Roman
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Romankritik: Welcome to Lagos, von Chibundu Onuzo (2016) – 4/10 Sterne
Fünf Nigerianer aus allen Regionen und Gesellschaftsschichten machen sich nach Lagos auf – Deserteure, Minister, Journalisten, Dörfler. Doch im ersten Drittel verbindet Chibundu Onuzo (*1991) ihre Geschichten zu wenig und beleuchtet sogar noch Nebenfigurenschicksale. Später leben alle gemeinsam in einer absurden, unterirdischen WG. Die hochgelehrte Autorin überfrachtet ihren Roman mit zu viel Material. Sie schreibt selbst im Nachwort: It takes a dossier of interviews to write a second book. Dem folgen zweieinhalb Seiten Danksagung. Und sie hatte ursprünglich noch mehr Protagonisten, die sie dann wieder herauskegelte (Quelle): at one point I had eighteen characters and the story had kind of lost all shape and momentum, so I had to kill…
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Romankritik: Liebe usw., von Julian Barnes (2000, engl. Love etc) – 5/10 Sterne
Nach einigem Vorgeplänkel schließt der Roman Love etc. nahtlos an den Vorgänger Darüber reden (engl. Talking It Over, 1991) an. Das heißt auch: Es gibt wieder endlose Schwafelei von Oliver/Ollie. Ich hätte gewettet, dass Autor Julian Barnes die Logorrhoe seines evtl. Alter ego im zweiten Band zügelt. Aber nein, Ollie muss wieder obsolete Betrachtungen und hintervorletzte Fremdwörter sekretieren und die Handlung ausbremsen, noch störender als im ersten Buch. Kostprobe: In the years since we returned to Londinium Vetus from the Land which knoweth not the Brussels Sprout… a rather mastubatory implication… I’m merely a binoculared student of the passing caravanserai of life Nicht nur dieser Protagonist ist beschämend selbstverliebt, auch…
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Romankritik: Darüber reden, von Julian Barnes (1991, engl. Talking It Over) – 6/10 Sterne – mit Video
Drei Personen reden abwechselnd direkt zum Leser und schildern jeweils ihre Sicht eines sich anbahnenden Liebesdreiecks; teils erzählen sie ihre Geschichte fortlaufend, ohne Überlappung. Diese interessante Konstruktion schwächt Julian Barnes durch die Geschwätzigkeit und Blasiertheit der Figur Oliver/Ollie samt Angeber-Fremdwörtern („Gillian’s rebarbatively quotidian motor-car“) und anlasslosem Deutsch oder Französisch mitten im englischen Satz (ich kenne nur das engl. Original und kann die Eindeutschung von Gertraude Krueger nicht beurteilen). Autor Julian Barnes schnitzte sich mit Ollie ein Vehikel für alle Bildungsvokabeln und Randbemerkungen, die er schon immer mal im Druck sehen wollte; dazu gehört auch eine peinsame Schilderung vom Herrenurinal. Immerhin, so hebt sich Oliver deutlich von den anderen zwei Sprechern…
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Romankritik: Blasmusikpop, von Vea Kaiser (2012) – 4/10 Sterne
Die Schnurre beginnt 1959: Das österreichische 400-EW-Dorf St. Peter am Anger auf 1200 Meter Höhe hat noch 1969 keinen Fernsehempfang und staunt erst 1974 über den ersten Fernseher. Allerdings törnt der Roman inhaltlich und sprachlich ab: Vea Kaiser setzt auf Klamauk statt Plausibilität und Realismus hat zunächst eine trocken-lässige Stimme, schreibt markantes, aber nicht deftiges und oft unterhaltsames Deutsch. Ihr Deutsch hält aber nicht über die Langstrecke des 469-Seiten-Romans. Sie klingt auf Dauer flach flapsig, anbiedernd oder schlicht desinteressiert, nicht wirklich charakterstark, wenn auch nie völlig spröd. Nicht ihr Business: Nur momentweise ist es witzig. In der zweiten Hälfte Ende wirkt die Handlung pubertär – sie spielt unter 17jährigen, und…
