• Belletristik,  Buch,  England,  Gut,  Roman

    Romankritik: Die einzige Geschichte, von Julian Barnes (2018, engl. The Only Story) – 7/10 Sterne

    A nineteen-year-old boy, or nearly-man, and a forty-eight-year-old woman? Das fragt der Ich-Erzähler zu Beginn verblüfft – doch es funktioniert in diesem Roman über viele Jahre, jedenfalls für die zwei Hauptfiguren, weniger für die Familien und den Tennisclub, in dem sie sich begegneten (ich kenne nur die engl. Fassung und kann die Eindeutschung der langjährigen Barnes-Übersetzerin Gertraude Krueger nicht beurteilen). Amazon-Werbelinks: Die einzige Geschichte | Julian Barnes allg. | Darüber reden | Liebe usw.  Erinnerungsfetzen: Julian Barnes (*1944) textet zunächst überaus einfühlsam, erwachsen und mit scharfen Dialogen – ein Genuss. Allerdings schreibt der Ich-Erzähler mit 50 Jahren Abstand, er berichtet explizit nur einzelne, unzuverlässige Erinnerungsfetzen und kredenzt immer wieder ganze…

  • Belletristik,  Buch,  Gut,  Historisches Buch,  Roman,  USA

    Romankritik: Washington Square, von Henry James (1880) – 8/10 Sterne – mit 2 Videos

    Naive, zukünftige Erbin in New York wird von attraktivem Nichtsnutz umworben. Der Tochtervater, gutverdienender Arzt, ahnt den Braten und will den Bewerber blocken. Der jedoch wanzt sich unerschrocken an das Jungfräulein und ihre charmierte Tante heran. Henry James (1843 – 1916) erzählt mit feiner Ironie und psychologischer Einfühlung. Er verwendet kurzweilige Plot- und Stilelemente, die bei HansBlog gern gesehen werden: Reichlich vielsagender Dialog Kurze Kapitel Humor Chronologischer Bericht Liebe, Gewissenskonflikt, Betrug Ausgang lange Zeit nicht absehbar Verzicht auf Unrealistisches wie unpassendes Verhalten, krasse Zufälle Verzicht auf Gewalt Vielleicht malt Henry James die Positionen der Akteure etwas zu deutlich aus, zeichnet speziell die eingebildete Mrs Penniman etwas zu satirisch, den Tochtervater…

  • Belletristik,  Buch,  Gut,  Historisches Buch,  Italien,  Roman

    Romankritik: Daisy Miller, von Henry James (1878, 1909) – 7/10 Sterne – mit Video

    Henry James (1843 – 1916) liefert brillante Dialoge und einen kultiviert-ironischen auktorialen Erzähler, der ständig halb amüsiert, halb schockiert die Stirn zu runzeln scheint. Doch schildert Henry James die Gegensätze Europa/USA und steife Konvention/Freizügigkeit zu zaunpfahl. Das Ende konstruiert Henry James zu deutlich als Moral von der Geschicht‘ und nicht ganz glaubhaft. Seinen frühen Erfolgstext Daisy Miller von 1878 überarbeitete Henry James für die New York Edition 1909, und ich kenne nur diese spätere Fassung. Sie gilt jedoch Kritikern als verkopfter. Bei kurzen Stichproben präsentiert die zweite Fassung teils seltenere Ausdrücke – so etwa „coxcombical“ (sic), ein Wort, das dict.cc bekannt ist, Google Translate jedoch nicht wirklich („coxcombisch“). Es gibt…

