Deutschland
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Kritik Kurzroman: Der harte Handel, von Oskar Maria Graf (1832) – 7/10 Sterne
Oskar Maria Graf erzählt spannend und unidyllisch vom Leben auf dem Dorf mit Versicherungsbetrug, Ausbeutung, Hinterfotzigkeit und kalkuliertem Sex unter Unsympathen. Der Titel „Der harte Handel“ passt perfekt zu Atmosphäre, Intrigen und Geschacher im Roman. Die Figuren werden äußerst lebendig, aber nicht liebenswert. Das Herz erwärmt nichts, zumal die Geschichte gutteils im Winter spielt. Nebenbei lernen wir einiges über Landwirtschaft, Gesetzgebung und Justizvollzug; Graf nahm die Handlung offenbar aus der Zeitung. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Adjektivselig: Ironisch kredenzt Oskar Maria Graf (1894 – 1967) derbes Bairisch – schon in der Erzählstimme, und erst recht in der wörtlichen Rede. Graf…
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Romankritik: Daheim, von Judith Hermann (2021) – 7 Sterne
Judith Hermann schreibt betont achtsam, zart, feminin, spröd, mild wunderlich. Teils pseudo-literarisch-lyrisch wie Seit fast einem Jahr lebe ich auf dem Land, an der östlichen Küste ((…)) an dieser Küste Warum schreibt sie nicht „Ostsee“? Warum nicht einen Ortsnamen? Oder heißt die Gegend Daheim? Für echten, kernigen Dialog ist Judith Hermann zu deutsch, aber ganz verzichten mag sie auch nicht, also kreiert sie einen manirierten Zwitter aus direkter und indirekter Rede, und die Fragen stets fragezeichenfrei (sic): Ich sagte, wie soll ich mich fühlen. ((…)) Wieso fragen Sie mich das. ((…)) Sie würde sagen, und. Wie gefällt dir das. Amazon-Werbelinks: Judith Hermann | Dörte Hansen | Daniela Krien Otis, Mimi,…
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Romankritik: Mittagsstunde, von Dörte Hansen (2018) – 7 Sterne – mit Video
Dörte Hansen hat tolles Material an der Hand: Echte Dörfler vom Alten platten Land, die prächtig Dialekt reden; interessante Details aus Landwirtschaft und Land-Wirtschaft; drei Generationen. Terroir ohne Ende. Sie verwebt ihre Motive vielfach, alles hängt mit allem zusammen. Was die Autorin nicht hat: Eine knackige Handlung. Und vorhandene Plotspuren versteckt Dörte Hansen noch aufwändig. Da entsteht (auf gut Deutsch) kein Flow, kein Narrativ, kein Storytelling, kein Suspense: Dörte Hansen zerhackt die Geschichte in mindestens zwei häufig wechselnde Zeitebenen (ca. 1960er, ca. 2010er Jahre) und viele Einschübe und Verallgemeinerungen. Jeder Bäcker oder Briefträger bekommt ein Kurzdossier, unentwegt pfeift der Wind, pladdert der Regen, wabert der Nebel, zetern die Krähen. Die…
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Romankritik. Das kann uns keiner nehmen, von Matthias Politycki (2020) – 7 Sterne
Zwei Männer-Männer stiefeln angeschlagen, doch breitbeinig durch Ostafrika und diesen Roman. Die Eier schleifen übern Boden, die Verdauung ruckelt. Herb müffelndes Mansplaining. Der Ich-Erzähler deutet früh allerlei Tragödien an, deren Enthüllung der brave Leser gewiss zum Roman-Ende erwarten darf. Schon der Klappentext raunt schwülstig*: Doch der Tod fährt in Afrika immer mit, und nur einer der beiden wird die Heimreise antreten. Weitere Andeutungen folgen (S. 140): „Er hatte nur noch einen ((Tag)). Doch das wußte er natürlich nicht“ nebst enigmatischen Verweisen auf Verflossene. Das ist ein verschwitztes Buddy-Movie. Frauen gibt’s in diesem Buch nur als himmlische Ex oder Haptik-affine Kellnerin. Matthias Politycki bei Amazon (Werbe-Link) Schwer erträglich ist das, und…
