Kritik Kurzgeschichten: Nicht morgen, nicht gestern, von Uwe Timm (1999) – 6,5/10

Fazit:

Uwe Timm (*1940) schreibt sechs Kurzgeschichten über oft interessante, mild ungewöhnliche Figuren. Er verzichtet meist auf Fantastisches, zu Unrealistisches oder wilde Zufälle. Seine Berichte scheinen aus dem Alltag deutscher Großstädte zu stammen.

Ebenso meidet Timm formale Experimente: Er formuliert klar, zweckdienlich, nie unangenehm, weder blass noch aufdringlich eloquent. Gelegentlich will er scheinbar mild schockieren, ein- oder zweimal dabei abstoßend.

Der Durchschnitt der Einzelwertungen ergibt 6,58 von 10. Gefühlter Gesamteindruck 7,1.

Wiederkehrende Motive:

Gutsituierte Frauen kotzen, weil sie etwas Abstoßendes hörten oder sahen; mildes Rebellieren gegen den Mainstream; Hauptfigur Fotografin, ohne dass von Berufsausübung viel zu hören ist; Hamburg; unwokes Lob verpönter Genüsse und Luxusdinge wie Rauchwaren oder Pelzmäntel; laute nächtliche Musik in Mietwohnungen; “Dreiangel” an zerrissener Kleidung; Trauminhalt; wenig beteiligter Ich-Erzähler.

Assoziation:

Die Geschichten im einzelnen:

Das Abendessen ᛫ 7/10

Zwei Paare essen zu Abend. Eine Beobachtung vertreibt die Frauen, während die Männer stoisch sitzenbleiben. Dann ein überraschendes Wiedersehen nach 20 Jahren.

Die Geschichte ist zeitweise spannend und prickelnd heikel. Uwe Timm streut überflüssige Anglizismen am Flughafen (“Gate”, “Kennedy-Airport”, Flugzeug-“Kabine”) und zu viele Edelklischees: die Altbauwohnung

mit sechs Zimmern in Eppendorf… die Stukkatur säuberlich ausgekratzt… Sessel… von Le Corbusier…

Renate dann fliegt Business und ist

tatsächlich makellos… die Zähne waren ebenmäßig… die spitzen Absätze der Pumps… der Minirock… den braungebrannten Oberarm… die kleine, zartweiße Brust…

Eppendorf = Luxus begegnet auch im Text Screen. Wie in Uwe Timms Roman Johannisnacht wird “lustvoll” geraucht und es gibt wieder einen “Onkel, der die Kartoffelsorten herausschmecken konnte”.

Nicht morgen, nicht gestern ᛫ 5,5

Deutsches Paar reist in Wales auf Spuren des Dichters Dylan Thomas. Whiskey und Zigaretten. Die Handlung dreht ins Dunkle.

Ich verzichte auf Dichter, die über dichtende Dichter dichten. Als Normalleser höre ich lieber vom Leben und nicht vom Gegenteil (dichtenden Dichtern). Hier ist es besonders verquält:

Er hätte sagen können: Ich habe mir mein Leben anders vorgestellt. Ganz anders. Ich will schreiben.

Sollen wir uns Uwe Timm als Dylan Thomas des Herzens vorstellen? Wie viele Dylan-Thomas-Anspielungen entgingen mir, ach?

Und doch hat Uwe Timm wieder diesen erwachsenen und selbstzweifelnden Ton, der mich anzieht, diese Konflikte zwischen erwachsenen, aber nicht drög bürgerlichen Menschen. Selbst wenn Ich-Erzählerinnen aus männlicher Feder mir nicht behagen.

Diese Geschichte scheint absichtsvoll verrätselt. Auf den ersten Seiten wusste ich noch nicht, ob die Ich-Erzählerin eine Frau ist oder ein homosexueller Partner des verquasten Möchtegerndichters im Mittelpunkt. Auch um welchen Dichter es geht, erkennen Nicht-Experten erst nach einigen Seiten  – Uwe Timm verrätselt gezielt, sorgt für Spannung oder Quiz-Atmosphäre.

