Kritik: Theodor Storms Novellen (1861 – 1888) – 7/10 Sterne

1861 – Veronica – 6/10

Junge, schöne Ehefrau gewährt jungem Galan außerehelichen Kuss unter rauschendem Mühlrad – und das als Katholikin, vor dem Osterfest. Der Beichtstuhl wartet, gefühlt sogar das Schafott.

Für Stormverhältnisse sehr schmalzig, pompös und anzüglich, dazu aufdringlich religionskritisch. In der Länge eine Kurzgeschichte, aber weil’s Storm ist, eine kurze Novelle.

Assoziation:

1861 – Drüben am Markt – 7/10

Junger Kleinstadtarzt schlichter Herkunft möchte die edle Bürgermeistertochter freien. Sein patrizischer Freund, der Justizrat in spe mit türkischen Morgenmänteln und indischem Schnupftuch, soll helfen.

Rund, heiter, einen Tick nüchterner als andere Geschichten, wie immer wohlkomponiert. Ungewöhnlich der abrupte Einstieg ohne allgemeine Schilderung, so beginnt der erste Satz:

Schon wieder stand der kleine Herr im blauen Frack…

Teils auch sehr schlichte, fast primitive Sprache:

das vorhin ausgeschlagene Buch zugemacht und an seinen Platz getan

1862 – Auf der Universität (Lenore) – 7/10

Sie ist jung. Sie ist arm. Sie ist schön, fremdländisch schön, “als wenn sie aus dem Morgenland gekommen wäre”. Und sie heißt, kein Scherz jetzt, Lenore Beauregard. Die exotische Näherin scheint sogleich todgeweiht.

Theodor Storms (1817 – 1888) Novelle fließt gleichmäßig und wohlkomponiert dahin. Unheilschwangere Andeutungen und allzu große Zufälle verkneift sich der Autor.

Der Autor überbetont unbehaglich die Fremdartigkeit seiner Hauptfigur, nur weil ihr Vater Franzose ist. Gegen Ende kippt die Novelle ins Melodramatische, dazu Wetterleuchten, pittoreske Tränen und triefendes Dativ-e. Gleichwohl ein gediegenes, befriedigendes Leseerlebnis.

Assoziation:

  • Zusammen mit Storms Hans und Heinz Kirch (s.u.) zeigt diese Novelle am besten bürgerliches Sozialleben und nicht nur Einzelschicksale; der Schimmelreiter hat auch noch ein paar Elemente davon.
  • Das Ende der Storm-Novelle Der Schimmelreiter (s.u.)
  • Fremdländische(re) Schönheit wühlt auch ein Dorf in Ludwig Thomas Geschichtensammlung Tante Frieda auf, dort “aus dem Land der Braminen” (sic)
  • Atmosphäre, Terroir, Alterskohorten und die Betonung des Fremdländischen erinnern mild an Tonio Kröger von Theodor-Storm-Verehrer Thomas Mann; laut DDR-Germanist Fritz Böttger wurde die “Tanzstundenszene” bei Tonio Kröger von Storms Auf der Universität inspiriert
  • Thomas Mann liebte auch Theodor Fontane, und der liebte die Novelle Auf der Universität “bedingungslos”, schrieb er jedenfalls an Storm (Quelle)

1867 – Eine Malerarbeit – 6/10

Buckliger Bildermaler liebt resches Mädel, wird aber wegen seiner Affengliedrigkeit verschmäht: Sie scheuen, sagt er selbst,

“dies Gemengsel von Gliedmaßen, vor dem die Mädel sich graueln wie vor einer Kreuzspinne”.

Die Geschichte hat eine hauchdünne Rahmenhandlung, die nichts beiträgt – warum? Zumal aus der Binnenhandlung noch zwei Binnen-Binnenhandlungen entspringen. Und die Novelle klingt etwas zu gefällig moralisch, behaglich und lehrreich.

1874 – Viola tricolor – 5/10

Witwer heiratet und schwängert junges Ding, behält jedoch Gedenkwand für seine Verstorbene (“wie in einer Kapelle”). Sehr einfühlsam. Kein Sozialdrama, sondern ein intimes, elegisches Kammerspiel komplett in plüschigem Anwesen, zu schmalzig, wenn auch womöglich an Storms eigenes Leben angelehnt.

1874 – Pole Poppenspäler – 6,5/10

Flüssig erzählt, teils spannend, wegen oder trotz zweier Zeit- oder Perspektivsprünge. Jedoch überwiegend aus Kindersicht und scheinbar für ein jugendliches Publikum, auch wegen des freundlich-aufmunternden Tons.