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Kritik Schweizer Kuhroman: Blösch, von Beat Sterchi (1983) – 6/10 Sterne
Fazit: Beat Sterchi berserkert mit Sprache und Inhalt, dass es spritzt. Hochdetailliert und wortgewaltig beschreibt er Abläufe auf einem sehr altmodischen Milchviehbauernhof und im Schlachthof. Wie die Kuh Blösch bestiegen und schließlich geschlachtet wird, schildert Sterchi über jeweils mehrere Seiten und ohne Rücksicht auf Sensibilitäten. Amazon-Werbelinks: Beat Sterchi In den Zisternen: Sehr viel Plot gibt es nicht, Autor Sterchi (*1949) ergeht sich in Alltagshandlung: Der einfache Spanier Ambrosio kommt als Stallknecht zum Knuchelbauern in die Deutschschweiz. Das eigentliche Ereignis sind Beat Sterchis Einblicke in archaische Landwirtschaft, später in den Schlachthausbetrieb, und sein ebenso mächtiger Ton: Er hörte die Milchbläschen in Meyes Drüsengewebe platzen… hörte er die Milch durch die Kanälchen…
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Romankritik: Schmidt, von Louis Begley (1996, engl. About Schmidt, Teil 1 von 3 der Reihe) – 6 Sterne – mit Video
Im ersten Teil passiert wenig: Hauptfigur Schmidt grübelt langwierig über Kindheit und Ehe-Vergangenheit und über eine juristisch-fiskalisch komplizierte Erbregelung. Es zieht sich. Gelegentlich gibt’s affektierte Fremdwörter, dazu Italienisch und Französisch unübersetzt („tiers incommode“). Und was der zähe Gedankenstrom längst nahelegte, äußert diese Figur dann explizit und bezeichnet sich als „single sixty-year-old codger with no dependents“*. Amazon-Werbelinks: Louis Begley Schmidt | Louis Begley allgemein Genüsslich walzt Louis Begley (*1933, Vater von Adam Begley) Frauen- und Judenverachtendes aus („that circumcised prick“), dazu schmierigen Altherrensex: she is available and is being used outside the marriage… He would pry open her legs. But she wanted him to be able to see. Before he had…
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Romankritik: Selig & Boggs, von Christine Wunnicke (2013) – 5/10 Sterne
Christine Wunnicke erzählt mit verwirrenden Zeit- und Kulissenwechseln. Hubert Winkels in der SZ lobte, dass Wunnicke von Nahaufnahme zu Nahaufnahm springt, mit aberwitzig frechen Schnitten ((zitiert aus Buecher.de, kein Werbelink)). Ich fand Wunnickes Szenen-Hopping nur unübersichtlich. Gelegentlich springt sie über zwei Generationen hinweg zwischen Hauptfigur Boggs und dessen Großvater. Nachdem ich hörte, dass Wunnicke ihre Manuskripte stark kürzt – eigentlich lobenswert -, mutmaßte ich, sie habe Selig & Boggs zu stark gekürzt, dabei auch Essentielles massakriert, und das Lektorat hat’s nicht gepeilt. Amazon-Werbelinks: Christine Wunnicke | Geschichte Hollywoods Umgekehrt geht’s auch zu geschwätzig. Einmal erzählt Wunnicke von der unwichtigen Frau des „Spielleiters“ Boggs im Zug und berichtet unwichtig: Es gab…
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Kritik Roman: Queenie, von Candice Carty-Williams (2020) – 5/10 Sterne
Candice Carty-Williams schreibt ein paar witzige Dialoge und Chat-Verläufe, aber letztlich eine Zeitgeist-Soap mit dümmlicher Ich-Erzählerin, gegen Ende sehr unrealistisch. Warum das Buch Preis und Preise von Qualitätsmedien wie Time oder Guardian erhielt, weiß ich nicht. Die junge schwarze Londonerin Queenie, 25, jiepert dümmlich Männern hinterher, u.a. ihrem weißen Ex-Freund Tom, trifft sich mit Freundinnen, hat Trost-Sex mit Arschlöchern, erträgt Alltagsrassismus und Frauenfeindlichkeit, streut BLM und MeToo ein, nur LGBTQXY fehlt. Starke, ruhige Männer: Queenie genießt immer wieder starke, ruhige Männer*: It was so nice to be physically supported by someone und präsentiert sich schmachtend den Herren der Schöpfung: I ran around the office asking different colleagues for various make-up…