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Kritik Roman. Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen (2011) – 7 Sterne
Daniela Krien erzählt eine runde, klare Geschichte – Ort, Zeit und (ab dem dritten Kapitel) das Personal sind in sich geschlossen überschaubar. Das Buch endet, wiederum stimmig, mit einer abrundenden Vollbremsung. \᛫/\o/ Auf diesem Bauernhof in der thüringischen Provinz leben drei Generationen unter einem Dach, leicht gepatchworkt. Die Atmosphäre mit harter körperlicher Arbeit, großen Tischrunden und kurzen, intensiv genossenen Freiheiten schildert Daniela Krien knapp, aber eindrücklich. Interessant auch die Ossiperspektive im Wendejahr 1990, samt neuen Gerichten, neuen Berufen, Wessibesuch. Amazon-Werbelinks: Die Liebe im Ernstfall | Irgendwann werden wir uns alles erzählen | Der Brand \᛫/\o/ Die zu Beginn 16jährige Ich-Erzählerin gibt sich gern starken Männern hin, sie folgt ihnen „widerspruchslos“…
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Kritik Roman. Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall (2019) – 7 Sterne
Daniela Krien schreibt flüssig in betont einfachem, klarem Deutsch, das nie schwach klingt – stark. Sie verbindet die Leben und Buchabschnitte der fünf Protagonistinnen geschickt und reizvoll. Allerdings kommt die erste Protagonistin, Paula, gegen Ende abhanden, ein Mangel. Die Autorin liefert kaum Verallgemeinerungen, Reminiszenzen und Blabla, sondern jederzeit konkrete Handlung und Dialog. Dabei nicht nur Selbstmitleid in Prenzlberg, sondern detailreiche Einblicke in weniger Roman-übliche Gefilde wie Arztpraxis, Pferdehaltung, Möbelrestauration, Onlinedating, Schwesternbeziehungen, klassische Musik. Schwerpunkte sind freilich serielle Monogamie, serielles Beziehungsunglück, serielle Untreue, Kinderbetreuung und weibliche Psychosomatik = wenn Frauen zu sehr lieben. Ihr Ost-West-Wende-Thema aus früheren Büchern hält Krien im Zaum. Das leichte chronologische Zickzack produziert hier keine Cliffhanger,…
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Buchkritik: Arztroman, von Kristof Magnusson (2014) – 7 Sterne – mit Video
Auweia, vorher nicht gewusst: Der Roman stammt von einem Leipzigabsolventen, er zeigt also volle Leipzigsymptomatik: Schauplatz Berlin; hippes oder semihippes Berlinpersonal; wenig oder blasse Dialoge funkenfrei; blasses Personal und blasses Deutsch, in dem die Erzählstimme Sprödheiten sekretiert wie „Einrichtungsgegenstände“, „Kaffeevollautomat“, „nicht unnormale“, „High-End-Nippes“, „geradezu durchgeknallt beliebt“ oder „die ins Umland fahrenden Regionalexpresse“; unschöne Hilfsverb-Cluster (allein auf S. 63 oben 3x „war“ in drei aufeinanderfolgenden Zeilen, 2x „hatte“ in zwei aufeinanderfolgenden Zeilen; auf S. 208 2x „weil“ in einem 36-Wörter-Satz). (Dass nichtleipzigtrainierte Deutsche kraftvoller schreiben und erfinden, beweisen u.a. Dörte Hansen und Wolfgang Herrndorf.) Die blasse Sprache gleicht Magnusson gelegentlich durch flotte Ironie und viele schöne Details aus. Magnusson schreibt zwar…
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Romankritik: Rumplhanni, von Lena Christ (1916) – 8 Sterne – mit Video
Fazit: Die ersten drei Viertel spielen auf dem Dorf und bereiten Freude: Deftiges Bairisch, scharfzüngige Dialoge und schöne Beobachtungen, wenn „die Bauern ((…)), die Jungen und die Dienstigen“ interagieren, ganz zu schweigen von den Männern und den Frauen. Ich habe oft laut gelacht, wann gibt’s das schon. Das München-Viertel am Ende klingt ganz anders: Die Autorin beklagt wehleidig soziale Kluft und kalte Staatsmacht. Dieses Viertel wirkt angeklebt. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Erzählstimme: Etwas wunderte mich die Erzählperspektive: Als allwissende Erzählerin blickt Autorin Lena Christ mal in diesen, mal in jenen Kopf – nicht nur Hanni begleitet sie, Lena Christ…