An spielentscheidender Stelle verwendet Theodor Storm zudem einen unglaublichen Zufall, der die Geschichte etwas entwertet. Zudem “Schicksalsnovelle” um Einzelpersonen, wenig Soziologie, selbst wenn einige Figuren als zugereiste Außenseiter erscheinen.

Ungewöhnlich: Neben Plattdeutsch bringt Storm auch Bairisch (“den Bubn”) und kurz Sächsisch (“vor ä Weilchen”).

Assoziation:

  • Auch Alice Munros Kurzgeschichte Nesseln lebt von einem ähnlichen, unglaublichen Zufall und verwendet Zeitsprünge.
  • Rahmenhandlung wie in vielen Storm-Novellen
  • Grundbraves Eheweib wuchs in unsicheren Verhältnissen auf, wie in Storms Doppelgänger-Novelle

Wiederkehrendes in Storms Novellen:

  • Theodor Storm schreibt altert(h)ümliches, aber auch gediegenes und sehr komfortables Deutsch, trotz aller Patina meist nicht zu übel tümelnd, wenn auch sehr Dativ-e-schwanger:

bei dem Priele nun mit seinem sanften Profile… mit einer eigens dazu komponierten Trauermusike…

Dazu vereinzelt schauerliches Koppel-s wie in “Branntweinsnasen” (sic).

  • Andererseits bringt Storm gelegentlich deftiges Plattdeutsch, in Pole Poppenspäler auch Bairisch und Sächsisch; auch Papageien sagen “Komm röwer!”
  • Die Geschichten sind gut konstruiert, verzichten oft auf haarsträubende Zufälle oder Unplausibles. Allerdings enthält der Schimmelreiter Fantastik und Pole Poppenspäler einen unglaublichen Zufall
  • Wiederholt abrupte Zeitsprünge teils über Dekaden, die jedoch nie verwirren, sie sind gut eingearbeitet:

Seitdem waren 15 Jahre hingegangen… Allmählich waren drei Jahre… Wochen, Monate waren vergangen… Es war um zwölf Jahre später… Seit Julianens Tode waren über zwanzig Jahre vergangen…

  • Rahmenhandlungen, manchmal sehr kurz, deren erzählerischer Sinn mir nicht immer klar ist – sie wirken wie ein illustrierter Buchumschlag, als angeheftete Verhübschung
  • Unhappy endings, teils in Verbindung mit Naturkatastrophen-Dramatik wie im Schimmelreiter oder in Carsten Curator; auch schmalzige happy endings; jedenfalls immer ein runder Abschluss, kein unfertiges Auströpfeln
  • Konflikte oder Beziehungen zwischen benachbarten oder gegenüberliegenden Häusern, s.a. die Storytitel Drüben am Markt und Im Nachbarhause links, aber nicht nur dort
  • Mehrfach stehen Vater und Sohn als Familienbetrieb im Mittelpunkt oder spielen zumindest eine Nebenrolle; Erbstreit
  • Konflikte und Beziehungen zwischen aneinander angrenzenden oder gegenüberliegenden Häusern, schon erkennbar an Storytiteln wie Drüben am Markt oder Im Nachbarhause links
  • In mehreren Stücken erhalten Frauen ungut verniedlichende Diminutive (“ihr hübsches Köpfchen”; “mit leicht gepudertem Köpfchen”; “ihre kleine Hand”) (in Der Doppelgänger redet Storm auch bei einer Dreijährigen von “ihrem hübschen Köpfchen”); in einigen Novellen sind die begehrten Frauen junge, arme Außenseiterinnen und halb geächtet, in anderen kommen nachmalig brave Ehefrauen aus prekären oder weniger achtbaren Verhältnissen; nur bei Bürgermeistertochter Sophie aus Drüben am Markt redet Storm von “klugen Augen”
  • Häufiger das Wechselspiel von Mondlicht und Wolken, etwas zu aufdringlich. Trägt sicher zu Storms “Edelkitsch”-Image bei (DLF)

Assoziationen zu Storm allgemein:

1875 – Carsten Curator – 6,5/10

Gediegener Gemeindebürger einer Küstenstadt hat eine ganz andere Frau und später erwachsenen Problemsohn.

Interessante WG im Haus des Gemeindebürgers “Carsten Curator” und wie er versucht, seinen Problemsohn zu stützen. Doch während andere Storm-Novellen in sich rund und sehr überlegt wirken, sehe ich hier Schwächen: Mehrfach klingen Themenübergänge missverständlich, und manche Reminiszenzen ziehen sich zu lang. Storm erwähnt Briefe oder Stimmen, ohne den Inhalt zu verraten – ein billiger Trick.

