Romankritik: Four Reigns, von Kukrit Pramoj (1953, สี่แผ่นดิน, Si Phaendin) – 7/10

Thailand

Fazit:

Der dicke Roman hat einige Schwächen: die Hauptfigur ist zu monoton engelgleich, und einiges klingt zu didaktisch Thailand-kundlich. Die erste Buchhälfte ist zu unkritisch privat.

Dennoch schrieb Kukrit Pramoj einen bewegenden Familienroman mit vielen Einblicken in Kultur, Gesellschaft, Geschichte und Sprache der oberen Mittelschicht in Thailand; mit markanten Charakteren, plausiblen Überraschungen – und tragischen Tiefschlägen, wann immer Friede-Freude-Khanom chin überhand nehmen. Die zweite Buchhälfte (ungefähr ab Rama VII) unterscheidet sich inhaltlich und stilistisch deutlich von der ersten: sie ist wesentlich politischer, verwendet Vor- und Rückschauen, und die nun mittelalte Hauptfigur erlaubt sich endlich kritische Gedanken, wenn auch nur insgeheim.

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Kein Räsonieren:

Kukrit Pramoj steigt sofort 1892 mit konkreter Handlung ein – sehr gut – und behelligt nicht mit allgemeinem Räsonieren. Laut Vorwort begann Pramoj 

with no inspiration, no forethought and no plot in mind

Hübsch kokettiert. Die Handlung schnurrt zügig und geschmeidig ab, sie wirkt geplottet, zumindest innerhalb einzelner Kapitel, teils auch darüber hinaus, und befriedigend detailsatt. Immerhin verzichtet Kukrit Pramoj (1911 – 1995) vielleicht mangels Gesamtplanung weitgehend (aber nicht komplett) auf dräuende Vorausblicke – weil er ohne Plan schrieb? Jedenfalls ist das angenehm. Der zweite Buchteil liefert öfter kleine Rückblenden wie auch vorausblickende Andeutungen, die sich meist auf Ereignisse innerhalb desselben Kapitels beziehen:

but of course Phloi could not know that yet…  blissfully unaware of what was to unfold only a few minutes later…

Gelegentlich klingen die Dialoge zu didaktisch – zu lang, zu oft über Zeremonien, Geisterglaube, arrangierte Ehen, Unterschiede zu England, Buddhismus, Moral, wandelnde Gewohnheiten und Moden. Der rund 655 Seiten starke Roman, der die Zeit von 1892 bis 1946 umfasst, wirkt gleichwohl nie wirklich drög.

Die Namen klingen wenig unterscheidbar: drei Hauptfiguren heißen Phloi, Choi und Choei; die drei Söhne Ot, On und An, eine Un gibt es auch; dazu Prem und Phoem.

Als Kind und als Erwachsene:

Die Kinderszenen im ersten, langen Buchteil zu Rama V/Chulalongkorn klingen einfühlsam und realistisch, wenn auch teils mild märchenonkelhaft. Die Schwärmerei der erstmals verliebten, jugendlichen Hauptfigur rührt an, ebenso wie ihr späteres Aufgehen in der Rolle als Ehefrau und Mutter.

Als Erwachsene ist Hauptfigur Phloi zu märchenhaft rein. (Interessantes Detail: ihrem “honey-tongued” Verehrer schenkt Phloi für die Zeit seines Dienstes in Nakhon Sawan ein von ihr bereits benutztes, zudem parfümiertes Seidenbettlaken, das er ihr einst zugedachte. Der Verehrer ist hingerissen.)

Zu Beginn des Romans, 1892, ist Phloi ca. 5 Jahre alt. Immer wieder sterben wichtige Figuren in ihrem Leben – abgöttisch verehrte Könige ebenso wie Familienangehörige, enge Vertraute oder Förderer. Zu oft zu ausführlich beschreibt Kukrit Pramoj die tiefe, tränenreiche Trauer der jungen Phloi und die ausgedehnten Zeremonien.