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Romankritik, Filmkritik: Der Liebesbrief, von Cathleen Schine (1995, 1999, engl. The Love Letter) – 6 Sterne – mit Video
Der Roman (1995, 6 Sterne): Fazit: Cathleen Schine schreibt eine gedruckte romantische Komödie, fluffig, lustig, unrealistisch, etwas belanglos. Die Hauptfigur, Buchhändlerin Helen, ist Ü40, lässig, attraktiv, unliiert und produziert ebenso wie das andere Buchpersonal unentwegt coole Einzeiler – unplausibel, aber vergnüglich. Ein Beispiel (ich kenne nur das engl. Original): You read my mind even when there’s nothing in it. Autorin Cathleen Schine ist zu verliebt in ihre Figur: Schine beginnt den Roman zwar mit einer kurzen Szene in der erzählten Jetztzeit, dann aber lässt sie ihre Buchhändlerin die Vergangenheit reminiszieren und müßig spekulieren. Sie beschreibt unermüdlich ihr fantastisches Aussehen. Und im Bett ein Feger. Bis die Handlung in Fahrt kommt,…
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Romankritik. Einer von uns, von Chinua Achebe (1966, engl. A Man of the People) – 5 Sterne
Ich-Erzähler Odili Samalu ist zunächst ein kleiner Lehrer in einer privaten Dorfschule – gut gebildet zwar, doch er will mit der korrupten Staatsbürokratie im postkolonialen Nigeria nichts zu tun haben. Dann gerät Odili ins Umfeld des mächtigen, brunzdummen Kulturministers Chief the Honourable M. A. Nanga, M.P.; dessen Umtriebe, Eitelkeiten und hohlen Sprüche schildert der Ich-Erzähler delektabel vollmundig, deftig satirisch – nicht subtil, aber meist auch nicht schrill oder anklagend. Ich-Erzähler Odili verulkt weitere Speichellecker, Karrieristen, weiße Berater, die opportunistische Journaille und nicht zuletzt sich selbst als Schürzenjäger. Amazon-Werbelinks: Chinua Achebe | ganz Afrika | Südafrika | Kenia | Marokko Handlungsbogen: Einen Handlungsbogen hat das Romänchen bis zur Hälfte nicht: Der…
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Romankritik. Nur die Tiere, von Colin Niel (2017, frz. Seules les bêtes) – 5 Sterne – mit Video
Die Geschichte ist gutteils grotesk unglaubwürdig. Doch Colin Niel begint mit einer zunächst ansprechenden, realistischen Handlung aus dem ländlichen, rauen Frankreich. Der Ex-Agrarwissenschaftler liefert stimmige Details aus der Landwirtschaft (es könnte jedoch noch plastischer sein) und produziert interessante Analogien, so über einen Menschen: zaudernd wie ein Tier, das nach einem langen Sommer den Stall betritt Die Story läuft auf einen Kriminalfall hinaus, und den deutet die erste rückblickende Ich-Erzählerin mehrfach zu aufdringlich an: Wenn ich früher begriffen hätte ((…)), hätte ich vielleicht verhindern können, was sich da anbahnte… Ich wusste noch nicht, dass es der Anfang einer Serie war… Ja, wenn ich aufmerksamer zugehört hätte…“ Amazon-Werbelinks: Colin Niel Nur die…
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Romankritik: Der Postbote klingelt immer zweimal, von James M. Cain (1934, engl. The Post Man Always Rings Twice) – 5 Sterne – mit Video
Die Dialoge sind kalt, knapp und cool. Die Sätze kurz. Die Kulisse wirkt staubig und reell, eine einsame Tankstelle in kalifornischer Pampa in den 1930ern. Doch dann kommen die Schwächen. Der Krimi protzt mit Stil, nicht mit Substanz, er ist unrealistisch und wirr. Erst türmt Autor James M. Cain Zufall auf Zufall: Beim Mordversuch fährt rein zufällig ein Polizist die Straße lang, plaudert mit der Schmiere stehenden Hauptfigur, eine kletternde Katze lenkt Aufmerksamkeit auf die Fluchtleiter, und dann fällt noch spielentscheidend der Strom aus. Amazon-Werbelinks: Buch Der Postbote klingelt immer zweimal | Film Wenn der Postmann zweimal kingelt | Krimis insgesamt Im Mittelteil liefert der Krimi undurchschaubare juristische und versicherungstechnische…