Der Gegensatz Gut und Böse, zwischen langweiliger Solidität und leichtfertiger Unzuverlässigkeit klingt zudem arg konstruiert. Dass der Problemsohn zum Lotterknaben aufwächst, scheint bei diesem grundbürgerlichen Haushalt nicht ganz erwartbar, trotz der mütterlichen Gene. Anlagen sind Storm offenbar wichtiger als Umwelt.

Storm wird auch zu schmalzig, im Haupthaus mit seinem Frauenüberschuss heißt es öfter mal:

Sie war aufgesprungen, und seine beiden Hände ergreifend, war sie vor ihm hingekniet; ihr junges Antlitz, das sie jetzt zu ihm erhob, war ganz von Tränen überströmt.

Storm erfindet zudem den überaus unsympathischen Herrn Jaspers mit seiner “Fuchsperücke” – gut geschrieben, aber dieser nervende Giftzwerg verursachte mir körperliche Pein, mehr Leidmotiv als Leitmotiv. Wer weiß, wer sich damals in Herrn Jaspers beleidigt wiedererkannte?

Assoziation:

  • Das Ende erinnert an des Schimmelreiters
  • Der aufdringlich fiese Makler Jaspers erinnert an den fiesen Advokaten Siebert Sönksen aus Die Söhne des Senators

1875 – Im Nachbarhause links – 6/10

Gediegener Gemeindebürger wird Treuhänder für mysteriöse Greisin von nebenan. Nicht viel passiert, außer einem Zufall, den allerlei Zaunpfähle schon ankündigen.

Etwas interessante Stadtteil-Soziologie, doch ansonsten belanglose Geschichte gediegen und einschmeichelnd erzählt. Etwas ungemütlich die harte Unterscheidung zwischen frischem jungem Gemüse und der verwelkten Greisin. Und geich mehrfach sagt der Ich-Erzähler sehr unfeministisch “ich und meine Frau”. Dass die kauzige Botilla Jansen keinen südländischen, sondern einen nordischen Vornamen hat, musste ich auch erst recherchieren.

Assoziation:

  • “auf ihrer Außendiele hing ein Ungeheuer, ein ausgestopfter Hai”, das erinnert an die arme Effi Briest
  • einzelne thematische Parallelen zu Storms Carsten Curator und Draußen im Heidedorf
  • ein direkt angrenzendes Haus ist auch wichtig in Die Söhne des Senators

1880 – Die Söhne des Senators – 7/10

Die zwei erwachsenen Brüder grüßen sich täglich über “die niedrige Mauer” zwischen ihren Grundstücken. Doch ein Rechtsstreit um das Erbe kommt auf, ein Nachbarschaftsstreit hinzu, ein fieser Advokat schaltet sich ein.

Die Geschichte beginnt zu langsam mit vier rein beschreibenden Seiten ohne Dialog, fast ohne Returntaste, dafür mit überflüssiger Rückblende. Danach interessanter Familienkonflikt mit etwas Soziologie, zuletzt mehr und mehr satirisch. Winkeladvokat Siebert Sönksen und Hausdienerin Antje Möllern erscheinen übertrieben fies. Ich habe trotzdem zweimal laut gelacht, und das bei Untergangsprediger Storm. Die Geschichte ist fast schon spannend, zumal man sich fragt, ob sie versöhnlich oder mit handelsüblicher Stormkatastrophe endet. Sie rundet sich wie immer sehr gepflegt.

Assoziationen:

  • Der fiese Advokat Siebert Sönksen erinnert an den fiesen Makler Jaspers aus Carsten Curator
  • Das Szenario erinnert phasenweise an Hans und Heinz Kirch
  • ein unmittelbar angrenzendes Haus ist auch wichtig in Im Nachbarhause links

1882 – Ein Doppelgänger – 6,5/10

Gar brave Oberförstergattin hatte eine harte Kindheit im Prekariat.

Die Rahmenhandlung zieht sich so, dass man fast keine Binnenhandlung mehr erwartet. Für Storm teils äußerst melodramatisch:

…fielen Mann und Weib sich in die Arme und preẞten und küßten sich, als ob sie so sich tödten wollten.,,O Hanna, sterben!” rief einmal der wilde Mann;,,nun mit Dir sterben!” und aus den rothen Lippen des Weibes stieg ein Seufzer, sie warf ihre trunkenen Augen auf den erregten Mann und zog das Mieder, das er vorhin über ihrer weißen Brust zerrissen hatte, noch weiter von der Schulter…Ja. John”. rief sie…

Auch das arme Kindlein schildert Storm allzu herzzereißend.

Die Binnenhandlung ist eindeutig Erfindung – und nicht nacherzähltes Hörensagen – des anonymen Ich-Erzählers. Darauf weist der Freund des Ich-Erzählers hin:

Das ist aber Poesie.

