Roman-Kritik: Many Lives, von Kukrit Pramoj (หลายชีวิต, Lai Chiwit, 1954) – 6/10

Thailand

Fazit:

Das ist kein Roman, es sind nicht mal Kurzgeschichten: Kukrit Pramoj liefert bestenfalls elf konventionell, aber flüssig getextete, unverbundene Lebensabrisse von Dorf- und Kleinstadtbewohnern. Pramoj verzichtet weitgehend auf markante Details, Dialog, Konflikt, Spannung, Schlusspointen, Zeitsprünge, Andeutungen, Humor, Historisches oder Soziales oberhalb der Dorf-Ebene. Pramoj schreibt zu didaktisch, seine Figuren haben zu wenig Fleisch und Blut.

Der Autor schildert wiederholt Niedertracht, Selbstsucht, grausames Schicksal; mehrfach verraten Jüngere ihre Zieheltern. Weitere wiederkehrende Motive in Many Lives (หลายชีวิต, Lai Chiwit):

  • Eheschliessung, wenn er um die 17 und sie um die 15 ist
  • Männer saufen sich zugrund, und sie fliehen oder sterben kurz vor/nach der Kindsgeburt
  • alleinerziehende Mútter mit Einzelkind, das Unterstützung im Alter liefern soll
  • die Akteure machen karma für ihr trauriges Schicksal verantwortlich – das Wort wird stets kursiviert und nie von der Übersetzerin erklärt; der Autor selbst geht im Epilog kurz darauf ein
  • häufiger geht es auch um “make merit” (tham bun, ทำบุญ), also Gutes tun in der Hoffnung auf späteres Glück – das indes bei Pramoj ausbleibt (von Wiedergeburt ist nie die Rede; auch über einen Nachruf, den König Mongkut (Rama IV) ca 1863 über eine früh verstorbene Tochter schrieb, heißt es in Alfred Habeggers Anna-Leonowens-Biografie: “nothing is said about reincarnation”)
  • sonstiger Aberglaube
  • sexuelle Begierden bei Jung und Alt, Mann und Frau, reich, arm, gut, böse, diskret formuliert, nur in den vorderen Geschichten

11 Lebensabrisse:

Autor Kukrit Pramoj (คึกฤทธิ์ ปราโมช; 1911 – 1995) beschreibt zuerst kurz einen Schiffbruch mit vielen Toten. Dann erzählt er die Lebensgeschichten von elf Umgekommenen. Zwischen diesen Geschichten gibt es keine Verbindungen, ein Schwachpunkt. Selbst auf dem Boot, kurz vor dem Unglück, interagieren die Figuren nicht.

Pramoj spult die Geschichten einfach linear ab. Innerhalb einer einzelnen Geschichte rundet sich nur manchmal ein Kreis, kehrt eine Person vom Anfang gegen Ende überraschend wieder. Mehrere Protagonisten, die vielleicht gern aus dem Leben schieden, zeigen tot ein Lächeln im Gesicht – realistisch?

Zeitläufte spielen keine Rolle: Regierungswechsel, Könige, Kriege, technischer Fortschritt, all das thematisiert Journalist und Top-Politiker Pramoj in Many Lives nicht (wohl aber in seinem bekannten Roman Four Reigns). Zweimal erscheinen flüchtig “the war and the ensuing inflation” als Problem, aber solche historischen Hintergründe bleiben die Ausnahme.

Kukrit Pramoj textet zumeist streng chronologisch und ohne Hinweise auf die Zukunft. Nur in der betont tragischen Geschichte von Linchong deutet er heraufziehende Schicksalsschläge dramatisch an:

the great suffering that afflicted her later in life… For the rest of his life, until the day he died, Daeng would have…

Many Lives enthält viel thailändischen Alltag, Etikette und Glauben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (sofern man Pramoj traut) bei höchstens mittlerem Unterhaltungswert. Manche Lebensabrisse und Mentalitäten erinnerten mich auch unmittelbar an die 2020er Jahre.

Dröge Verallgemeinerung:

Die einzelnen Lebensgeschichten verallgemeinern teilweise zu sehr, mit wenig konkreter Handlung, weil Kukrit Pramoj die teils vielen Lebensjahre der Verunglückten stark rafft – nur etwa zehn bis 25 Seiten pro Person, gegen Ende werden die Geschichten auffällig kürzer (und schlechter, weil didaktischer). Es gibt auch kaum Dialog.

Ein Beispiel für Verallgemeinerung: Bei einer Händlerin redet Pramoj vag von

attending to things… perform these tasks… the quality and quantity of food had declined, because goods were more expensive…

Pramoj sollte konkrete Handlungen, Speisen und Preise nennen und die Geschichte dadurch plastischer machen.