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Romankritik. Rabbit, eine Rückkehr, von John Updike (2000, engl. Rabbit Remembered, Rabbit Teil 5) – 6 Sterne
Wer die ersten vier Bände der Rabbit-Reihe kennt, muss nicht lang warten: Gleich auf den ersten Seiten von Rabbit, eine Rückkehr präsentiert John Updike alle überlebenden Akteure – und handfeste Überraschungen dazu. Rabbit Teil 5 spielt 1999. Autor John Updike (1932 – 2009) liefert solides Storytelling-Handwerk, doch ganz ohne das Funkeln der früheren Bände: die Dialoge bestechen weniger, ein paar Dinge wirken weniger realistisch und weiter hergeholt als für die Rabbit-Reihe üblich. Das wiederkehrende Einflechten vergangener Entwicklungen klingt gezwungen. Absolute Nebenfiguren erhalten zu viel Raum (die Kinder eines Nebendarstellers, die Klienten der Hauptfigur Nelson). Das Ganze wirkt wie ein konventioneller Familienroman, teilweise spannend, und spielt nicht mehr im Kopf der…
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Romankritik. Rabbit in Ruhe, von John Updike (1990, engl. Rabbit at Rest, Rabbit Teil 4) – 5 Sterne
Fazit: Der Roman liefert spannungsreiche Dialoge und zeigt US-Mittelschichtrealität tiefenscharf in oft edler Prosa. Doch er ist überfrachtet mit Erinnerungen an alte Tragödien, mit Floridatourismus, Krankenhaussaga, Golfkleinklein, Geschichtsbuch-Nacherzählung, mit Todesahnungen und aufdringlichen Hinweisen auf Junkfood, Junkfernsehen, Junkwerbung, Junkradio, Junkamis, mit kleinsten körperlichen Details. Männer aus drei Generationen sind selbstsüchtig, dumm und böse, Frauen vernünftiger und berechnend. Amazon-Werbelinks: John Updike Rabbit in Ruhe | John Updike Romane | John Updike Kurzgeschichten | John Updike Englisch | John Updike insgesamt Vorahnungen: Der Roman spielt vom 28. Dezember 1988 bis zum 22. September 1989, Hauptfigur Harry „Rabbit“ Angstrom ist zunächst 55 Jahre alt, wirkt aber körperlich wie 75; seine Frau Janice ist 52…
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Romankritik: Auf der anderen Seite des Flusses, von Pedro Mairal (2016) – 4 Sterne
Der Roman weckt mein Interesse für Geschichten aus Argentinien und Uruguay, aber nicht für weitere Bücher von Pedro Mairal. Zur Hauptfigur: Ich-Erzähler Lucas ist ein selbstmitleidiger Unsympath, er hat lt. Selbstzeugnis zu viel „giftiges Testeron“ im System (S. 13), er redet gern vulgär, und seine Frau liefert Triebabfuhr nicht in gewünschter Menge. Doch Lucas, 44, lauscht gern dem „Tier in einem“ (S. 52). Darum greift er sich am Strand von Uruguay eine Loverin (S. 28): feuchtes Haar, Jeans-Minirock, lockeres T-Shirt über dem Bikini-Oberteil. Später erscheint sie, 28, im „rückenfreien T-Shirt zum Anbeißen“ (S. 87). Dieser feuchte (wörtlich) Traum hat nicht nur „eine uruguayische Nase“ und „ein Piercing in der Klitoris“.…
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Buchkritik: Frau im Dunkeln, von Elena Ferrante (2006) – 6 Sterne – mit Video