Zunächst unpolitisch:

Es geht bei Hof und zunächst auch später in der Familie nie um Politik, Soziales, Krankenversicherung – nur um kleine und große Aufregungen, Klatsch, Herzschmerz und Feste:

…to spend some companionably leisurely hours… Phloi spent a wholly interesting hour going over the ((photo)) collection and listening to Sadet recounting anecdotes about court life in the old days… the fun, to be sure, began with the preparations. So many things to get, to make or have made for the trip… the Inner Court had a new fashion, the excitement over the bicycle having subsided: collecting ivory boxes… ((the king)) was a keen and knowledgeable gardener… ((the king)) took pictures in his spare time and developed them himself, and did his own cooking of farang dishes… It did your heart good to know ((the king)) could come here for these recreations and to watch him stroll among the blossoming trees and the fruit trees of Dusit… in the Veranda Room, Sadet was making jasmine garlands, assisted by Phloi and another girl. It was peaceful and companionable, an afternoon very much like most afternoons in the palace… having its ups and downs inside the domestic border, with little or no involvement in what went on beyond it

Wie die Protagonisten ihr sorgenfreies Leben  im Palast und im Zuhause am Khlong finanzieren, wie das Geld für Phlois späteren Höfling-Ehemann und dessen Pferdestall, Autos, Spazierstocksammlung und Kinder in England hereinkommt – davon kein Wort. Und: König Chulalongkorn fährt monatelang nach Europa; das gab’s noch nie, aber wir hören nichts über die Ergebnisse der Reise.

Allenfalls von allgemeiner Bedeutung ist im Buch, dass der abwesende König in Thailand von seiner Frau vertreten werden kann, Frauen also nicht zwangsläufig niedere Wesen sind.

Der Autor sagt ausdrücklich, dass sich Hauptfigur Phloi nicht für Politik interessiert, außer wenn diese ihren Mann beschäftigt. Auch den Autor (und Politiker und Journalisten) Kukrit Pramoj scheint Politik und Soziales zunächst nicht zu interessieren.

Erst als Phloi Mann und vier Kinder hat, nach der Buchmitte, muss sie über Weltpolitik nachdenken: der Erste Weltkrieg scheint fern, doch er treibt die Lebensmittelpreise hoch. Phlois Mann Prem und Sohn An äußern gelegentlich Politisches. Verblüffend: Pramoj beschreibt nun auch, wie Thailand spät auf Seiten der Alliierten in den Krieg eintritt und deutsche Firmen wie “B. Grimm Company” und andere beschlagnahmt. Die Deutschen sind

ai Han. The Huns

(und die Vorsilbe ai sei “demeaning”, lehrt Pramoj dazu). (Phlois Bruder Phoem sagt auf Seite 527 der engl. Fassung “Pfui!”, ohne dass er irgendeine Verbindung zur deutschen Sprache hätte.)

Der zweite Weltkrieg bringt die japanische Invasion. Nun ist Politik ein Hauptthema.

Phloi fremdelt zunehmend mit neuen Moden und Verhaltensweisen. Schließlich konfrontiert der Autor seine Hauptfigur hautnah mit Ausländern – ein Schock für die liebe gute Phloi, und ein etwas didaktisch inszenierter Anlass, die Unterschiede zwischen Thailand und Europa herauszustellen (Autor Kukrit Pramoj studierte wie die Roman-Söhne in England). Schliesslich bricht auch die Innenpolitik massiv in Phlois Welt ein.

Soziale Fragen diskutiert der Autor aber bis zum Schluss nicht. Seltsam auch, dass Pramoj das Kompott gegen Rama VII ausführlichst diskutiert und nun erst erwähnt, dass auch ein Mordanschlag auf Rama VI geplant war, von dem Phlois geschwätziger Ehemann Prem, eine eifrige Hofschranze, gewusst hatte. Auch französische Landnahmen im Mekong-Gebiet diskutiert Pramoj erst, als diese im zweiten Weltkrieg teils rückgängig gemacht werden.