Der Autor nervt zudem mit allgemeinen Lebensweisheiten in jeder einzelnen Geschichte:

The force of love is in everyone, and individual love seeks out the most promising object in any given environment… If a child’s body is stimulated by adult actions and emotions, it will rapidly reach a physical maturity beyond its age, and emotional development will follow… music can cause sorrow as well as happiness… Suffering and poverty exacerbate disease… When people form groups or communities and live together according to simple rules, they often unconsciously fall back on these laws of nature… People can plan ahead for many things, but we cannot prevent, obstruct or alter our fate or fortune… But it seems to be a law of nature-or nature’s cruelty where the human race is concerned that the more fervently something is desired and sought after, the more seemingly distant and difficult of attainment it becomes…body and mind do not develop at the same rate in everyone. In some cases the mind develops to a certain stage, then stops completely, leaving the body to its physical progression… the unselfishness of a mother’s love surpasses even life itself

Nur selten gibt es Pfiffiges wie:

Like mud collecting on the wheel of a bullock cart, poverty took greater hold of her life as she grew older

Oder eine Mutter, die über ihre vermeintlich undankbare Tochter klagt:

“This is what they call ‘a tree dying from its fruits’.”

Oder nach dem todbringenden Sturm:

Nature had forgotten completely the rage of the night before, and was starting the new day with a bright countenance, like a child smiling through its tears.

Gesegnet, aber unglücklich:

Teils klingt Pramoj zu aufdringlich didaktisch und moralisch. Etwa wenn der völlig verarmte und unehelich – aber doch hochwohlgeborene – Prinz weder für seine schwerkranke Mutter als Straßenverkäufer arbeiten noch ein nettes Mädel aus dem Volk heiraten darf, weil die Leute vor seinem blauen Blut ehrfürchtig auf Distanz gehen:

His birth was the obstacle which prevented him from saving the life of the mother who had given him birth.

Noch aufdringlicher klingt die Geschichte vom reichen Töchterchen Thongproi, dem von Geburt an jeder Wunsch erfüllt wird, dann erscheint sogar ein stets ergebener Ehemann – die vom Schicksal beschenkte Thongproi hat einfach alles, gleichwohl ist sie sooo unglücklich; Autor Pramoj unterstreicht es mit vielen Weisheiten aus dem Poesiealbum.

Oder die Mär von Landarzt Saeng: Der betrachtet den Tod als seinen Todfeind, forscht unermüdlich für dessen Abschaffung – und bekommt ausgerechnet Lepra. Aufdringlich didaktisch.

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Ungewöhnliche Figuren:

Viele Figuren überzeichnet Pramoj: der Bandit Loi denkbar hinterhältig und brutal; der Mönch Sem überirdisch gutmensch; die Prostituierte Phanni umgeben von Monstern und Verräterinnen, später selbst gewissenlos; Lamoms Mutter eine abgrundtief selbstsüchtige Alkoholikerin. Ihnen folgen u.a. ein Schauspieltruppenleiter, ein Autor, ein Soldat, ein Prinz, Händlerinnen. Andere Alltagsfiguren wie Lehrer, Ärzte, Polizisten oder Köche erscheinen nicht in Hauptrollen – ebensowenig wie Politiker oder Journalisten, was bei diesem Autor überrascht. Ein spezielles Kapitel für Bauern benötigt Pramoj nicht, denn viele Protagonisten arbeiten in der Jugend auf den familieneigenen Feldern.

Sogar das Wetter überzeichnet Pramoj:

The water was jet black. The storm seemed to gather strength, as if death were exalting in its victory

Star-Mönch Sem hört in diesem Buch die Stimmen von Verstorbenen und kann sie dazu bewegen, ihr geisterhaftes Gejammer aufzugeben. Dies beruhigt am Wahnsinn erkrankte Anwohner, die prompt genesen. Solch Fantasy-Content spricht mich nicht an, erscheint aber in anderen Geschichten kaum.

Laut Übersetzerin (die mit dem Autor sprach) schuf Pramoj seine Charaktere nach lebenden Vorbildern, die er auf Familienland in der Provinz Ayutthaya traf. Zumindest beim fiktiven Prinzen und beim fiktiven Autor würde man das Vorbild gern kennen, aber dazu erfahren wir nichts.

Das Unglücksboot startet offenbar im Dorf Ban Phaen (hier auf OSM), heute Teil von Sena, rund 20 Straßenkilometer westlich von Ayutthaya. Die Geschichte spielt also im geschichtlich aufgeladenen, flachen und heißen Zentralthailand voller Reisfelder, noch in Reichweite der Hauptstadt Bangkok.

Nori – The Writer:

Schreibt Buchautor Kukrit Pramoj in der Nori-Schriftsteller-Geschichte über sich selbst? Dies ist allerdings eine der wenigen Geschichten mit einem unglaublichen Zufall: Jungliterat Nori wird von einer Redaktion blöd abgewimmelt, bewahrt aber beim Abgang auf der Treppe einen besoffenen Großschriftsteller, den er schon immer verehrte, vor dem Stürzen. Zum Dank führt ihn der redselige Star-Literat in die Verlagsbranche ein.