  • Annehmbar,  Belletristik,  Buch,  England,  Roman

    Romankritik: Liebe usw., von Julian Barnes (2000, engl. Love etc) – 5/10 Sterne

    Nach einigem Vorgeplänkel schließt der Roman Love etc. nahtlos an den Vorgänger Darüber reden (engl. Talking It Over, 1991) an. Das heißt auch: Es gibt wieder endlose Schwafelei von Oliver/Ollie. Ich hätte gewettet, dass Autor Julian Barnes die Logorrhoe seines evtl. Alter ego im zweiten Band zügelt. Aber nein, Ollie muss wieder obsolete  Betrachtungen und hintervorletzte Fremdwörter sekretieren und die Handlung ausbremsen, noch störender als im ersten Buch. Kostprobe:  In the years since we returned to Londinium Vetus from the Land which knoweth not the Brussels Sprout… a rather mastubatory implication… I’m merely a binoculared student of the passing caravanserai of life Nicht nur dieser Protagonist ist beschämend selbstverliebt, auch…

  • Annehmbar,  Belletristik,  Buch,  England,  Roman

    Romankritik: Darüber reden, von Julian Barnes (1991, engl. Talking It Over) – 6/10 Sterne – mit Video

    Drei Personen reden abwechselnd direkt zum Leser und schildern jeweils ihre Sicht eines sich anbahnenden Liebesdreiecks; teils erzählen sie ihre Geschichte fortlaufend, ohne Überlappung. Diese interessante Konstruktion schwächt Julian Barnes durch die Geschwätzigkeit und Blasiertheit der Figur Oliver/Ollie samt Angeber-Fremdwörtern („Gillian’s rebarbatively quotidian motor-car“) und anlasslosem Deutsch oder Französisch mitten im englischen Satz (ich kenne nur das engl. Original und kann die Eindeutschung von Gertraude Krueger nicht beurteilen). Autor Julian Barnes schnitzte sich mit Ollie ein Vehikel für alle Bildungsvokabeln und Randbemerkungen, die er schon immer mal im Druck sehen wollte; dazu gehört auch eine peinsame Schilderung vom Herrenurinal. Immerhin, so hebt sich Oliver deutlich von den anderen zwei Sprechern…

  • Belletristik,  Buch,  Deutschland,  Historisches Buch,  Hot Country Entertainment,  Reise,  Reisebuch,  Sachbuch

    Kritik: Nolde und ich. Ein Südseetraum, von Hans Christoph Buch (2013) – 3/10 Sterne

    Wie monetarisiert man die 2012er Teilnahme an einer ornithologischen Gruppenreise nach Papua-Neuguinea? Man erfindet ein paar Kapitel über die historische Tropenreise eines berühmten Malers und verschneidet diese Fiktion mit eigenen Tagebuchstichwörtern. Wenn man damit in der renommierten Anderen Bibliothek landet, muss es gut sein. Vielleicht findet Buch sein Buch lässig, ich finde es nachlässig. Amazon-Werbelinks: Hans Christoph Buch | Emil Nolde | Südsee Wahrheit und Dichtung: Hans Christoph Buch (*1944) mischt vier historische Kapitel fast unverbunden mit zwei kürzeren Kapiteln Reisetagebuch aus 2012, insgesamt nur rund 123 Seiten. Die historischen Kapitel über Ada und Emil Nolde sowie „Queen Emma“ sind fiktionalisierte Biografie – Details könnten erfunden sein, aber man weiß…

  • Belletristik,  Buch,  Deutschland,  Roman

    Romankritik: Café der Unsichtbaren, von Judith Kuckart (2022) – 6/10 Sterne

    Judith Kuckart erzählt zunächst nicht uninteressant von der Telefonseelsorge in Berlin – von Seelsorgern und Anrufern. Der Roman beginnt annehmbar und baut dann stark ab: Schwächen: Kuckart schildert einzelne Episödchen und Anrufe. Von einer Romanhandlung kann keine Rede sein – ein paar Plot-Spurenelemente begegnen zu Beginn, und dann wartet man lange vergeblich auf Fortsetzung. Kuckart verteilt ihre Aufmerksamkeit auf sieben ehrenamtliche und einen hauptamtlichen Seelsorger sowie auf allerlei Anrufer. Das wirkt unübersichtlich und unfokussiert. Kuckart wechselt zwischen allwissender und Ich-Erzählerin, der Perspektivwechsel erfordert wiederholtes störendes Umschalten beim Leser. Dabei erscheint Ich-Erzählerin Frau von Schrey so selten, dass sie sich mitunter mitten im Buch erst wieder einführen muss. Das Zitat spricht…

