Romankritik: Johannisnacht, von Uwe Timm (1996) – 7/10

Uwe Timm lötet im Roman Johannisnacht eine Reihe von Kurzgeschichten – oder Kurzbegegnungen – zusammen. Er verbindet diese Berliner Episoden unauffällig durch die Leitmotive Kartoffelrecherche und verlorenes Archivkästchen; drum hält man Johannisnacht fast für einen Roman.

In den meisten Szenen lässt sich der Ich-Erzähler mild betrügen und/oder mit Alkohol befüllen. Uwe Timm präsentiert originelle Käuze – Berliner Bestiarium – und hübsche Beobachtungen wie

Er zögerte, ich sah, er wollte höflich ablehnen ((…)), aber dann griff er doch zu, ein wenig zu schnell, ein wenig zu hastig, was er selbst bemerkte, denn er bremste die Bewegung im letzten Moment ab

Einschusslöcher und Friseurschnösel:

Uwe Timm (*1940) schreibt meist markantes Deutsch und kreiert einen überwiegend interessanten, selbstironischen Ich-Erzähler, der sich seines Alter-Weißer-Cis-Mann-mit-Cohiba-Seins nicht sonderlich schämt. Unter solchen Voraussetzungen lese ich sogar einen Berlin-Roman, denn qualitativ übertrifft Uwe Timm die Leipziger Literaturmechatroniker deutlich.

Berlin-Klischees begegnen dabei massiv: Hauswände mit Einschusslöchern, Ex-NVA-Schergen, Designerfriseurschnösel, verhüllter Reichstag, der Alte Fritz, arme Omis, Waffenhändler, wirre Penner, nichtkirchliche Grabredner, Rosa Luxemburg, studierte Telefonsexgewerblerinnen (eine Transe?), wilde Tanzclubs, Russen – fehlen nur Dackel, Dealer, Döner und SPD-Versager.

Einige dieser Figuren erscheinen in mehreren Episoden verteilt den Text, doch nicht alle Akteure tragen zur Handlung bei – so der experimentelle Komponist in der Pension des Ich-Erzählers: einer von mehreren kreativen Individualisten im Buch, die der Autor wohl einfach mal zu Papier bringen wollte.

Auch die Geschichte der Telefonsexlerin bleibt halb ungewiss. Was soll der russische Sänger mit Ziel Leipzig am Schluss. Und funktionierte die Rückbuchung der Telefongebühren? Das sind nicht mal alle Fragen, die Uwe Timm nach rund 230 Seiten nicht klärt.

Olive in den Mund:

Erotische Andeutungen klingen teils etwas verschwitzt, wenn auch meist selbstironisch oder womöglich gar als Genreparodie gedacht:

Sie nahm mit spitzen Fingern eine Olive und schob sie in den Mund.

Härter traf mich Timms unvermitteltes Koppel-s, etwa in

Hintergrundstöne ((S. 123 dtv-Ausgabe))… Decksstuhl ((S. 145))

Statt 1200 Mark nur 166:

Der Ich-Erzähler wirkt nicht realistisch: Einerseits ein Intellektueller, der nebenher Gramsci, Isherwood, Auden, Picasso und die russischen Konstruktivisten referenziert; zum anderen lässt er sich blöd von Kleinbetrügern ausnehmen:

  • Er kauft eine Lederjacke, “statt 1200 Mark nur 166”, und als die Joppe auseinanderfällt, gratuliert er sich noch zur “Genugtuung, ((…)) den netten italischen Schwindler so weit heruntergehandelt zu haben”
  • Er lässt sich von einem schmierigen Heimfriseur ohne Spiegel die Haare schneiden und gibt zu viel Trinkgeld – auch das geht schief. Statt gleich woanders nachschneiden zu lassen, kauft er sich zunächt eine Kappe – im Juni –, die weitere Missgeschicke generiert.
  • Er lässt sich gegen die eigene Vernunft mit Vodka, Karibiktraum und Jamaika-Bier abfüllen.

Aneinandergereiht wirken solche Szenen fast wie Slapstick, nur dass der Ich-Erzähler ansonsten nicht dick und doof ist. Und zudem fähig zur Selbsterkenntnis:

Idiot, sagte ich laut zu meinem Spiegelbild.

Freie Assoziation:

  • Uwe Timms Entdeckung der Currywurst hat auch einen Münchner, der zu Recherchen in die Großstadt reist; die Currywurst erscheint zudem zweimal auch in Johannisnacht (verdrängte sie den Döner?)
  • Einen “Onkel, der die Kartoffelsorten herausschmecken konnte”, gibt es auch in Uwe Timms Kurzgeschichte Das Abendessen in der Sammlung Nicht morgen, nicht gestern. In dem Band finden sich weitere Parallelen zur Johannisnacht.
  • Der Ich-Erzähler denkt einmal an D.H. Lawrence, genau wie die Figuren in der Kurzgeschichte Jakarta von Alice Munro
  • Uwe Timms Roman Rot handelt auch von Grabrednern und Berlin

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