Das Buch spielt gutteils in einem süditalienischen Küstenort im Sommer, oft im Strandbad, es gibt eine neapolitanische Großfamilie – doch Italienità gibt es nicht. Eher zeigt der schmächtige Roman das wehleidige Kreiseln einer 47jährigen um sich selbst: sie mit ihren Kindern heute und einst, sie damals mit ihrer Mutter, sie mit Strandnachbarn (v.a. Mütter und Töchter), Psychogedöhns, drei Schwestern hat sie auch noch, wohl ein Frauending. Drum (?) geht’s auch um Schönheit, die Ich-Erzählerin ist der festen Überzeugung, ich sei hässlich, ich dachte, meine Mutter ist schön und ich nicht. Heulheul. In der Jetztzeit und in vielen langen Rückblenden bringt die Ich-Erzählerin, eine verbitterte Krampfhenne, immer neue Beispiele ihrer abstoßenden…
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Buchkritik: Ein Mann der Kunst, von Kristof Magnusson (2020) – 4 Sterne
Kristof Magnusson liefert hier wieder reizvolle Einblicke in selten literarisierte Bereiche – nicht nur in den Kunstbetrieb, sondern auch in öffentliche Gremien und in Baustellen aus Architektensicht. Der Autor spießt deutsche Sprachmoden hübsch auf: ein E-Zigaretten-Start-up heißt Dampferando, ein Kunstmagazin Visualitäten, die Jungwinzer sind die Weinpiraten. Kristof Magnusson bei Amazon (Werbe-Link) Magnusson liest sich federleicht, doch dabei ist die Sprache so fad wie in der Lokalzeitung, samt Ausdrücken wie „Kunst machen“, „ein leicht durchgeknatterter Forscher“, „durchgeknatterte Collagen“, „eine Cognacflasche, die von der Form her an ein Dreieck erinnerte“, „Werke im Wert von weit von vielen Millionen Euro“ (sic, S. 218 Hardcover). Die Figuren unterscheiden sich sprachlich nicht, selbst wenn der…
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Romankritik: Im Falle eines Unfalls, von Georges Simenon (1958, auch Mit den Waffen einer Frau) – 5 Sterne – mit Video
Ein steinreicher alter weißer Cismann erzählt diesen Nicht-Maigret-Roman. Seine Frau ist noch älter, darum hält er nebenbei eine Privatnutte, die einst als Mandantin in seinem Büro ungefragt den Rock lupfte, und kein Höschen darunter. Das ist sehr Simenon, sogar Altherren-Simenon, aber er kann es eigentlich besser: wenn er über bittere Rentner, verschlurfte Kleinstadtärzte oder Kleingastronomen schreibt und nicht über güldene sexbesessene Säulen der Gesellschaft. Die hier auch noch hohl sinnieren: An jenem Sonntag habe ich begonnen, an ein Zeichen zu glauben, ein unsichtbares Merkmal, das nur von Eingeweihten zu erkennen ist, von jenen, die es selber an sich tragen. Sogar über Rechtsanwälte – wie hier – schrieb Georges Simenon (1903…
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Kritik Roman. W. Somerset Maugham: Südsee-Romanze (1932, engl. The Narrow Corner) – 5 Sterne
Mit wenigen Sätzen kreiert W. Somerset Maugham (1874 – 1965) sogleich ein Szenario, in dem der Leser behaglich Platz nimmt – atmosphärischer Schauplatz, interessante und mild sinistre Protagonisten. Da bleibt man gern dabei und freut sich auf den freien Samstagnachmittag. Somerset Maugham auf Amazon: allgemein | Kurzgeschichten | Romane | englisch Show, don’t tell: Zu ausführlich erörtert Maugham jedoch den Charakter seiner Figuren allgemein, statt ihn durch Dialog und Handlung zu belegen. Er schreibt ihnen allerlei verblüffende, teils widersprüchliche Eigenschaften zu. So betont Maugham wieder und wieder die Schurkenhaftigkeit von Captain Nichols, ohne ernsthafte Belege, abgesehen von Slangsprache. Show, don’t tell. Erst am Buchende tut Nichols nachweislich etwas für seinen…
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Romankritik. Urs Widmer: Liebesbrief für Mary (1993) – 6 Sterne