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Buchkritik: Madam Bäuerin, von Lena Christ (1919) – 7 Sterne – mit Video
Fazit: Jungbauer Franz und „Stadtmamsell“ Rosalie wollen heiraten. Doch beide Mütter protestieren gegen eine Stadt-Land-Ehe; zudem ist Rosalie einem spröden Assessor versprochen. Aus diesem schlichten Konflikt zimmert Lena Christ (1881 – 1920) eine alpenländische Romkom, einen heiteren Intrigantenstadl mit vielen vergnüglichen Sprüchen in derbem Bairisch. Die Autorin trägt den Humor etwas breit und schenkelklopfend auf – nie peinlich, aber auch nicht so pointiert und sozial aufschlussreich wie in ihrer Rumplhanni. Gelacht habe ich allemal öfter, und das passiert nicht bei allen „lustig“ gemeinten Texten. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Schachern und Pokern um geldige Hochzeiter: Andere Qualitäten wahrt Lena Christ…
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Buchkritik: Mathias Bichler, von Lena Christ (1914) – 5 Sterne
Zwar ist man hier in vertrautem Lena-Christ-Land: auf dem oberbayerischen Dorf, mit all seinen Käuzen; und – bei Lena Christ – natürlich mit unehelichen und Pflegekindern. Doch die Geschichte spielt großteils schon um 1800, rund 100 Jahre früher als andere Christ-Bücher. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Die Irschnermutter: Und auch sonst tönt das Bichlerbuch anders als die andern: Nicht frech und flott, sondern mild märchenhaft und religiös – in den ersten Kapiteln wie ein Kinderbuch für Abergläubische. Da ertränkt die Irschnermutter drei Fledermäuse in Milch und lässt sich dann vom Blitz erschlagen. Seltsame Dinge passieren auch bei der Wallfahrt. Ein…
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Buchkritik: Altaich, von Ludwig Thoma (1918) – 7 Sterne
Die Geschichte kommt langsam in Fahrt, die Dörfler unter sich praktizieren zu viel (so Thoma) „ländliche Wohlhäbigkeit“. Doch sobald die ersten auswärtigen Sommerfrischler im hinterwäldlerischen Altaich aufschlagen, beginnt der interkulturelle Spaß. Da treffen großspurige Kleinbürger und ölige Galane auf verschnarchte Postwirte und gschaftlhuberige Dorfkrämer. Boy meets girl. Die Bayern werden wegen ihres Akzents nicht verstanden, die Berliner wegen ihres Sprechtempos. Thoma schildert das mit süffiger Ironie. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Figuren: Gelegentlich schweift Ludwig Thoma zu weit aus, flicht andere Geschichten in die Haupthandlung. So etwa zu Beginn der Stammbaum der Müllerfamilie des Martin Oßwald – bloß weil Sohn…
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Romankritik: Emil und die Detektive, von Erich Kästner (1929) – 7 Sterne – mit Video
Erich Kästner (1899 – 1974) zeigt den betont gutherzigen – heute sagt man: achtsamen –, aber auch pfiffig-ironischen Emil Tischbein und seine betont gutherzige, aber auch pfiffig-ironische Mutter. Immer wieder baut Kästner kleine, fast unauffällige Witze ein wie Die Mutter pfiff sich eins, vermutlich um ihre Sorgen zu ärgern… Die kleinen Cleverle-Einsprengsel unterhalten, kommen aber fast zu regelmäßig und zu penetrant geistreich. Immer wieder auch necken sich die Akteure mit mild frechen, liebgemeinten Rüffeln. Das formuliert Kästner teils zu deutlich aus, etwa hier: „Ihr verfluchten Kerle!“, knurrte der Wachtmeister. Doch das Knurren klang sehr gutmütig. Oder: Die Großmutter ((…)) gab ihm gleichzeitig einen Kuss auf die linke Backe und einen…