Ohnehin werden Dinge wie das veränderte politische System Thailands nicht wirklich deutlich; in erster Linie interessiert sich der Autor für die Auswirkungen auf Hauptfigur, Phloi und ihre Söhne, die unterschiedliche Positionen im politischen Machtkampf einnehmen. Nebenbei vergisst Pramoj in dieser Zeit Phlois Tochter und Schwiegertochter, Mitglieder des inneren Haushalts.

Die titelgebenden vier Könige bleiben relativ fremd. Sie werden abgöttisch verehrt, ihre Frauen und deren Schwangerschaften diskutiert, aber trotz allerlei Bohei unterscheiden sie sich wenig (einer von ihnen tritt skandalöserweise im Theater auf).

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Welcome to Thailand:

Interessant auch, im Roman spendet des Königs Hund, Mitbringsel von einem Gefängnisbesuch, für ein  thailändisches Kriegsschiff. Man denkt an

  • Rama IX und sein Buch über die Erziehung des Straßenhundes Tongdaeng (dazu Amazon-Werbelink), und an
  • Sohn-Nachfolger Rama X, der angeblich seinem Schoßhund einen militärischen Rang verlieh (dazu der Guardian).

Und wer die Selfie-Besessenheit heutiger Thailänder kennt, wundert sich nicht über eine Szene um 1900:

duty at the Turtle Garden on these afternoons was pure pleasure, especially when photographs were being taken of the group, which happened quite frequently.

Die Briefe über die Wirkung von Thaifood auf Engländer und von Europa auf Thailänder klingen zu didaktisch.

Männer und Frauen:

Männer sind teils spiel -, alkohol- oder drogensüchtig und/oder toxisch, unterm Pantoffel, untreue Tomaten, unverantwortlich sorglos happy-go lucky, teils unselbständige Babys sowie Süßholzraspler.

Frauen dienen ergeben allen Höheren, auch ihren Männern; so schmachtet die neuverheiratete Hauptfigur Phloi sträflich unfeministisch über ihren mittelprächtigen Angetrauten Prem:

I belong to him completely and absolutely. I take him as my owner, as center and mainstay of my life, forever, unless and until he himself should wish to cease being so

Hauptfigur Phloi ist das außerirdisch engel- und immergleiche Good Asian Girl par excellence. Erst als ältere Frau erlaubt sie sich gelegentlich stille, mild ironische Betrachtungen über ihre Familie oder kleine Notlügen, die den Hausfrieden wahren. Die fieseste Figur der ersten Romanhälfte ist allerdings auch eine Frau – Phlois Halbschwester Un, ein giftspritzender Hausdrachens.

Tonfall der Übersetzung:

Die englische Fassung von Tulachandra klingt souverän muttersprachlich und nie wie eine holprige Übersetzung – bei wörtlicher Rede fast schon zu geschmeidig, zu geschriftstellert. Man hat den Eindruck, dass die Übersetzerin eher entspannt nacherzählt als strikt übersetzt (ich kann es nicht prüfen). Ein paar falsche Sätze fand ich trotzdem:

Another month pass by.  … He hasn’t get a name yet. …

Dazu ein paar einsame, leicht störende Ähnlichlautungen (“presided over the proceedings… already ready”), das stimmige “elder-brotherly” und die eigentümlichen “duologue” und “radianoe”. Ab Seite 400 heißt es einmal Prapai statt Praphai und Ploy statt wie vorher und nachher stets Phloi; ein Enkel heißt Aet/Aed, in einem Absatz erscheinen Phra Barami und Phra Baramee – in einem Buch sonst ganz ohne Tippfehler. Seltsam zudem, dass der längst erwachsene und in England ausgebildete Sohn Ot seine Mutter durchweg “darling” nennt.

