Kritik Kurzgeschichten: Die Liebe einer Frau, von Alice Munro (1998) –7/10

Alice Munro (*1931, Nobelpreis 2013) schreibt sehr realistische, plastische Erzählstimmen und Dialoge. Ihre Kurzgeschichten wirken undramatisch unaffektiert und dadurch realistischer. Im Mittelpunkt stehen junge Frauen.

Munro klingt minimalistisch präzis, ohne männliche Herbheit à la Raymond Carver oder teils Richard Yates. Jedes Wort sitzt.

Munros jüngere Frauen sind teils künstlerisch interessiert, im kanadischen Hinterland der 1950er und 1960er Jahre. Die Beschäftigungen der weiblichen Hauptfiguren erscheinen teils “incidental and almost playful”, wie es in Cortes Island heißt. Erzählt werden die Erlebnisse oft im Rückblick mit einigen Jahrzehnten Abstand, doch die neuere Zeit spielt kaum eine Rolle.

Wiederholt fokussiert Alice Munro hier auf gesunde oder todkranke Damenbrüste:

her breasts swung sideways… sloping down to her waist… her breasts shrunk to tiny pouches with dried-currant nipples… the malignant-looking little nipples… one bare breast sticking out, the tip of it disappearing into…

In mehreren Geschichten geht es auch um Bücher, Büchereien und konkrete Autoren. Kenntnis der von Munro genannten Werke vertieft sicherlich das Munro-Verständnis.

Veröffentlichung:

Die vier Geschichten im deutschen Band Die Liebe einer Frau bilden nur die erste Hälfte des engl. Originalbandes The Love of a Good Woman (1998). Die zweite Hälfte des englischen Originals – weitere vier Geschichten – erschien später auf Deutsch unter dem Titel Der Traum meiner Mutter.

Fünf der acht Geschichten aus dem englischen Original The Love of a Good Woman erschienen zuerst im New Yorker. Ich kenne nur die englischen Buchfassungen, gegenüber den Magazinversionen laut Munro-Vorwort stark bearbeitet.

Ausführlich und interessant besprochen werden die Geschichten einzeln in den englischen Blogs Mookse and Gripes und Slaphappylarry. Die Geschichte Einzig der Schnitter/engl. Save the Reaper habe ich nicht gelesen.

Assoziation:

Die Liebe einer Frau ᛫ engl. The Love of a Good Woman 1996 6/10

Im ersten Teil dieser 80-Seiten-Geschichte geht es um eine Leiche, die drei Elfjährige im Fluss finden. Teil 2 behandelt eine langsame Sterbende, zunächst scheinbar nicht verbunden mit Teil 1.  Der dritte Teil schildert ausführlich eine Gewalttat, springt zeitlich zurück und klärt einige der Fragen aus Teil 1 und 2. Teil 4 bringt mehr Gewalt, Gewissensfragen und widerliche Sexträume (“ugly dreams… most disgusting inventions”).

Sehr billig, die Spannung durch unchronologisches Erzählen hochzujazzen. Mit Gewalt, Verbrechen und Gewissen versucht sich Alice Munro an Patricia Highsmith, aber die kann das besser – auch wenn Munro bei allem Säuseln vielleicht stärker aufwühlt und gegen Ende genauso fesselt. Munros Untertitel in der Magazinversion lautete “A murder, a mystery, a romance”, das unterstreicht den etwas reißerischen Charakter der Geschichte.

Munro stöpselt hier mehrere Geschichten heterogen zusammen, die Jungs und ihre ausführlich geschilderten Familien aus Teil 1 kehren nicht wieder. Hauptfigur Enid ist zu engelgleich wohltätig, das sagt sogar ihre Umgebung in der Geschichte. Teil 1 klingt außerdem zu beschreibend, wenig Dialog. Gleichwohl sehr genaue Schilderung der Kleinstadtfamilien, sprachlich wie immer aufreizend unangreifbar.

Verblüffend: Ein einsames Stück Landschaft heißt bei den Örtlichen im Original “Jutland”, in der dt. Übersetzung “Skagerrak”. Den erstaunten Ausruf der Jungs, “son of a gun”, übersetzt Heidi Zerning treffend mit “Mannometer”.

Assoziation:

  • ein “dance in the Town Hall” erscheint auch in anderen Munro-Kurzgeschichten über die 50er Jahre
  • in Liebe einer Frau wie in Cortes Island geht es um Pflege einer gelähmten fremden Person in einer fremden Wohnung, um ungute sexuelle Träume und um zurückliegenden Tod in einsamer Wildnis, der ein Kriminalfall sein könnte
  • auch in Patricia Highsmiths Ediths Tagebuch pflegt eine gutherzige Frau zuhause einen Schwerkranken, und es gibt einen Todesfall mit dubiosen Umständen
  • keine intellektuellen Bücherratten wie in den nächsten beiden Geschichten
  • Dt Wiki mit Unterschieden zwischen Magazin- und Buchausgaben

Jakarta ᛫ 1998 ᛫ 7/10

Mehrere Ehepaare in Kanada (nicht in Indonesien), erst in den 1950er, dann in den 1990ern, dann wieder in den 50ern und schließlich noch mal in den 90ern, ausschließlich in Kanada.

Muss die Chronologie so schleudern? Ich hatte Schwierigkeiten beim Überblick, denn die Wechsel werden nicht anmoderiert, die Personen heißen teils wunderlich Sonje oder Cottar. Dazu kommen offene und versteckte literarische Anspielungen, u.a. auf D.H. Lawrence, Virginia Woolf und Katherine Mansfield (nur Autoren also, die bei HansBlog nicht Erscheinung treten). Wie immer makelloser Ton, exzellente Einzelszenen, insonderheit die Strandparty im 3. Teil.

Und darum habe ich das tatsächlich 2x gelesen.

Assoziation:

Cortes Island ᛫ 1998 ᛫ 7/10

Junges Ehepaar im Vancouver der 1950er Jahre bezieht erste eigene Wohnung. Er schafft an in der Fabrik, sie sandelt herum, schreibt. Die Hausbesitzer-Mutter im oberen Stockwerk wird immer aufdringlicher und anstrengender.

Nachvollziehbar linear erzählt, atmosphärisch. Einen wichtigen, aber unauffälligen Hinweis in der Geschichte habe ich überlesen, ich entdeckte ihn erst in den Rezensionen. Die Ich-Erzählerin berichtet ihre jungen Jahre offenbar aus dem Abstand einiger Jahrzehnte und macht gelegentlich dräuende, unklare Andeutungen über ihr späteres Schicksal, ohne dies zu substantiieren; ungut, das.

Assoziation:

  • Die Beschreibung der schäbigen Industriestadt und Kleine-Leute-Verhältnisse erinnerte mich sehr an Nachkriegsengland, auch eine Hastings Street gibt’s; als der Ortsname Vancouver fiel, musste ich um-assoziieren
  • in Liebe einer Frau wie in Cortes Island geht es um Pflege einer gelähmten fremden Person in einer fremden Wohnung, um ungute sexuelle Träume und um zurückliegenden Tod in einsamer Wildnis, der ein Kriminalfall sein könnte

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