Das Romänchen hat drei unterschiedliche Aspekte: Handlung: Im Kern erzählt Urs Widmer (1938 – 2014) ein Liebesdreieck – zwei Schweizer Männer, einer von ihnen der Ich-Erzähler und der andere der Verfasser des langen Liebesbriefs, sind hinterereinander in Zürich mit der Irin Mary zusammen; die haut nach Australien ab und beginnt im Outback ein neues Leben mit einem weiteren Mann. Unzuverlässig bis verrückt: Der lange Liebesbrief des einen Schweizers und dessen Kommentierung durch den anderen Schweizer widersprechen sich. Gelegentlich rasten oder klinken sich Akteure völlig aus, mehrere Nebenfiguren müssen in die Nervenheilanstalt Humor und Englisch: Der mehrfach unterbrochene Liebesbrief des Schweizers an die Irin Mary nimmt gut die Hälfte des Büchleins…
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Rezension Roman: How to Be Good, von Nick Hornby (2001) – 6 Sterne
Fazit: Der Autor kreiert einerseits realistisch unterhaltsame Alltagsszenen einer Londoner Mittelschichtfamilie und pfiffige Dialoge – alles sehr Hornby, mit seinen typischen Zutaten wie Ehebruch, linksliberalem Gutmenschentum und altklugen Kids, aufgelöst in amüsantes Palaver. Die Wandlung der männlichen Hauptfigur ist jedoch enttäuschend unrealistisch: Erst atemraubend aggressiv, dann abrupt maximal zugewandt, denn ein Wunderheiler vollführt unerklärliche Wunderheilungen. Nick Hornby bei Amazon Ehekrieg: Ich-Erzählerin Katie sieht ihren Romangatten David als „highly skilled in the art of marital warfare“ (S.10*)¸ diagnostiziert „inexhaustable and all-consuming anger“ (S. 20) und erwartet bei jeder Auseinandersetzung „a lot of ranting, some raving, several million caustic remarks and an awful lot of contempt“ (S. 47). In einer anderen Auseinandersetzung…
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Rezension 60er-Jahre-Roman: Miss Blackpool, von Nick Hornby (2014, engl. Funny Girl) – 4 Sterne
Fazit: Der Roman klingt nicht realistisch und lebendig wie andere Hornby-Bücher: Hornby macht nie glaubhaft, warum das Mädchen aus Blackpool in Nordengland Schönheitskönigin wird, dann blitzartig TV-Profis in London überzeugt und warum ihre dümmliche TV-Serie 18 Millionen Zuschauer vor die schwarzweiße Mattscheibe lockt. Hornby behauptet das einfach, fast ohne Beleg. Nichts ist funny. Nick Hornby bei Amazon Behaupten statt zeigen: Ein Beispiel für Behaupten statt Zeigen: Auf Seite 197 heißt es, Dennis had been in love with Sophie for far longer than he would ever admit Bis dahin hatte das Buch Dennis und Sophie schon mehrfach beruflich zusammengeführt – und Nick Hornby hat zuvor Dennis‘ Gefühle für Sophie nie auch…
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Kritik Werbeagentur-Roman: Gummi (2003, engl. The Book, the Film, the T-Shirt), von Matt Beaumont – 4 Sterne
Werbeagentur-Chef Greg Fuller in Nöten: Der für den Autoreifen-Werbedreh gebuchte Hollywoodstar sitzt bei der Polizei fest, ein unverzichtbares Kreativteam für Sofaprospekte ist dummerweise gefeuert, die schwangere Ehefrau verlangt dreist Zuwendung, eine zu ehrgeizige Kollegin will ihm an die Wäsche (sie hat freilich unbestreitbare Talente), ein lukrativer Verkauf scheint gefährdet, Gott und die Welt belagern ihn und seine Sekretärin am Telefon. Romanautor Matt Beaumont (ist der Name eigentlich echt) gefällt sich in allerlei vierbuchstabigem Unrat („Paul and Shaun, known only to me as Piss and Shit“, S. 12). Zu ermüdend ausführlich schildert Beaumont die Tics und Eingebildetheiten der Hollywoodstars, die im Werbefilm agieren. Ein paar Skandale und Minidramen erzeugen zwar eine…
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Romankritik: Das junge Kairo, von Nagib Machfus (1945) – 6 Sterne