Kukrit Pramoj, der ebenfalls in England studierte, sagt im lange nach dem Roman geschriebenen Vorwort, die englische Fassung ziele auf flüssiges Lesen und – im Gegensatz zu anderen Übersetzungen – weniger auf Thailand-Kunde für Nicht-Thais; deswegen verzichte man auf längere Erläuterungen in Fußnoten und erkläre nur ein wenig direkt im Lauftext; ich hätte gern thaikundliche Fußnoten gelesen. Es gibt indes wunderliche Bezeichnungen wie

Chao Khun Father… Chao Khun Great-grandfather… Khun Half Brother the Bad… Khun Attendants… Khun Supervisors… Khun Officers of the Kitchen… Khun Upper-Residence Maids… Khun Dame Klip… Khun Big Sister… Khun Eldest Sister… Khun Inner Court Guard… Khun Lady Officials…

Offenbar werden hier Ränge ausgedrückt, das etwa vierseitige Glossar am Ende gibt knappe Hinweise (das Musikinstrument khong wong wird jedoch nicht erklärt). Das englische “constitution” verthaiballhornen die Protagonisten zu “khon-sati-tu-chan”. Der Thai-“Winter” erhält in der englischen Fassung Gänsefüße, in der Thai-Ausgabe vermutlich nicht (und nicht nur, weil das Thailändische keine Gänsefüße kennt)

Dazu kommen gelegentlich hübsche Thai-Redensarten wie

…inviting the lice of ill luck onto their foolish heads… fighting the fever before you have it

Pramoj lehrt einiges höfisches Thai im zweiten Buchteil und amüsiert sich auch über Doppelbedeutungen im höfischen Thai, das zunächst mit ein oder zwei Sätzen aus Kindersicht erklärt wird, z.B. hier (kursiviert wie im Buch):

“Sadet would like to know if Sadet will sadet to the Throne Hall this afternoon and if Sadet intends to sadet, then Sadet would like to sadet with her.”

Das Thai-Original des Buchs erklärt die Bedeutungen von “sadet” vermutlich nicht. Und eine Klammer im Lauftext erklärt die volkstümliche Interpretation eines Schlangentraums in meiner Ausgabe, im Thai-Original womöglich nicht. Manchmal, bei der Diskussion von alten und neuen Kleidern oder Frisuren, hätte ich gern Zeichnungen.

Die Akteure reden stets von muang Thai, nicht von phrathet Thai, und nicht von muang Siam. Doch erst 1939 wurde Siam zu Thailand umbenannt, und ein Großteil des Romans, bis Seite 575, spielt vorher; dass Kukrit Pramoj diese Umbenennung nicht erwähnt, verwundert umso mehr, als er verschiedene andere Änderungen ausführlich verwendet.

Neu lehrte mich der Roman den Ausdruck muang nok = ferne Lande; “nok” kannte ich bisher als Thaiwort für “Vogel” und als Name einer Inlandsfluglinie – es passt, dass diese Gesellschaft zumindest ein paar Ziele im Ausland anbietet.

Assoziation:

  • Alfred Habeggers Anna-Leonowens-Biografie endet im Thailand-Teil mit dem jungen Prinzen Chulalongkorn; Kukrit Pramoj beginnt gut 20 Jahre später mit der Amtszeit des nunmehrigen Königs Chulalongkorn (Rama V); beide Bücher spielen teils im Damenabteil des Bangkoker Königspalastes; Anna Leonowens wird jedoch bei Kukrit Pramoj nicht erwähnt, auch nicht als ihr einstiger Schüler und jetziger König Chulalongkorn auf eine lange Europareise geht, bei der er laut Habegger Leonowens traf (vielleicht wird sie auch deshalb ignoriert, weil ihre Bücher die Thailänder beleidigten und Leonowens ihren europäisierenden Einfluss auf Chulalongkorn übertrieb)
  • Hauptfigur Phloi ist “a born-and-bred khlong child” – wie auch viele Figuren in Kukrit Pramojs Roman Many Lives; beide Romane haben zudem wenig inneren Zusammenhalt, es gibt z.B. keine wesentlichen Bezüge zwischen frühen und späteren Buchteilen (v.a. bei Many Lives). Sie wirken linear geschrieben ohne übergeordneten Handlungsbogen.
  • die Vorbehalte gegenüber Chinesenkindern (Luk Chek) erinnern an Botans Roman Letters from Thailand (der vor allem Vorbehalte der Thai-Chinesen gegenüber Thai-Thailändern anspricht)
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