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Romankritik: Das Wetter vor 15 Jahren, von Wolf Haas (2006) – 8 Sterne
Zwei Kulturmenschen, der österreichische Romanautor „Wolf Haas“ und die deutsche Kritikerin „Literaturbeilage“, unterhalten sich in diesem Dialogroman gewitzt, aber realistisch umgangssprachlich über den Roman des Autors. Sie diskutieren den Romaninhalt, platzieren zwischendurch aber auch ein paar Seitenhiebe auf Christoph Ransmayr, den Zauberberg oder dies: Der Teufel der Plötzlichkeit. Das klingt wie ein Titel von Peter Handke. Dabei lernen wir die Sprecher kennen und den im Meta-Roman diskutierten Roman. So, wie sie den Inhalt auseinanderklamüsern, steigt die Spannung fast ins Fiebrige: Wann enthüllen sie das Ende? Und knistert da was zwischen den Diskutanten? Zur Halbzeit des Romans ist die erste große Frage geklärt – und Wolf Haas baut sogleich eine neue…
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Romankritik: Altes Land, von Dörte Hansen (2015) – 7 Sterne
Fazit: Der leicht lesbare Roman schnurrt zunächst gut dahin, bringt eigenwillige, aber nicht zu unrealistische Figuren, interessante Einblicke aus vielen Jahrzehnten sowie unterhaltsame Dialoge oder Einzeiler auf Plattdeutsch. Dörte Hansen wechselt jedoch regelmäßig zwischen zwei und mehr Zeitebenen, vor allem in den ersten zwei Buchfünfteln, so dass mir die Übersicht abhanden kam. Dörte Hansens Spott über Stadthipster und Landlust-Leser, die sich dem Salz der Erde anbiedern, klingt im Roman zu wohlfeil und zu ausführlich. Kapitel 14, Apfeldiplom, enthält gar auf zehn Seiten nur das Räsonnieren des Bauern Dirk zum Felde über die Zugereisten – ohne Handlungsfortschritt. Später kommt das Gegenkapitel mit viel Räsonnieren eines Zugereisten über die Ureinwohner. Der Gegensatz…
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Romankritik: Heile Welt, von Walter Kempowski (1998) – 7 Sterne
Walter Kempowski (1929 – 2007) liefert reizvolle, detailreiche Einblicke ins norddeutsche Dorfleben Anfang der 1960er Jahre – teils autobiografisch (auch wenn auf der Impressumseite „Alles frei erfunden!“ steht). Die Hauptfigur trifft als Junglehrer ein und lernt alle Bauern, ihre Beziehungen und Tics kennen, natürlich auch Bürgermeister, Krämer, Pfarrer und viele Kollegen und Oberlehrer. Schatten der Nazizeit reichen in die erzählte Jetztzeit. Amazon-Werbelinks: Dörte Hansen | Walter Kempowski | Ulrike Siegel Gemütliches Platt: Zwar schreibt Kempowski keine Dialoge, er liefert gleichwohl viel O-Ton in gemütlichem Plattdeutsch. Der Autor suhlt sich dabei in geäußerten Banalitäten und gut abgehangenen Sprüchen, die Behaglichkeit herstellen, wie „Das, was es an Ferien gibt, müßte die Schulzeit sein, da war man sich…
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Romankritik: Uns geht’s ja noch gold, von Walter Kempowski (1972) – 7 Sterne
Walter Kempowski (1929 – 2007) erzählt tagebuchartig von seiner Zeit als Jugendlicher ab Kriegsende 1945 in Rostock. Die Russen übernehmen die Stadt, Kempowski bekommt einen Job bei der Verwaltung, plündert und wird geplündert, muss sich mit russischen und US-Besatzern arrangieren, auf dem Schwarzmarkt jonglieren, übersteht eiskalte Winter ohne Heiz- oder Beißmaterial. Er haust mit Mutter und Großvater; Bruder und Vater sind zunächst unerreichbar irgendwo, die Schwester lebt mit ihrem dänischen Mann in Dänemark. Die Jahre 1938 bis 1945 hatte Kempowski bereits im Band Tadellöser & Wolff geschildert. Amazon-Werbelinks: Dörte Hansen | Walter Kempowski | Ulrike Siegel Kempowski schreibt seinen etablierten Montage-Collage-Mosaik-Stil voll zeittypischer Details und Ausdrücke, wenn auch deutlich weniger markant als im Vorherbuch Tadelloeser…
