Kritik Indien-Roman: Ghachar Ghochar, von Vivek Shanbhag (2013) – 7/10 Sterne

Vivek Shanbagh (*1962) liefert interessante Einblicke in indisches Alltagsleben heute, ingesamt stimmig erzählt.

Eine Zwei-Generationen-Familie scheint vor dem Abgrund zu stehen, als der Familienvater und Ernährer den Job verliert. Doch sein jüngerer Bruder hat eine erfolgreiche Geschäftsidee, und kurzum bewohnt die Familie sogar ein besseres Haus in einem teuren Viertel. Die Beziehungen zwischen den Akteuren ändern sich.

Vivek Shanbaghs Ich-Erzähler klingt ruhig bis souverän, man folgt ihm gern. Er bringt interessante Alltagsdetails etwa über Dampfdruckkocher oder arrangierte Ehen.

Der Ich-Erzähler berichtet im Rückblick, mit Zeitsprüngen und vielen Verallgemeinerungen. Darum gibt es nicht viele Dialoge; die wenigen Wortwechsel klingen jedoch reizvoll, oft spannungsreich bis zänkisch. Kellner Vincent tönt fast wie das Orakel von Delphi.

Schwächen:

  • Der Aufstieg der Familie kommt allzu glatt – warum gibt es scheinbar keine Konkurrenz bei dieser banalen Geschäftsidee? (Die Familiendynamik zuhause schildert Shanbagh viel plausibler als den geschäftlichen Aufstieg.)
  • Den atmosphärischen Wandel durch die neue Geldigkeit beschreibt Vivek Shanbag zu plakativ, teils nicht durch Handlung, sondern durch Zusammenfassung und banale Redensarten (“the sword of insult seldom cuts on the surface”).
  • Angeblich blamiert sich der Familienvater regelmäßig mit unlustigen Witzen, doch dafür bringt der Erzähler kein einziges Beispiel, er sagt es nur verallgemeinernd und sehr abrupt zur Buchmitte (“he attempts compulsively to say something funny all the time”).

Nach Ghachar Ghochar wurde Vivek Shanbagh eine große Zukunft auf dem internationalen Buchmarkt vorhergesagt, zumal er in Indien schon allerlei veröffentlicht hatte – doch bis September 2022 erschien von ihm nichts mehr auf Englisch.

Eine Übersetzung der Übersetzung (Kannada – Englisch – Deutsch):

  1. Vivek Shanbagh veröffentlichte den Roman Ghachar Ghochar 2013 in der südindischen Sprache Kannada.
  2. Die englische Übersetzung durch den indischen Journalisten Srinath Perur erschien 2015 auszugsweise in Granta, 2017 komplett als Buch.
  3. Erst diese englische Übersetzung übersetzte Daniel Schreiber ins Deutsche.

Die deutsche Fassung ist demnach die Übersetzung einer Übersetzung, und ich bin schon bei Übersetzungen aus dem Original sehr misstrauisch.

Ich habe also die englische Fassung gelesen. Übersetzer Srinath Perur, dessen eigene Reportagen sich online finden, produziert in Ghachar Ghochar ein stimmiges Englisch; kaum ein Wort klingt falsch oder unrund, es passt zum Ich-Erzähler. Anders als bei vielen Eindeutschungen denkt man nie an eine lieblose oder gar falsche Übersetzung.

Der Autor und sein Übersetzer:

Über die ungewöhnlich enge Zusammenarbeit zwischen Autor und Übersetzer sagt Autor Vivek Shanbagh:

I knew him ((Übersetzer Perur)) for seven or eight years… His sensibility is close to mine… Most of the discussions we have had are not about the meaning of sentence or phrase but more about what has gone into making this work, what was my intention, why I have used a word again and again…. It took time, it took three to four revisions.