Nagib Machfus (1911 – 2006, auch Nagib Mahfuz, Naguib Mahfouz) beginnt sehr allgemein, langatmig mit Rückblenden und fast dialogfrei – so öd, dass die Doppelseite 26/27 des Unionsverlag-Hardcoverbandes einen einzigen durchgehenden Absatz zeigt, ohne Zeilenschaltung. Das ist strafbar. Dann konzentriert sich die Geschichte auf den Studenten Machgub Abdaldaim, der kurz vor dem Examen steht, ins Berufsleben startet und mit argen Geldnöten kämpft. Machgub hat arme kranke Eltern und ein paar redliche, gebildete Freunde. Doch Machgub ist Zyniker, Utilitarist, permarallig; er hält alles für „Quatsch!“, treibt’s für günstige „30 Groschen“ mit einer übel riechenden Straßendirne (S. 34), verachtet Ehre und Moral. Diese abstoßende Figur, Sympathiebeiwert 0, steht im Zentrum des Romans.…
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Romankritik: Infanta, von Bodo Kirchhoff (1990) – 7 Sterne
Fazit: Bodo Kirchhoffs mehrfach übersetzter Erfolgsroman hat einige Vorzüge und ein paar Schwächen: Starke Atmosphäre im philippinischen Tropenstadl, reizvolle Dialoge, gut gewebte Handlung, interessante Nebendarsteller, angenehme Sprache. Dazu kommen unrealistische oder undefinierte Hauptfiguren, zu viel angeberische Gewalt sowie Melodrama und Längen in der zweiten Hälfte. Bodo Kirchhoff bei Amazon Moribunde Kröteriche: Die Runde der morbiden, moribunden US-Padres an der Abendtafel im Phillie-Kaff fasziniert: Diese alten Kröteriche belauern unentwegt sich, ihren Besuch und die jungfräuliche Köchin Mayla hinter der Durchreiche. Der Geist ist womöglich willig, das Fleisch aber schlapp. Sie sehen, sie hören alles, jede Berührung und jedes Schnaufen im Nebenzimmer. Sie parlieren hinterlistig und kritzeln nächtens Wand an Wand in…
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Romankritik: Der Anhalter, von Gerwin van der Werf (2019) – 6 Sterne
Van der Werf bringt nur wenige, unspektakuläre Dialoge, liefert aber feine Beobachtungen aus dem Alltag einer kleinen mitteleuropäischen Mittelschichtfamilie, die Island mit dem Wohnmobil durchfährt. Zu zaunpfahl deutet van der Werf indes gleich zu Beginn bedrohliche Entwicklungen an: Der Ich-Erzähler will seine „Ehe retten“ (S. 11 der S.Fischer-Hardcover-Ausgabe), ohne die Problemlage zu erklären; seine betagte Mutter verschwindet unerwartet, ohne dass er ihr energisch per Telefon oder Herumfragen nachsteigt. Unbehagen ohne Ende: Diese dunklen Wolken stehen sofort im Raum, dann gibt’s noch unverarbeitete Fehlgeburten, und schließlich steigt ein aufdringlicher Tramper zu der Familie ins Wohnmobil. Der Typ schwafelt Esoterisches und zeigt Tattoos vor. Seine aufdringlich kumpelhafte, übergriffige Art skizziert van der…
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Romankritik: Schäfchen im Trockenen, von Anke Stelling (2018) – 4 Sterne
Fazit: Ich-Erzählerin Resi, um 40, lebt mit Mann und vier Kindern in einer zentralen Berliner Mietwohnung, die sie von langjährigen Freunden mieten. Diese Freunde ziehen in einem selbst finanzierten Bauprojekt zusammen. Resis Familie kann und will hier finanziell nicht mithalten. Die Freunde kündigen ihr zudem ihre derzeitige Mietwohnung – und das auf schwierigem Wohnungsmarkt. Zugleich verstimmt Resi ihre Freunde, weil sie öffentlich über die Miet- und Bau-Erfahrungen schreibt. Prenzlberg-Anrainerin Anke Stelling präsentiert die Suada einer selbstmitleidigen Ich-Erzählerin voller Neid, Vulgärem, und sie zerhackt ihre Geschichte mit vielen Zeitsprüngen, so dass Zusammenhänge und Hintergründe erst allmählich aufscheinen. Die mehr oder weniger arrivierte Clique der Berliner Baugruppe und ihre Konflikte sind fein…
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Romankritik: Der Verdammte der Inseln, von Joseph Conrad (1896, engl. Outcast of the Islands, Lingard-Trilogie Teil 2 von 3) – 6 Sterne – mit Video