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Romankritik: Tadellöser & Wolff, von Walter Kempowski (1971) – 8 Sterne – mit Video
Walter Kempowski schreibt ein sehr sinnliches, eigenwilliges und altmodisches Deutsch, das jedoch stets kraftvoll und in der direkten Rede teils verspielt und/oder falsch tönt: „Entpörend… konfortabel… Immerhinque… vom Stamme Nimm… allerhandlei… Verstahne vous?… zu und zu schön“ Manche Sprüche erklingen wieder und wieder, wie altvertraute Möbelstücke. All die sprachliche Finesse bringt meine btb-Ausgabe 3. Auflage 1996 über lange Strecken ohne jeden Tippfehler, dann passiert’s aber doch: „mach Hause“ (sic) heißt’s auf S. 391, dort m.E. kein Sprachtic des Sprechers. Amazon-Werbelinks: Dörte Hansen | Walter Kempowski | Ulrike Siegel Walter Kempowski (1929 – 2007) archiviert neben sprachlichen Antiquitäten auch Sitten und Objekte der 1930er, 1940er Jahre, darunter Butterrosen, ans Jacket geklammerte Hüte und Lehrer mit Kasernenhofton.…
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Romankritik: Katz und Maus, von Günter Grass (1961) – 7 Sterne – mit 1 Video
Günter Grass schreibt teils enorm lange, unübersichtliche Sätze. Auf die Hauptfigur Mahlke bezieht er sich mal in der dritten, mal in der zweiten Person. Gelegentlich fand ich die Grammatik anfechtbar, auch einzelne Textstellen (so grübelt der Ich-Erzähler, ob Mahlke in der Oster- oder Westerzeile wohnte, doch der Ich-Erzähler wohnte selbst in der Westerzeile, besuchte das Mahlke-Haus in der Osterzeile, da müsste er die Lage kennen). Manchmal erzählt Grass die Hauptsache undeutlich, sie muss aus ihren Folgen oder Nebenaspekten erschlossen werden. Wegen dieses Springens zwischen „Du“ und „er“ und der unübersichtlichen Erzählweise dachte ich manchmal an verschachtelte kubistische Bilder. Wegen dieser Erzählweise konnte ich auch nicht allen Aspekten der Handlung folgen.…
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Romankritik: Justizpalast, von Petra Morsbach (2017) – 7 Sterne
Hauptfigur Thirza Zorniger arbeitet jahrzehntelang in der Münchener Justiz, überwiegend als Richterin. Aber Autorin Petra Morsbach (*1956) hospitierte in München und Münster, redete mit „etwa 50 Jurist*innen… aus fünf Bundesländern“ – und überfrachtet ihren Roman mit immer neuen Justizfällen. Die sind für sich interessant, erhellend und voll kniffliger Konflikte; in ihrer Massierung ermüden sie. Eine Anmoderation von Seite 124 der Penguin-TB-Ausgabe: Und weiterer richterlicher Alltag, Fälle über Fälle; drei Beispiele aus Hunderten. Oder Seite 200: Es folgten Beispiele auf Beispiele. Oder Seite 244: An diesem Vormittag waren drei Einzelrichterverhandlungen angesetzt, nachmittags eine Beweisaufnahme. Dem folgen dann jeweils mehrseitig die anmoderierten Fälle. Zeitweise schreibt Morsbach verbfrei wie oben im Telegrammstil, so…
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Romankritik: So, und jetzt kommst Du, von Arno Frank (2017) – 7 Sterne