Der Novellentitel erschließt sich etwas schwer und gefällt mir nicht, der ausführliche Wiki-Eintrag zur Novelle diskutiert ihn an mehreren Stellen.

Davon ab, eine sehr gediegene und wohlgerundete Mär, jedoch komplett Einzelschicksal ohne viel Soziologie.

Assoziation:

  • Alleinstehendes Hutzelweib findet Unterschlupf bei junger Familie, das gibt’s auch im Schimmelreiter
  • Nachmalig braves Eheweib entstammt unsicheren, mild zweifelhaften Verhältnissen, wie die ehemalige Schaustellerin in Pole Poppenspäler
  • Ein ausgedienter Brunnen figuriert auch in Stephen Kings Dolores Claiborne

1883 – Hans und Heinz Kirch – 7/10

Die Geschichte um Vater und Sohn einer aufstrebenden Handelsfamilie am Meer hat mehr Politik und Soziales als Liebe, läuft auf den ersten sieben Achteln relativ realistisch und gut konstruiert ab. Sie ist mild spannend. Das letzte Achtel klingt verstört mit seiner Melodramatik und ruiniert den bisherigen, guten Eindruck.

Sprachlich besonders plüschig, aber nicht bräsig:

mit aller Würde pfarramtlicher Überlegenheit… mit Hans Adam war jetzt kein leichter Hausverkehr… Unterweilen… Schelmwagstück… Tochtermann ((Schwiegersohn))…

Ein paar Bibelanspielungen in den Dialogen sind schön geschriftstellert, aber wohl zu clever für die Akteure.

Assoziation:

  • Zusammen mit Auf der Universität zeigt diese Novelle am besten bürgerliches Sozialleben und nicht nur Einzelschicksale; der Schimmelreiter hat auch ein paar Elemente davon.
  • Das Szenario erinnert phasenweise an Storms Die Söhne des Senators
  • Die Handels- und Hafenstadt an der Ostsee erinnert an die Buddenbrooks
  • Die himmelschreiende Melodramatik gegen Ende erinnerte mich an Robert Louis Stevenson und an Shakespeare-Tragödien

1888 – Der Schimmelreiter  – 7/10

Weniger Sozial- als Individual- und Geisterdrama, mit mild fantastischen Elementen abgehoben von Storms früheren, strikter realistischen Stücken. Aufdringlich auch allerlei Getier: der abgemurkste Kater, die zahme Möwe, der glühende Schimmel, das kleine Zamperl, das bei lebendigem Leib…

Dabei spannend und nicht ohne Einblicke ins Sozialleben am Deich, aber weniger griffig als realistische Stücke der mittleren Stormphase, auch wegen der Konstruktion mit Rahmen-im-Rahmenhandlung, auf die ich verzichten könnte. Das Ende weitaus zu dramatisch. In sich jedoch sehr rund konstruiert.

Theodor Storm textet in dieser Novelle besonders pompös und umständlich:

von treibendem Wolkendunkel überzogen… von tiefer Dämmerung überwallt… meine verklommenen Hände…

Dies konterkariert er wiederholt mit kräftigem Plattdeutsch.

Meine DDR-Ausgabe bringt zu dieser Novelle ein Glossar “für binnenländische Leser”, es erklärt Begriffe wie “Schlick”, “Marsch”, “Geest” oder “Haf”. Nur “Deichgraf” und “Klei” stehen nicht drin und werden evtl. auch nicht in der Novelle erklärt.

Normal lese ich keine fantastischen oder “magisch realistischen” Geschichten; Schlickgespenster interessieren mich nicht; und diese Geschichte hier hat, wie die Protagonisten selbst sagen, viel “Altweiterglaube”; ich scheue auch raunendes Deutsch, wie es Storm hier fingerdick aufstreicht.

Trotzdem zog er mich in den Bann. Einige wunderliche Erscheinungen kann man gutmütig auch psychologisch deuten; andere sind reines, unerwünschtes Hirngespinst.

Ebensowenig interessieren mich Geschichten mit spielentscheidender Religiosität. Hier indes eifern einige Akteure:

Wer aber Gottes Allmacht widerstreitet, wer da sagt…

und trotzdem las ich weiter.

Assoziation:

Hier übergangene Novellen u.a.:

  • 1849 – Immensee
  • 1859 – Auf dem Staatshof (Wiki)
  • 1862 – Unter dem Tannenbaum
  • 1862 – Im Schloß
  • 1867 – In St. Jürgen
  • 1872 – Draußen im Heidedorf
  • 1875 – Ein stiller Musikant (abgebrochen)
  • 1875 – Psyche
  • 1876 – Aquis submersus
  • 1876 – Von Kindern und Katzen und wie sie die Nine begruben
  • 1879 – Im Brauerhause

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