  • Annehmbar,  Belletristik,  Buch,  England,  Hot Country Entertainment,  Indien,  Interkulturell,  Kurzgeschichten

    Kritik Kurzgeschichten: We Move, von Gurnaik Johal (2022) – 4/10 Sterne

    Sein nächstes Buch sollte Gurnaik Johal ganz in Amritsari-Punjabi schreiben, mit Einsprengseln in Hindi und Marathi zwecks Multikultur. Er sollte es mit weiteren Sikhismus- und Pogrom-Hintergründen spicken und jeden, der die Lektüre verweigert, anklagen. Gurnaik Johal schreibt lakonisch über Inder (oder Indischstämmige?) im Londoner Stadtteil Southall in Flughafennähe. Teils schildert er junge, schon etablierte Paare; teils ältere, sehr traditionelle Herrschaften; sowie junge Männer und Frauen, die gerade erst eintreffen und sich einfinden müssen. Überwiegend spielt die indische – genauer: – Punjabi-Herkunft eine Rolle, wegen Heimwehs, Start im neuen Land, Erinnerungen, Fremdenfeindlichkeit oder Kulinarik. Einige der besten Geschichten könnten auch unter Weißen spielen, so das erste Stück Arrival um ein junges…

  • Auswandern,  Biographie,  Buch,  Gut,  Historisches Buch,  Musikbuch,  Sachbuch,  USA

    Kritik Biografie: Georg Kreisler gibt es gar nicht, von Hans-Jürgen Fink und Michael Seufert (2007) – 7 Sterne

    Ein hochinteressanter Charakter hat ein hochinteressantes Leben in einer hochinteressanten Zeit. Er und seine langjährige Bühnen- und Lebenspartnerin reden darüber ausführlich und „auf das Freundlichste“ (Nachwort) mit zwei Journalisten, sie überreichen Fotos und Zeitungsausschnitte, auch die witzigen Liedtexte darf man zitieren. Besser könnte die Ausgangslage für eine Biografie kaum sein – freilich wirkt es schon fast wie eine schönfärberische Autobiografie. Auch Kreislers autobiografische Texte zitieren die Autoren kommentarlos. Viele Buchaussagen basieren scheint’s allein auf Kreislers Erzählungen und Zeitungsausschnitten. Ob Kreisler auch weniger Löbliches erwähnte? Im Buch kommt das nicht vor. Kritik gibt’s nicht (auch keine Lobhudelei), und nur ein einziges Mal zitieren Fink/Seufert explizit einen anderen Zeitzeugen: „Jürgen Schmidt erzählt…“…

  • Biographie,  Buch,  Gut,  Historisches Buch,  Sachbuch,  USA

    Kritik Biografie: The Colonel: The Extraordinary Story of Colonel Tom Parker and Elvis Presley, von Alanna Nash (2003) – 7 Sterne

    Alanna Nash arbeitet gut heraus, wie Elvis-Manager „Colonel Tom Parker“ schon als Kind fürs Showgeschäft schwärmte: Er präsentierte verbotswidrig Kunststückchen im Pferdestall des Vaters, jobbte bei Zirkus und Varietees. Seine ersten Musiker vermarktete Parker bei Wohltätigkeitskonzerten zugunsten des Tierheims, das er leitete. Colonel Parker  (1909 – 1997) traf erst Ende 1954 auf Elvis Presley (1935 – 1977). Darum bespricht Nash auf den ersten 117, engbedruckten Seiten andere Aktivitäten – zunächst Parkers Kindheit in den Niederlanden, dann Kirmes- und Zirkus-Arbeit in den USA, schließlich Tour-Manager von Countrymusikern. Auf Seite 308 von 342 Seiten Haupttext ist der Sänger tot. Obwohl Parker ihn um viele Jahre überlebte, gibt Nash nun die Chronologie auf;…