Mehrfach habe ich laut gelacht, das passiert nicht oft, gefällt mir aber sehr. Weiterer Vorteil: Arno Frank garniert die angeblich „wahre Geschichte“ seiner Familie, die aber doch als Roman figuriert, mit vielen packenden Details – Süßigkeiten und Spielzeug der 1980er und 1990er Jahre, extralange Eisenoxid-Musikkassetten, zeitgenössische Fernsehsendungen und Sprüche, Ereignisse wie Space Shuttle und Tschernobyl (sogar die Bauhaus-Schrift für Buchtitel und Kapitelüberschriften erinnert an frühere Jahrzehnte und an circa CorelDraw 6). Zudem klingt die Story, die von Deutschland über Südfrankreich nach Portugal und zurück führt, einigermaßen spannend, selbst wenn die Hauptfiguren meist nur rumsitzen – in der Pfalz, in Golfe Juan, in Lissabon. Der Ich-Erzähler ist ein Teenager mit unschuldig…
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Romankritik: Tschick, von Wolfgang Herrndorf (2010) – 8 Sterne
Wolfgang Herrndorf (1965 – 2013) trifft den Ton eines 14jährigen Ich-Erzählers hervorragend. Er klingt erstaunlich realistisch, nicht aufgesetzt, einschließlich Selbstmitleid und Pubertätswehen. Die Sprache ist zurückgenommen gut, nie selbstwichtig oder weitschweifig, nie blass, nie auftrumpfend, aber auch nicht steril, im Bereich der angedeuteten Romanze am See vielleicht einen Tick schmalzig (auch wenn es betont schmalzfrei klingen soll). Garantiert frei von Einflüssen der Leipziger Romanschreiberzucht, auch frei von deutscher Comedy, und dazu gewürzt mit markanten, sehr realistischen Details und pfiffigen Gedanken. Werbelink zu Amazon: Wolfgang Herrndorf Coole Wortwechsel: Die trockenen Dialoge sitzen klasse – vielleicht ein wenig zu filmi, manchmal zu gelehrt (einschließlich der amüsanten Irrtümer), aber so lasse ich mich…
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Romankritik: Königsallee, von Hans Pleschinski (2013) – 7 Sterne – mit Links
Hans Pleschinski liefert intelligente Unterhaltung in vollmundig runder Sprache mit ein paar gelungenen Dialogen, hübschen 50er-Jahre-Reminiszenzen, Seitenblicken auf höchste Kulturträger sowie zahllosen versteckten und offenen Anspielungen auf Thomasmannsche Romane und deren Personal, u.a. mit einem Felix-Krull-Wiedergänger – gelegentlich überfrachtet. Die markige, knurrige Erzählstimme wie auch die muffig-gediegene Atmosphäre erinnerten mich momentweise an den frühen Thomas Mann, an Theodor Fontane, Arno Schmidt und Walter Kempowski. Einige Figuren lässt Pleschinski (*1959) verblüffend lange reden – zu lange, er packt Seitenhandlungen und Rückblenden in Dialoge mit monologischer Anmutung. Ein Zimmermädchen postuliert gegen Ende des vergrübelten siebten Kapitels allzu deutlich (S. 289): Immer nur Reden, Getue und Gegrübel hält man nicht lange…
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Romankritik: Ein Baum wächst übers Dach, von Isabella Nadolny (1959) – 7 Sterne
Isabella Nadolny schreibt mit milder Ironie und leicht impressionistisch: Die Jahre (etwa 1930 bis 1950) huschen so dahin, nie geht es richtig in die Tiefe, es gibt kaum Dialoge, nur Bonmots des stets gutgelaunten Bruders Leo. Auch keine tiefergehenden Portraits außerhalb ihrer Familie. Nadolny und ihre Familie leben schon lange in Deutschland; sie haben jedoch niederländische Pässe und teils russische Wurzeln; man sieht das oberbayerische Dorfleben – und Deutschland – und sich selbst – mit freundlich bis liebevoll distanziertem Spott. Der schreckt auch nicht ganz vor der eigenen Familie zurück, den engen Zusammenhalt schildert Nadolny sehr schön. Isabella Nadolny (1917 – 2004) schreibt klangvolles Deutsch ohne falsche Noten (anders als…
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Romankritik: Frau Jenny Treibel, von Theodor Fontane (1893) – 7 Sterne – mit Presse-Links & Übersicht