In dieser Geschichte aus Wales fallen einige deutsche Ausdrücke, die man lieber auf Englisch hören würde: der Strand “Der Robben Lust” und

((sie)) nannte sich selbst einen rosa Pudding aus unentschlossenem Fleisch

Andererseits erklingt etwas Lyrik auf Englisch.

Assoziation:

  • Die zweite Hauptrolle spielt wieder eine Fotografin, wie in der Geschichte Das Abendessen (oben).
  • Ich dachte an die Landschaften aus dem Film Local Hero; ich weiss, dass der nicht in Wales spielt.
Screen ᛫ 5,5/10

24-jähriger IT-Profi erwacht morgens auf dem Boden und durchgrübelt eine Imkopfsuada: ältere vegane Loverin; zu laute Partys; Tauben abknallen; klemmendes Penisfutteral; Zivildienst; derb Vulgäres am Dönerstand. Er, wenig häuslich, hat ein Edelfahrrad und einen Mac. Die zweite Hälfte des relativ langen Texts überrascht mit Handlung: Besuch bei Computerkunden; ein kranker Kurde wird ins Krankenhaus geschmuggelt.

Kleine, teils interessante Notizen landen hier scheint’s im Reste-Eintopf nicht genutzter Motive. Eppendorf = Luxus begegnet auch in der Geschichte Das Abendessen. Ein Schauplatz und zwei Protagonisten kehren in der nächsten Geschichte Der Mantel wieder.

Der Mantel ᛫ 7/10

Gedankenstrom einer alten Frau, während sie mühsam die Treppen hochsteigt: Erinnerungen an die Arbeit als Pelznäherin, an das Warten auf den Verlobten in Kriegsgefangenschaft, Wundern über die seltsamen Blicke vorhin im Kaufhaus.

Uwe Timm schreibt einfühlsam mit guten Details (er hat Kürschner gelernt). Immer wieder stellt sich die Frau eine heikle Frage, die sie nach Erreichen der Wohnungstür – am Ende der Kurzgeschichte – klären will; das ist zu aufdringlich. Verwendet einige Kulissen und Figuren aus dem vorhergehenden Text Screen, aber Timm dreht Perspektive und Stimmung. Einen Tick zu sozialreportage.

Das Schließfach ᛫ 7,5/10

Komplexer, zunehmend verbissener Streit zwischen Reisenden und Bahnpersonal um Schließfachregeln, eingebettet in Rahmenhandlung und Rückblenden.

Amüsant abstrus, aber noch vorstellbar, die Hektik betont durch ein jederzeit gut lesbares Satzstakkato:

Steiner läuft die Treppen hoch, dritte Tür links, stürmt ins Zimmer. Herr Schwarz sitzt am Schreibtisch. Herr Schwarz faltet gerade das Butterbrotpapier zusammen. Herr Schwarz sagt: Normalerweise klopft man an.

Assoziation: Erinnerte mich vage an

Eine Wendegeschichte ᛫ 7/10

LKW-Fahrer transportiert zwei heiße Frauen aus Deutschland nach Polen und wieder zurück. Kann sich keinen rechten Reim auf den Auftrag machen. Die Geschichte – und damit das Buch – endet mit einem neckischen Cliffhanger.

Halbwegs spannende, lebendige Geschichte. Etwas umständlich, dass ein Ich-Erzähler, der mit der Handlung nichts zu tun hat, berichtet, was ihm der eigentliche Akteur berichtet (ähnlich wie in Das Schließfach). Aber so wirkt es mehr wie ein Gerücht oder Hörensagen.

Assoziation:

Unterschiede zu angelsächsischen Kurzgeschichtensammlungen:

  • Es gibt keine lebenden Kolumnentitel mit Name des Autors über der linken Seite und Titel der Geschichte rechts.
  • Es gibt online praktisch keine Kommentare oder Blogposts zu einzelnen Geschichten.
  • Es gibt keine Auflistung zu ursprünglichen Erscheinungsorten und Entstehungsjahren der einzelnen Geschichten.
  • Man ist nicht fasziniert oder charmiert wie bei den besseren Kurzgeschichten von sagen wir Alice Munro, W. Somerset Maugham oder Hemingway

Nur zur ersten Geschichte Das Abendessen  erscheint eine bibliografische Angabe, der Text stand offenbar schon in einem anderen Sammelband.

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