  • Bayern,  Belletristik,  Buch,  Deutschland,  Gut,  Historisches Buch,  Roman

    Kritik Kurzroman: Der harte Handel, von Oskar Maria Graf (1832) – 7/10 Sterne

    Oskar Maria Graf erzählt spannend und unidyllisch vom Leben auf dem Dorf mit Versicherungsbetrug, Ausbeutung, Hinterfotzigkeit und kalkuliertem Sex unter Unsympathen. Der Titel „Der harte Handel“ passt perfekt zu Atmosphäre, Intrigen und Geschacher im Roman. Die Figuren werden äußerst lebendig, aber nicht liebenswert. Das Herz erwärmt nichts, zumal die Geschichte gutteils im Winter spielt. Nebenbei lernen wir einiges über Landwirtschaft, Gesetzgebung und Justizvollzug; Graf nahm die Handlung offenbar aus der Zeitung. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Adjektivselig: Ironisch kredenzt Oskar Maria Graf (1894 – 1967) derbes Bairisch – schon in der Erzählstimme, und erst recht in der wörtlichen Rede. Graf…

  • Annehmbar,  Bayern,  Belletristik,  Buch,  Deutschland,  Historisches Buch,  Kurzgeschichten

    Kritik Kurzgeschichten: Dorfbanditen, von Oskar Maria Graf (1832) – 6/10 Sterne

    Oskar Maria Graf erzählt Schnurren aus Kindheit und Jugend. Teils sind es haarsträubende Missgeschicke, etwa der Gang übers brüchige Starnbergerseeeis oder die Torte auf dem Parkettboden („wie ein auseinandergespritzter Fladen Kuhdreck“). Solche Kurzgeschichten enden oft unspektakulär mit einer weinenden Mutter und Prügel vom Vater. Andernteils kredenzt Graf derbe Lausbubenstreiche, etwa Schüsse auf Nachbars Spitz, die wiederum oft mit Mutters Tränen und Vaters Tatzen enden oder auströpfeln, ohne knackigen Schlusspunkt. Das wirkt ein bisschen harmlos, auch wenn gelegentlich Soziologie herausschaut, etwa beim Kinderbesuch bei feinen Herrschaften und bei der harten Mitarbeit der schulpflichtigen Bäckerkinder. Gegen Ende verkünden die Überschriften erstmals Portraits familienfremder Akteure: Bäckereimitarbeiter wie „Der spinnerte Franzl“, „Einen damischen Mischer“…

  • Buch,  Deutschland,  Gut,  Sachbuch

    Sachbuch-Kritik: Wolf Schneider, Speak German (2008) – 7 Sterne

    Schneider schreibt kraftvolles, knackiges Deutsch. Er schreibt sehr kompakt und verdichtet; man kann nichts streichen, ohne gleichzeitig Information zu verlieren. Sein Buch ist voller Fakten und interessanter Informationen – Linguistik genauso wie unzählige kuriose Beispiele. Die sehr einfachen Hauptsätze passen syntaktisch auch in die Bild-Zeitung. Amazon-Werbelinks: Wolf Schneider | Deutsche Sprache Manchmal eifert Wolf Schneider ziemlich; so bringt er lange Listen mit sehr kurzen deutschen Wörtern, denen er entsprechende längere englische Wörter gegenüberstellt. Teils sucht er sich aber  englische Wörter aus, die man auch durch ein kürzeres englisches Wort ersetzen könnte. Zum Beispiel nimmt er das deutsche „Mangel „und stellt dem das längere englische „deficiency“ gegenüber. Doch stattdessen könnte man…

  • Buch,  Deutschland,  Gut,  Sachbuch

    Kritik Politik-Buch: Alleiner kannst Du gar nicht sein, von Peter Dausend, Horand Knaup (2020) – 7/10 Sterne