Die blasierte Kommerzienrätin Treibel, geb. Bürstenbinder, war einst eine Berliner Krämerstochter; doch sie heiratete in feine Fabrikantenkreise hinauf. Nun stellt die Neureiche ihren Sozialstolz durch viel Getue und Gerede heraus – Fontane zeigt sie und ihre Kreise deutlich spöttischer und satirischer als andere Figuren in seinen Gesellschaftsromanen. Dicke Satire: Die Satire trägt Theodor Fontane fast zu dick auf, auch in zahlreichen deftigen Bürgernachnamen wie Wulsten, Wedderkopp, Rindfleisch, Honig und Ziegenhals, die das Fontane-Personal mokant kommentiert; dann ein Agathon Knurzel; und ein Hannibal Kuh hat zwei Töchter, die als Kälber figurieren. Das Schaulaufen zwischen Bürgerlichen und Geldadel, das Fontane hier inszeniert, verlieren die Geldigen mit Verve. Im Vergleich zu anderen Romanen…
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Romankritik: Irrungen, Wirrungen, von Theodor Fontane (1887) – 7 Sterne
Fontane erzählt mit sicherer, gemütlicher Stimme von der Romanze zwischen der lieben Kleinbürgerin Lene und dem schneidigen, aber auch menschlichen Baron Botho – doch Lene weiß schon, dass Botho sie aus Standesgründen nicht an den Altar führen wird, und spricht das auch ganz offen an. Fontane stellt Kleinbürgermilieu wie auch militär-affine Adelskreise lebhaft, atmosphärisch und mild sympathisch dar. Er weidet sich am „berlinschen“ Dialekt der Kleinbürger; das selbstgefällig-bräsige Hochdeutsch der Militär- und Adelskreise bereitete mir zeitweise Unwohlsein, auch wenn es sicher gut getroffen ist. Auf Amazon: Theodor Fontane Theodor Fontane erzählt mit Dialog, ohne Verallgemeinerungen und chronologisch – Rückblenden gibt es höchstens innerhalb der wörtlichen Rede. So kann man der…
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Romankritik: Unterm Birnbaum, von Theodor Fontane (1885) – 7 Sterne – mit Fontane-Übersicht
Um 1832 in einem Dorf am Oderbruch: Die Eheleute Hradschek betreiben einen Kramladen nebst Gasthaus. Sie stecken in Geldschwierigkeiten – ein Mord soll die Probleme beiseiteschaffen. Erst nach der Bluttat beginnt der kleine Roman so richtig. Den Täter kennen wir. Die Frage bleibt, ob oder wie lange er seine Schuld vor dem Dorf verbirgt und was genau in der Mordnacht geschah – ein bisschen wie bei Patricia Highsmith. Theodor Fontane macht das einigermaßen spannend, die Eindrücke gehen hin und her, naheliegende Vermutungen bewahrheiten sich letztlich nicht. Die Dorfszene mit ihren Wichtigtuern und Hauptamtlichen wird sehr lebendig. Viele Dialoge erklingen in starkem Platt. Auf Amazon: Theodor Fontane Gelegentlich aber reden die…
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Theodor Fontane bei HansBlog.de
Handlung Milieus Goodreads.com** Amazon.de HansBlog.de 1880* L’Adultera Ehe unterschiedlicher Charaktere und Generationen ohne Liebe, Ehebruch Geschäftsleute in Berlin; etwas Berliner und Schweizer Mundart; eher kurz 3,18 (106 Stimmen) 3,6 (8) 7 1885 Unterm Birnbaum Leben eines Wirtsleute-Ehepaars, nachdem es einen Mord begangen hat; kein Liebesdrama Dorf im Oderbruch um 1831; viel Mundart; eher kurz 3,13 (327) 3,5 (52) 7 1886 Cécile Ehe unterschiedlicher Charaktere und Generationen ohne Liebe Oberst und andere Militärs, lange in einem Kurort, dann in Berlin 3,4 (85) 3,5 (13) 5 1887 Irrungen, Wirrungen Zukunftslose Beziehung über Standesgrenzen hinweg in Berlin, Ehe ohne Liebe; Kleinbürger und Adlige viel Mundart, Wechsel zwischen Kleinbürgern und adligen Militärs, Schauplatz Berlin…
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Romankritik: L’Adultera, von Theodor Fontane (1880) – 7 Sterne