Zufällig wird der Jungschriftsteller nun super duper erfolgreich:

His stories had taken off like wildfire

Karma? Make merit sei Dank? Doch Pramoj bringt kein konkretes Beispiel für Noris Schreibkunst, so wie jeder andere Roman über talentierte Schriftsteller auch keine Arbeitsproben liefert 🥱. Nicht mal Inhaltsangaben oder Rezensionen erfindet Pramoj. Wir sollen es einfach glauben. (Löbliche Ausnahme: Sylvie Schenks Roman d’Amour über einen fiktiven und genauer beschriebenen Roman.)

In dieser Schriftsteller-Geschichte belegt Pramoj noch etwas, das ich schon immer behaupte: mann schreibt, um kompatible Frauen zu beeindrucken. Oder,  wie ich es 70 Jahre später und 9000 km weiter nordwestlich sage: Jeder Satz ein kleines Fickmich. Doch wird die Liebe enttäuscht, so lernen wir bei Pramoj, und Hans D. Blog stimmt erneut zu, dann bricht mann alle antialkoholischen Gelöbnisse. Ja.

Pramoj erwähnt hier auch” literary circles” –  gibt es die also in Thailand 🤔? Oder gilt doch, wie es in der Geschichte heißt:

writing isn’t a real profession in this country

Die Übersetzerin und die Prinzessin:

Die 1995er-Übersetzung von Meredith Borthwick klingt jederzeit flüssig. Teils tönt der Roman biblisch oder märchenonkelhaft, das liegt sicher am thailändischen Original (das ich nicht las). Nie denkt man eine zu wörtliche “Übersetzung”. Die Übersetzerin sagt selbst im Vorwort:

I have not attempted a literal translation totally faithful to the original, but have rather tried to make the translation as readable and accessible as the original Thai.

Das ist mir recht: So entsteht etwas angenehm Lesbares, selbst wenn es nicht so hart am Original klebt. Eine Übersetzung ist eh ein Kompromiss; der soll m.E. wenigstens gut klingen, jedenfalls für mich als Freizeitleser.

Gelegentlich erläutert Meredith Borthwick, die offenbar als Teenagerin in Thailand Thai-Bücher las, einzelne Ausdrücke im Roman per Fußnote, vor allem Anreden oder die Opium-Gesetzgebung. Ich hätte gern noch viel mehr Erläuterungen – so wie bei David M. Shapard für Jane Austen; im Vorwort erklärt die Übersetzerin jedoch, sie halte sich mit Erläuterungen zurück, um den Lesefluss nicht zu stören.

Man fragt sich, ob die Übersetzerin gelegentlich Schwächen herausredigiert hat oder nicht. Überwiegend klingt Pramoj wie ein sicherer, wenn auch arg konventioneller Erzähler. Aber im Kapitel “Lek – The Prince” steht innerhalb weniger Zeilen eines einzigen Absatzes:

No-one even bothered to register the birth… No-one had registered his birth

Hätte Borthwick solche störenden Wiederholungen gern herausredigiert? Oder hat sie das hier übersehen, woanders indes redigiert?

Ganz gelegentlich bringt sie exotische Wörter wie progenitrix oder matricide. Bei einem Liedtext scheint sie zu zensieren:

“I might be a soldier,

But at least I’m not a… “

The end of the jingle made Chan and all the other passengers laugh.

Standen dort im Original auch drei Punkte? Oder etwas Deftiges? Hätte sie aufwändig erläutern müssen?

Prinzessin Siridhorn steuert ein weiteres, freundliches und sogar bewegendes Vorwort bei – sie kannte Autor und Übersetzerin persönlich und förderte die englische Ausgabe; sie wäre mir lieber als Rama X.

Persönliche Erklärung des Rezenten:

Nach zweieinhalb Geschichten sah ich die Schwächen des Buchs deutlich: keine Verbindung zwischen den elf Hauptfiguren, zu wenig Dialog, zu wenig markante Details, kein Handlungsbogen. Das ist kein Roman, nicht mal von Kurzgeschichten würde ich reden. Ich wollte also nach der dritten Geschichte aufhören und nur noch die Vorworte von Übersetzerin und Prinzessin lesen.

Doch irgendwie konnte ich nicht aufhören, auch wegen meiner Liebe zur thailändischen Provinz. Wer das jedoch verfilmt, sollte die Hauptfiguren verknüpfen, und sei es durch flüchtige Begegnungen à la Iñárritu (Babel) oder dessen Lehrling Fatih Akin (Auf der anderen Seite).

Assoziation:

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