    Peter Dausend und Horand Knaup liefern interessante Einblicke in die deutsche Politik – auch in wenig bekannte Gefilde wie die Beziehungen Abgeordneter-Mitarbeiter oder Abgeordneter-Partner (ich gendere nicht). Aber richtig investigativ ist das nicht: Sie bringen offenbar nur, was nach Interviews freigegeben oder schon woanders berichtet wurde, auch wenn sie gelegentlich anonymisieren. Amazon-Werbelinks: Dieses Buch von Dausend/Knaup | Deutsche Politik Literarischer Streckbetrieb: Vor allem produzieren die Autoren zu viele Verallgemeinerungen und heiße Luft. Das ermüdet. Beispiele: Macht gibt es überall, in jedem sozialen Gefüge… Für Minister kann die Bereinigungssitzung zur Tortur werden. Ist es ((sic)) häufig auch… Die soziale Kontrolle ist, wie im richtigen Leben auch, nicht immer schmerzfrei… Aber beginnen…

  • Belletristik,  Buch,  Frankreich,  Gut,  Roman

    Romankritik: Striptease, von Georges Simenon (1958) – 7/10 Sterne

    Eine kleine Stripteasebar in Cannes: Die alternden Tanzdamen fürchten die Konkurrenz der blutjungen Neuen. Ein oder zwei wollen zudem den Besitzer erobern. Doch der ist schon verheiratet und polyamor; seine Frau sitzt krank an der Kaschemmenkasse, sie ahnt die Konkurrenz. Amazon-Werbelink: Bücher Georges Simenon Unglamourös, nicht dramatisierend: Georges Simenon (1903 – 1989) recherchierte selbstlos für uns im Rotlichtmilieu und schildert scheinbar realistisch, unglamourös, nicht dramatisierend oder eifernd me-too. Er zeigt vor allem die Rivalitäten der Tänzerinnen – Hauptfigur Célita ist schon 32 und hat ohne Perspektive, die anderen sind teils fett, bettelarm oder jung und zum Anbeißen. Simenon erzählt federleicht, mit vielen kurzen Absätzen, Dialog und kleinen Rückblenden, die nie…

  • Annehmbar,  Biographie,  Buch,  Frankreich,  Historisches Buch,  Sachbuch

    Kritik Biografie: Françoise Gilot, Die Frau, die Nein sagt: Ihr Leben mit und ohne Picasso, von Malte Herwig (2015) – 4/10

    Fazit: Malte Herwig schreibt keine Biografie, sondern eine lange Reportage, eine unkritische Anhimmelung, in der fast nur Françoise Gilot und der Reporter zu Wort kommen. Gilot redet meist über Leben und Kunst allgemein, liefert aber wenig biografische Fakten. Amazon-Werbelinks: Pablo Picasso | Françoise Gilot | Malte Herwig Märchenonkel: Herwig schreibt lebendig und mit eigenen Reporter-Erlebnissen. Teils klingt er auch wie ein Märchenonkel, und er erfindet Dinge (nehme ich an) wie etwa: Für einen winzigen Augenblick nistete sich der Gedanke in Picassos Herz ein, dass es… Schön erfunden (oder doch authentisch?) ist die Szene mit Rasierschaum-Tränen auf Picassos Gesicht. Auch die fünfjährige Françoise im Schimpansenkäfig klingt fast fiktional. Melodramatisch wirkt das…

  • Buch,  England,  Gut,  Lustig,  Sachbuch,  USA

    Buchkritiken: 84 Charing Cross Road (1970) & Die Herzogin der Bloomsbury Street (1973), von Helene Hanff – 7/10 Sterne

    84, Charing Cross Road ist ein kauziger, zunehmend persönlicher Briefwechsel zwischen der exzentrischen, buchversessenen Helene Hanff in New York und einem Londoner Antiquariat zwischen 1949 und 1969. Er spielte sich angeblich wirklich so ab. In der Fortsetzung Die Herzogin der Bloomsbury Street berichtet Helene Hanff (1917 – 1997) in Tagebuchform von einer Bildungs- und Publicity-Reise nach London Beide Bücher sind witzig, kurz, gründen angeblich komplett auf Tatsachen; mein englisches Taschenbuch bringt sie in einem einzigen, dünnen Band. Amazon-Werbelinks: Helene Hanff 84, Charing Cross Road (1970, 7/10): 84, Charing Cross Road brachte mich in der ersten Hälfte oft zum Lachen. Brief für Brief entsteht eine transatlantische, ungewöhnliche Freundschaft; man bespricht allmählich…

