Kritik Roman: Dolores Claiborne, von Stephen King (1992) – 6/10 – mit Video

Der buchlange Verhör-Monolog der 66jährigen Dolores Claiborne klingt gleichzeitig

  • zu vulgär und
  • zu geschriftstellert.

Zu geschriftstellert aus zwei Gründen: Hauptfigur Claiborne erzählt

  • zu ordentlich gegliedert und
  • mit zu cleveren Sprüchen.

Übersichtlich:

Im buchlangen Verhör/Monolog mit den Inselpolizisten führt Dolores Claiborne allzu aufdringlich unauffällig in Konstellationen und Tatvorwürfe ein, moderiert sogar ihre Gliederung an:

Instead of telling her front to back or back to front, I’m gonna start in the middle

Das ist doch nicht normal? Nach wenigen Seiten dieser wörtlichen Rede kennt man das Szenario und alle Beteiligten samt zweier Toter und Nebenfiguren – so übersichtlich wie unrealistisch, zumal Dolores Claiborne die Verhörpolizisten seit Jahrzehnten kennt, also nicht alles erklären müsste. (Ich las das engl. Original und kann die Eindeutschung nicht beurteilen.)

Auch sonst schwadroniert die Protagonistin sehr systematisch, kündigt zum Beispiel drei Unangenehmheiten ihrer Chefin Vera Donovan an:

She had three ways of bein a bitch ((sic))

und listet diese “three ways” schön der Reihe nach auf, moderiert jeden “way” noch einmal an. Auch später liefert sie in der wörtlichen Rede vor vor Einzelthemen eine Gliederung:

There were two other things she said on the way back – one with her mouth and one with her eyes.

So redet aber nur ein Schriftsteller, keine einfache Haushälterin. Normal verfertigt man die Gedanken erst allmählich beim Reden, nicht schön säuberlich vorab.

Aus der Bratpfanne ins Feuer:

Zudem spult Dolores Claiborne viele coole Sprüche ab – hübsch filmi originell, aber nicht realistisch wie die frustrierte, verwitwete Kaff-Haushälterin und Hilfspflegerin einer schwerkranken Unsympathin. So sagt Claiborne etwa

I have flopped out of the frying pan and into the fire…

Oder über ihre eventuell demente Chefin ((sic)):

she probably wa’ant completely vacant upstairs, not even at the end. A few rooms to rent, maybe, but not completely vacant… she was like a boat that’s come loose from its moorins, except the ocean she was adrift on was time

In Komödien freue ich mich über filmi flotte Dialoge, hier klingt es nach elaborierten Pirouetten eines eingebildeten Autors.

Kein Vergnügen:

Vulgär und abstoßend ist das Buch ebenfalls unter zwei Aspekten:

  • Die Ich-Erzählerin Dolores Claiborne redet gern vulgär Vierbuchstabiges (wie auch ihr Verfasser in seinen Tweets) und Slang.
  • Sie erzählt häufig von abstoßenden Menschen und Handlungen; Hauptakteure sind dabei sie, ihre Chefin und ihr Mann.

Dolores Claiborne sagt selbst eingangs:

I’m just an old woman with a foul temper and a fouler mouth

Muss sie das explizit betonen? Wir wissen es ab Seite 3 ohnehin.

“Of course” heißt bei Dolores Claiborne mal “coss”, mal “accourse”. Die ständig verschliffenen Wörter drohen mein Englisch noch weiter zu ruinieren. Ich persönlich mag Slang-Dialog und Pidgin-Dialog, aber nicht ein ganzes Buch durchgehend in falschem Englisch. Gleichwohl fand ich Roman-Englisch leicht, bis auf das Slangwort “gormy”, und er liest sich flüssig, betont offen gehaltene Fragen erzeugen Spannung.

Auf Seite 170 von 303 in der englischen Ausgabe sagt die Ich-Erzählerin zu den Polizisten:

I been talkin for damn near two hours

Ich hätte die Logorrhoe auf fünf Stunden geschätzt.

Nicht so subtil:

Die Hauptrollen im Buch spielen grobe Unsympathen: Dolores Claiborne, ihre Chefin, ihr Mann. Und sie bekämpfen sich wörtlich aufs Blut oder mit anderen Ausscheidungen. Stephen Kings Zumutungen:

  • Brutaler, hinterhältiger Ehekrach mit Holzprügeln, Saucieren und Äxten
  • Was sie ihrer Chefin vom Hintern wischen musste, und mitunter von den Teppichen, und wie die Bettpfanne gefüllt war, und zwar absichtlich, das erzählt Claiborne – oder sollte ich sagen Stephen King – genüsslich breit. Kein Spaß, dies während einer Mahlzeit zu lesen, außer bei Koprophilie
  • Kindesmissbrauch, Inzest, Impotenz
  • Nasebohren und am-Sack-kratzen en gros und en detail
  • antisemitische Beleidigungen (von ahnungslosen Kindern)
  • wieder und wieder aufdringlich angekündigter Mord
  • genüsslich breit ausgemalter Mord während – oh – Jahrhundert-Sonnenfinsternis, samt Leid und Seelenleid
  • Sülzalarm bei Träumen und Tagträumen von bemitleidenswerten Mädchen
  • aufdringliche Parallelen zwischen Hauptfigur und Chefin

Sicherlich verurteilt der Autor brav all das. Er schreibt es aber doch, um Leuten zu gefallen, denen so was gefällt, und es ist literarisches Mansplaining.

Persönliche Erklärung:

Stephen King gilt als Schreib-Großmeister und schreibt auch Schreiblehrbücher (dazu Amazon-Werbelink). Ich bin Schreib- und Buchmarkt-interessiert, aber auch Angsthase, lese also trotz theoretischen Respekts nicht Stephen Kings Gruselbücher. Aber der Roman Dolores Claiborne gilt als ungruselig, ist er ja auch (abgesehen vom Exkrementellen und ein bisschen Esoterik). Darum wählte ich diesen Roman aus.

Vulgarität, Brutalität und Herumreiten auf Exkrementen im Roman Dolores Claiborne missfielen mir. Kann man das dem Autor negativ anrechnen? Oder ist er trotzdem Weltklasse? Sie missfielen mir jedenfalls.

Noch schwerer wiegt für mich die unrealistische Ich-Erzählerin – halb grobschrotige Dörflerin, halb jedoch ein silberzüngigen Geschöpf à la T.C. Boyle oder John Irving – ein allzu flott und sophisticated formulierendes Groß-Schreibmeister-Konstrukt.

Wenn man denn von Groß-Schreibmeister reden kann.

Assoziation:

  • Die 1995er Verfilmung durch Taylor Hackford mit Kathy Bates und Jennifer Jason Leigh
  • Wohnen, Urlauben und Sterben an einsamer, kalter Nordamerika-Küste: Das gibt’s hier bei Stephen King am US-Atlantik und bei Alice Munro am kanadischen Pazifik
  • Kleine Leute in entlegenen, kalten Käffern, das klingt nach Raymond Carver
  • Der Ehekrach mit Holzprügel, Sauciere und Axt klingt momentweise nach Wer hat Angst vor Virginia Woolfe und nach August Strindberg
  • Ein ausgedienter Brunnen figuriert auch in Theodor Storms Der Doppelgänger
  • Todesfälle in der Kleinstadt, die Mord sein könnten oder auch nicht, und nur den kleineren Teil der Geschichte einnehmen – das könnte auch Patricia Highsmith erzählt haben, allerdings ruhiger und weniger überhöht als Stephen King
  • Amazon-Werbelinks: Buch Dolores Claiborne | Film Dolores Claiborne | Stephen King allg. |

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