Eigelb darin, und getoastete Brotscheiben und Trauben

Manche Sätze törnen deutsche Leser womöglich mehr an als französische, z.B:

“Den Kaffee trinke ich im Boudoir.”

Er benahm sich närrisch, lachte, rollte bis zu Léas Füßen, doch sie schob ihn mit dem Fuß weg.

Flötende Trompete:

Doch wo sie ausnahmsweise Bilder und Symbole verwendet, haut Colette auch mal daneben. So heißt es etwa über die sonst laute, plötzlich kleinlaute Charlotte Peloux:

flötete die Trompete ein wenig gedämpft

Colette egalisiert das mit gelungeneren Formulierungen, etwa wenn die 49jährige Léa ihre Arme im Spiegel begutachtet:

“Schöne Henkel für so eine alte Vase”

Die Übersetzung:

Die Eindeutschung von Roseli und Romanistin Saskia Bontjes van Beek klingt großteils nicht holprig, doch manchmal hätte ich gern im Original gegengecheckt (u.a. gratis bei Gutenberg). Die Übersetzerinnen kredenzen auch ein paar seltene Fremdwörter wie Heloten, Retikül, Loupiote, Boudoir oder Teagown – eigentlich eine typische Schwäche von Übersetzungen aus romanischen Sprachen oder dem Englischen, wenn Ausdrücke nur huschhusch umgermanisiert oder gar nicht übertragen werden (Retikül erscheint im Original natürlich als reticule etc.).

Manche Ausdrücke könnten definitiv besser übersetzt sein wie

daß Desmond bereits glaubte, seinem Wohlergehen habe die letzte Stunde geschlagen

Die Verfilmung:

Die 2009er Verfilmung von Stephen Frears bekam schlechte Kritiken, jedoch Lob für Hauptdarstellerin Michelle Pfeiffer. Mir gefiel wider Erwarten nicht einmal Michelle Pfeiffer. Der Film wirkt schwülstig und weit weniger bissig als der Roman, zudem völlig überfrachtet mit Plüsch, Deko und Luxus. Die angebliche Anziehung zwischen der älteren Pfeiffer und dem Jüngling war nicht zu spüren. Die Prachtvillen erinnerten mich momentweise an den überkandidelten Bombast aus Devdas (2002).

Die Handlung stammt weitestgehend aus dem ersten Chéri-Band, nur die letzten paar Sekunden stammen aus dem zweiten Band. Verblüfft stellte ich fest, dass meine deutsche DVD deutschen und englischen, aber keinen französischen Ton hatte.

Assoziation Georges Simenon:

Colette war einst Chefin des Jungreporters Georges Simenon und gab ihm gute Schreibtipps. Beide Autoren texten in der Tat vergleichbar schlackefrei ohne Verallgemeinerungen, rhetorische Fragen, Zaunpfahlsymbolik, schwülstige Natur- oder Gefühlsbeschreibungen (“die zurückweichende Sturmflut der Liebe” in Chéri bleibt die Ausnahme, und Colettes Gartenbeschreibungen klingen sachlich). Colette wie Simenon texten solide, besser als die Leipzigliteraturmechatroniker; sie faszinieren aber auch nicht wirklich, anders als sagen wir Raymond Carver, John Updike oder Patricia Highsmith in ihren besten Büchern.

Colette wie Georges Simenon (ich kenne v.a. seine Nicht-Maigrets) verzichten gänzlich auf stilistische Extravaganz, Experimente und andere Lesestrapazen. Beide haben keine Angst vor Dialog und konkreter außerehelicher Erotik. Sie schreiben ähnlich lang bzw. kurz. Satirisch frech ist aber nur Colette.

Weitere Assoziation:

  • Zweimal verfilmt, zuletzt 2009 mit Isabelle Huppert
  • Die Fortsetzung Chéris Ende (1926) spielt etwa sechs Jahre später (ca. 1919) und behandelt vor allem Chéris Familie; die abgehalfterte Ex-Loverin Léa erhält nur eine kleine Nebenrolle; die Chéri-Romane haben je rund 170 Seiten und erscheinen oft in einem gemeinsamen Band
  • Colette kann auch umgekehrt: Ihr Roman Gigi bringt älteren Herrn und junges Mädchen zusammen, wieder mit einem Hauch von Rotlicht. Im Vergleich zu Chéri wirkt das Gigi-Personal weniger zynisch, wenn auch teils immer noch erstaunlich berechnend. In beiden Büchern werden Perlenketten, Zahl und Dicke der Perlen diskutiert (in Gigi “Siebenunddreißig Perlen. Die mittlere war so dick wie mein Daumen”)
  • Ü-40-F mit Jüngling, das gibt’s auch in Julian Barnes Roman Die einzige Geschichte, aber die Verhältnisse dort sind andere. Der junge Ich-Erzähler beim frankophilen Barnes sagt selbst: “Or you might think: French novels, older woman teaching ‘the arts of love’ to younger man, ooh la la. But there was nothing French about our relationship”
  • Momentweise dachte ich bei den Spitzzüngigkeiten der Chéri-Protagonisten an Oscar Wilde, doch dessen Aperçus sind eine Klasse für sich (Hauptfiguren in Cheri wie in Wildes Dorian Gray sind junge hedonistische Schönlinge, und auch Colettes Titelheld bewundert sich andächtig im Spiegel)
  • Ebenfalls in den Sinn kamen mir die frecheren Geschichten von Dorothy Parker – doch bei Parker sind die Männer die Frivolen, die Frauen zu bedauern
  • Eiskalte Berechnung in Chéri wie in Laclos’ Gefährlichen Liebschaften, und beide Romane verfilmt vom Team Frears/Pfeiffer/Hampton
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