  • Belletristik,  Buch,  Deutschland,  Gut,  Historisches Buch,  Kurzgeschichten

    Kritik: Theodor Storms Novellen (1861 – 1888) – 7/10 Sterne

    1861 – Veronica – 6/10 Junge, schöne Ehefrau gewährt jungem Galan außerehelichen Kuss unter rauschendem Mühlrad – und das als Katholikin, vor dem Osterfest. Der Beichtstuhl wartet, gefühlt sogar das Schafott. Für Stormverhältnisse sehr schmalzig, pompös und anzüglich, dazu aufdringlich religionskritisch. In der Länge eine Kurzgeschichte, aber weil’s Storm ist, eine kurze Novelle. Assoziation: Punktuell der schwüle Herr von Keyserling. 1861 – Drüben am Markt – 7/10 Junger Kleinstadtarzt schlichter Herkunft möchte die edle Bürgermeistertochter freien. Sein patrizischer Freund, der Justizrat in spe mit türkischen Morgenmänteln und indischem Schnupftuch, soll helfen. Rund, heiter, einen Tick nüchterner als andere Geschichten, wie immer wohlkomponiert. Ungewöhnlich der abrupte Einstieg ohne allgemeine Schilderung, so…

  • Biographie,  Buch,  Deutschland,  Gut,  Historisches Buch,  Sachbuch

    Kritik Biografie: Theodor Fontane, von Regina Dieterle (2018) – 7 Sterne

    Regina Dieterle berichtet zu ausführlich von Theodor Fontanes Eltern und Großeltern, auch von Napoleon, Preußen und Sachsen. Immerhin schreibt sie meist lebendig und wissenswert für Geschichtsinteressierte. Sie portraitiert vor allem in der ersten Hälfte auch Randfiguren und deren Ehefrauen seitenlang. In Leipzig schreibt Dieterle sogar über Promis, die Jung-Apotheker Theodor Fontane explizit nicht traf: Leipzig 1841 – ohne Schumann, Mendelssohn, Bach? Bekannte Schriftsteller wie Gerhart Hauptmann oder Theodor Storm spielen nur Minirollen; Gottfried Keller wird angesprochen, aber nicht getroffen. Der anglophile Fontane las zudem allerlei Engländer, doch scheinbar nicht Jane Austen. Weit ausführlicher begegnet der (ich gendere nicht) Leser dem Fontane-Clan, seinen Freunden sowie allerlei Regierenden und Verlagsmenschen bis hin…

  • In Andalusien war ich auch mal.
    Auswandern,  Buch,  Hot Country Entertainment,  Interkulturell,  Sachbuch,  Spanien

    Kritik Spanien-Bericht: Capricho. Ein Sommer in meinem Garten, von Beat Sterchi (2021) – 3 Sterne

    Dies ist teils Autofiktion, teils Huertofiktion. Beides nervt. Denn sonst ist es nichts. Irgendetwas über Landflucht, Klimawandel, persönliche Abenteuer, demografischen Wandel, Bürgerkrieg, Tourismus, spanische oder EU-Politik, Dorfsoziologie etc. sagt Beat Sterchi nicht, auch wenn er ein bisschen über die Szene an der Küste spottet und in der Hängematte Bücher über Spanien ab 1936 liest. Sterchi erwähnt nicht mal Castellón, die spanische Provinz, aus der er berichtet, verrät nur ein paar Kleinstadtnamen Nichts passiert. Kein Konflikt, kein Drama, keine Liebe, kein pfiffiger Dialog, keine Politik im Dorf. Von den Nachbarn hören wir ein paar kauzige Sprüche. Zwischendurch kommen Frau und Tochter zu Besuch, sie erhalten wenige Zeilen. Den „lieben Freund Miguel“…