Fazit: Joseph Conrad konstruiert eine spannende Räuberpistole mit verblüffenden Manövern, starken Dialogen, interkulturellem Großaufgebot und viel Atmosphäre. Er produziert auch langatmigen Schwulst und einen unglaubwürdigen Hassliebesgockel. Verblüffend, dass Conrad die Teile 2 und 3 der Lingard-Trilogie so vergleichbar plottete und konstruierte. Geschriftstellert: In seinem historisch zweiten Roman klingt Joseph Conrad (1857 – 1924) deutlich epischer und geschriftstellerter als im Erstling Almayers Luftschloss/Almayers Wahn/Almayer’s Folly. Stark sind neben Plot und Interkultur-Mix vor allem die Dialoge: wie sich Almayer und Willems unwirsch angiften oder die gespreizten Höflichkeiten voll kaschierten Egoismus‘ zwischen Malaiien und Arabern. Die Geschichte hat viel dramatisches Potential; sie wurde ja auch vom Spannungsexperten Carol Reed verfilmt. Allerdings ruiniert Conrad…
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Romankritik: Emil und die drei Zwillinge, von Erich Kästner (1935) – 5 Sterne
Friede, Freude & auch Eierkuchen herrschen in Neustadt, Berlin & auch in Korlsbüttel: Penetrant harmonisch geht’s zu zwischen Jung und Alt, zwischen Arm und Reich in diesem Sequel zu „Emil und die Detektive“. Zwei Jahre danach: Die Geschichte spielt zwei Jahre nach „Emil und die Detektive“, versammelt alle Hauptakteure dieses Romans, zeigt aber eine neue Handlung an der Ostsee. Pfiffig startet Autor Emil Erich Kästner (dies der volle Name, 1899 – 1974) die „Zwillinge“ gleich mit zwei pfiffigen Vorworten: Ein Vorwort für Leser, die den „Detektive“-Roman schon lasen und ein zweites für alle, die den „Detektive“-Roman nicht hatten. Laut Kästner in einem der Vorworte kann man die „Zwillinge“ unabhängig von…
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Romankritik: Ein anständiger Mensch, von Jan Christophersen (2019) – 6 Sterne
Jan Christophersen konstruiert in den ersten zwei Buchdritteln eine dramatische, intime, fesselnde Geschichte. Zwei intelligente Paare verbringen ein Wochenende in einem entlegenen Ferienhaus. Sofort gibt es ungute wie auch erotische Spannungen in alle Richtungen. Die wenigen Umgebungsdetails und Nebenfiguren fügen sich gut in die Handlung; nichts wirkt an den Haaren herbeigezogen, Dialoge und Figuren scheinen realistisch und geben Stoff zum Nachdenken. Zudem erzählt Jan Christophersen strikt chronologisch und mit eng beschränktem Personal. Das letzte Drittel hat ganz andere Konstellationen und Erzählweisen. Allerdings beginnt die Lektüre mit einem doppelten Schock: Schon im Klappentext des mare-Hardcovers, 2. Auflage, steht offen und ehrlich, der Autor studierte am „Literaturinstitut Leipzig“. Damit verbinde ich: Blutleere…
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Romankritik: Echo, von Jan Christophersen (2014) – 4 Sterne – mit Video
Fazit: Aufbau und Figuren des kleinen Romänchens sind überkonstruiert und leblos. Dies ist keine Geschichte, sondern ein Schreibexperiment – gescheitert. Tom schwieg: Jan Christophersen schildert zunächst Gefühle und menschliche Entwicklungen recht genau – einerseits. Doch während die wichtige Nebenfigur Sascha deftig erscheint, bleiben die Protagonisten Tom, Aga und Gesa völlig diffus. Was passiert zwischen Tom und Aga, zwischen Tom und Gesa. Man weiß es nicht genau. Warum Gesa als etwa 17jährige den etwa 15jährigen Tom anziehend findet, weiß man auch nicht. Warum sie Tom nachhängt, sich aber später von Sascha heiraten lässt – keine Erklärung. Das ist alles so wolkig. Und die ganze Unklarheit betont Autor Jan Christophersen wieder und…