Melanie van der Straaten, née de Caparoux, ist 26 Jahre jünger als ihr Ehemann Ezechiel, ein erfolgreicher Berliner Unternehmer. Der plaudert spöttisch bis zynisch daher und missachtet die Konventionen der gehobenen Schichten mitunter nonchalant. Dabei strahlt er auch noch eine gewisse Kälte aus. Und so interessiert sich Melanie mehr und mehr für einen jungen, gefühlvollen Hausgast. Auf Amazon: Theodor Fontane Die Annäherung beschreibt Theodor Fontane subtil. Er liefert aber zu aufdringliche Allegorien auf die Handlung – das Dahintreiben im Boot über das Ziel hinaus, oder gar ein Gemälde namens L’Adultera (Ehebrecherin), das sich der erst viel später gehörnte Gatte gleich zu Romanbeginn kommen lässt. Wichtige Momente schildert Fontane dann wieder…
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Rezension: Die Lieben meiner Mutter, von Peter Schneider (2013) – 7 Sterne – mit Video
Das Buch spielt im zweiten Weltkrieg und bis 1950: Peter Schneiders Mutter hatte vier Kinder, einen Mann und – nicht verheimlicht – nacheinander mehrere Geliebte, verheiratete Bekannte ihres Mannes. Sie verschwieg nichts, und an ihrem (seinerseits verheirateten) Hauptgeliebten arbeitete sich auch ihre beste Freundin ab, die auch nichts hinterm Berg hielt. Meist war Schneiders Mutter mit ihren Kindern allein, auf einer langen, dramatischen Flucht durch Deutschland ebenso wie jahrelang danach. Mit den Männern redete sie meist nur brieflich. Peter Schneider rekonstruiert das erwachsene Leben seiner Mutter aus diesen Schreiben, aus eigenen Erinnerungen und aus Gesprächen in Verwandtschaft, Nachbarschaft und bei einem Klassentreffen. Er schildert eine interessante Frau, die im Rausch…
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Romankritik: Frau Sartoris, von Elke Schmitter (2000) – 7 Sterne – mit Video
Elke Schmitter erzählt in diesem schmalen Band gleich drei Geschichten: vor allem ein Ehebruch, der immer wieder unterbrochen wird von Sätzen zu einem Kriminalfall, der sich erst später ereignet und mit dem Ehebruch kaum zu tun hat; das dritte Thema ist ein Teenager auf Abwegen und läuft schließlich mit einem der anderen Motive zusammen. Das ist von Seite 50 bis zur letzten Seite 158 einigermaßen spannend. Langweiler in der Provinz: Dabei beschreibt Schmitter aufdringlich langweilige Figuren in einem öden Provinzkaff: Die Ich-Erzählerin ist Bürokauffrau und lebt in einem Reihenhaus mit ihrem Sparkassen-Mann und Schwiegermutter Irmi. Mit Kegelclub, mittelständischer Industrie und Kohlrouladen lässt Schmitter kein Klischee der muffigen Nachkriegszeit aus, ohne…
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Rezension: Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie, von Thomas Mann (Roman 1901) – 8 Sterne – mit Video
Fazit: Sehr unterhaltsam, sinnlich, sprachlich brillant, fast immer spannend, gelegentlich zu satirisch. Hochtourig: Thomas Mann schreibt ein hochtouriges Deutsch voller Aperçus, Bling, Jokus und Augenzwinkern. Trotzdem, und das ist das Besondere, klingt er nie sehr selbstgefällig, der bei Veröffentlichung erst 25jährige delektiert sich nicht zu aufdringlich am eigenen Genius. Mann mischt Hochdeutsch, Platt, Französisch, Englisch, Oberbayrisch, ein wenig Latein, wählt oft ans Französische oder Englische angelehnte Schreibweisen („Coulissen“). Das Dativ-e gedeiht prächtig, und mir ist nie klargeworden, unter welchen Voraussetzungen Mann dann gelegentlich darauf verzichtet. Eigentümlich sein Komma vor „als“-Konstruktionen ohne Verb. Manns sinnliche, hochsuggestive Sprache transportiert häufig auch sinnliche Inhalte – die ausgedehnten, üppigen Mahle im ersten Buchdrittel, die…