  • Auswandern,  Buch,  Frankreich,  Gut,  Sachbuch,  USA

    Kritik Koch-Reportage aus USA, Frankreich: Dreck, von Bill Buford (2020, engl. Heat) – 7 Sterne

    Bill Buford praktiziert zunächst kurz bei französischen Starköchen an der US-Ostküste und verbringt dann den größten Teil seines Buchs in Frankreich – samt Frau und dreijährigen Zwillingen. Aus den logistischen Schwierigkeiten und Auseinanderssetzungen in der Familie gewinnt Buford witzige Dialoge. Ansonsten wirkt die häufige Selbstironie im ersten Drittel teils pflichtschuldig und routiniert. Er sagt selbst beim Sprachunterricht: I’d thrown myself into telling a story with a punch line. Ein ganzer Buchteil heißt gar „Lyon with Twin Toddlers“. Und besonders verblüffend für den Amerikaner in einer französischen Bäckerei: money changing hands, all cash. Hauptsache, es schmeckt: Bill Buford redet viel übers Kochen heute und in früheren Jahrhunderten, über Köche, über abstoßenden…

  • Buch,  Gut,  Italien,  Sachbuch,  USA

    Kritik Koch-Reportage aus USA, Italien: Hitze, von Bill Buford (2006, engl. Heat) – 7 Sterne

    Bill Buford schreibt bestens lesbar, reportageartig, und vor allem zu Beginn mit Selbstironie, die mich oft kichern ließ*. Er gibt sich als naiver Koch-Sklave und schildert nicht nur eigene Küchen-Erlebnisse in Italien und New York, sondern auch das Leben seines ersten „Sklavenhalters“, Starkoch und Me-too-Opfer Mario Batali. Auch weitere koch- und lebensmittelbesessene Amerikaner und Italiener portraitiert Buford. Gelegentlich wird Buford bei italienischer Kochgeschichte des Mittelalters und Einzelheiten über Pasta und Essbares vom Schwein zu kleinteilig. Unaufdringlich und doch reportage-artig erzählt Bill Buford (*1954) nicht nur von Batalis Lehrzeit in Italien 1989, sondern auch aus dem Leben mexikanischer Küchenhilfen in New York oder von toskanischen Rinderzüchtern  – reizvolle Einblicke, selbst wenn…

  • Belletristik,  Buch,  Gut,  Roman,  USA

    Krimikritik: Der Fall Galton, von Ross MacDonald (1959, engl. The Galton Case) – 7 Sterne

    Fazit: Die Handlung schnurrt gut konstruiert und gut geölt herunter, und Ross MacDonald erzählt ebenso elegant und gut geölt – zu gut: Dialoge klingen geschriftstellert, hübsche Zufälle helfen weiter. Amazon-Werbelinks: Buch Der Fall Galton | Ross MacDonald allg. auf Deutsch | Krimis insgesamt Kultiviert: Der Krimi beginnt genre-typisch: Privatdetektiv Archer betritt eine Anwaltskanzlei, ein Fall-Hintergrund wird erzählt. Das funktioniert alles dialogisch. Bald gibt’s die erste Leiche. Die hat scheint’s nicht mit dem diskutierten Geschehen zu tun und lässt unerwünschte Zufälle befürchten. Ross MacDonald (1915 – 1983) schreibt kultiviert über kultivierte oder zumindest gutbürgerliche Menschen. Alles ist gepflegt, ziseliert, geldig, nonchalant. Der Autor betont die Besonderheiten seiner Figuren fast zu stark,…

  • Belletristik,  Buch,  Gut,  Kurzgeschichten,  USA

    Kritik Kurzgeschichten/Essays: Collected Stories, von Raymond Carver (Library of America) – 8 Sterne – mit Links