Wieviel bei der englischen Fassung trotzdem “lost in translation” geht, weiß ich nicht – mutmaßlich weniger als bei üblichen, schlechtbezahlten Schnellfeuerübersetzungen. Natürlich habe ich auch eine Leseprobe der deutschen Fassung geöffnet.

Für die Kannada-Englisch-Übertragung ist Perur sicher ideal, er schreibt:

I’d grown up in Bangalore, speaking one dialect of Kannada at home, an­other outside, and neither at school, where we were fined for speaking anything other than English. But my first language at school was Hindi. The rhymes I learnt, the books I read as a child were in English, usually set in the UK, sometimes in the US

In einer eigenen Reisereportage portraitiert Übersetzer Srinath Perur einen jüngeren Inder, der verblüffend dem Ich-Erzähler aus Ghachar Ghochar ähnelt. Reporter Perur über diese Figur:

nominally being in charge of one of the family’s factories and receiving a generous income for what he admits are very light duties

Diese Reportage ist ansonsten zu wortreich und kleinteilig – Vorwürfe, die man Vivek Shanbagh und der Übersetzung durch Srinath Perur nicht machen kann.

Anpassung an den internationalen Markt:

Shanbaghs Nachwort zum englischen Ghachar Ghochar verstehe ich so, dass US-Lektoren die englische Fassung mit formten. Man wüsste gern, wie sich englische und Kannada-Fassung unterscheiden.In einem Artikel aus Indien heißt es zur Kannada-Englisch-Umsetzung:

While the translation follows the exact structure of the original, they relocated a single para ((sic))

Dies bezieht sich vermutlich auf die englische Fassung für den indischen Markt, und die englische Fassung für den Weltmarkt könnte sich davon unterscheiden.

Ein- oder zweimal dachte ich, hier schreibt Shanbagh seinen Roman etwas zu deutlich erklärend für nicht-indische Leser, etwa hier:

What I’m saying might be incomprehensible to couples who have spent time together before marriage…

Andererseits bleiben weniger wichtige Ausdrücke oft unerklärt.

Interessant auch: Ich habe schon viele indische Autoren gelesen, aber sie schrieben stets gleich auf Englisch. Mit Ghachar Ghochar lese ich vielleicht erstmals eine Übersetzung aus einer indischen Regionalsprache – und dann nicht aus dem Hindi, sondern aus dem südindischen Kannada. Das ist mir gerade recht.

Freie Assoziation:

  • Wegen der detailliert geschilderten urban-häuslichen Situation Salman Rushdies südindische Kurzgeschichte In the South
  • Ansatzweise die indischen Geschichten von Aravind Adiga, nicht zuletzt Der weiße Tiger; das spielt zum Teil in Bangalore, dem einzigen Schauplatz von Ghachar Ghochar (Vivek Shanbagh zeigt wenig Lokalkolorit, er konzentriert sich auf die familiäre Dynamik)
  • Der Ich-Erzähler redet stets von Amma und Appa, Mutter und Vater; das ist auch der Titel einer Indien-Deutschland-Doku
  • Der passive, verantwortungsscheue Ich-Erzähler im Roman erinnert mich an eine Figur des Schauspielers Dhanush im südindischen Film Yaaradi Nee Mohini
  • Ein kleines Romänchen in luftig-leichtem, eindrucksvollem Stil mit einem diffusen Ich-Erzähler sowie Sinistrem im Hintergrund – das klingt nach dem Großen Gatsby
  • Viele urbane häusliche Szenen in Delhi zeigt Deepa Mehtas Spielfilm Water
  • Dass der Ich-Erzähler zu wenig Profil gewinnt, gilt noch stärker für Eva Menasses Roman Vienna
  • Ein englischsprachiger Blogger sieht Parallelen zwischen Ghachar Ghochar und Birgit Vanderbekes Muschelessen
  • Die offenen Feindseligkeiten innerhalb einer Familie kenne ich so nur aus allerlei indischen Büchern und Filmen, nicht aus anderen Regionen

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