    Fazit: Raymond Carver (1938 – 1988) besticht durch hochrealistische Dialoge und Szenen, die zum Greifen plastisch wirken. Er verzichtet komplett auf absurdes Verhalten und unrealistische Zufälle, wenn auch nicht immer auf unrealistische Entscheidungen und unverständliche oder mehrdeutige Aussprüche gegen Ende der Geschichten. Gelegentlich in späteren Texten wird er zu religiös/humanistisch, bringt zu aufdringliche Symbole. Der gerühmte Minimalismus erscheint vor allem in den Geschichten der Sammlung Wovonwir reden, wenn wir von Liebe reden; die hatte Lektor Gordon Lish rabiat gekürzt und verändert. Die große Mehrzahl der Texte ist sehr lesenswert, auch die Essays (sofern man sich fürs Schreibhandwerk und für Carvers Leben interessiert). Amazon-Werbelinks: Raymond Carver | Richard Yates | Richard…

  • Biographie,  Buch,  Gut,  Sachbuch,  USA

    Kritik Biografie. Raymond Carver, A Writer’s Life, von Carol Sklenicka (2009) – 8 Sterne

    Carol Sklenicka schreibt einfühlsam, fast literarisch, gelegentlich mild psychologisierend und in melodischem, gut lesbarem Englisch. Sie bringt die Essenz Carverscher Kurzgeschichten in fast schlichten Worten stimmig auf den Punkt. Sklenicka setzt die Pronomen so, dass Bezüge nie unklar klingen, eine Meisterleistung. Ich würde vielleicht auch Romane von ihr lesen. Sklenicka sprach von 1994 bis 2009 mit hunderten Wegbegleitern und flüchtigen Bekannten; nur Carvers zweite Frau Gallagher schwieg. Die Biografin zeichnet nach, wie Raymond Carver Inspiration zu seinen Stories sammelte, etwa die Entstehung der Geschichte Kathedrale und wie sie für Carver selbst eine Abkehr vom alten, betont kargen Stil bedeutete. Sie sieht viele Bezüge zwischen Carvers Gedichten und seiner Jugend (zitiert…

  • Thailand
    Annehmbar,  Auswandern,  Biographie,  Buch,  Deutschland,  Historisches Buch,  Hot Country Entertainment,  Interkulturell,  Sachbuch

    Kritik Biografie: Walter Spies, Ein exotisches Leben, von Michael Schindhelm (2018) – 5/10 Sterne

    Trotz aller Schwächen kann diese Walter-Spies-Biografie kaum ganz missglücken, denn Autor Michael Schindhelm hat fantastisches Ausgangsmaterial: Walter Spies‘ abenteuerliches Leben in Russland, Deutschland, auf Java und Bali mehrere Forschungsberichte zu Walter Spies Walter Spies‘ pfiffige Briefe v.a. an seine Mutter Walter Spies‘ faszinierende Malerei Michael Schindhelm zitiert freilich zu wenig Spies-Briefe zu knapp zu kalauer-orientiert; und er zeigt zu wenig Spies-Bilder zu klein. Auf Bali präsentiert Schindhelm seine Figur vor allem als Kulturlöwe und Promi-Gastgeber. Amazon-Werbelinks: Walter Spies | Michael Schindhelm Anfang mit dem Ende: Am Anfang schildert Autor, Regisseur und Kulturmanager Michael Schindhelm das Kriegs-Ende von Walter Spies – ein billiger dramaturgischer Trick. Und er schildert es kursiviert, mit…

  • Belletristik,  Buch,  Deutschland,  Kurzgeschichten

    Leseeindruck Kurzgeschichten: Sommerhaus, später, von Judith Hermann (1998) – mit Video

    Ich konnte mit Judith Hermanns hochgelobten, preisgekrönten Kurzgeschichten sehr wenig anfangen und habe darum nur 4,5 von neun gelesen (s.u.). Die Protagonisten wirken teils willkürlich, aufdringlich unbürgerlich („auf verschiedene Hamster getreten“); nur die Geschichte Hunter-Tompson-Musik klingt umgekehrt zu stromlinienförmig sozialmoralisch. Ich weiß nicht, warum die Kritiker hier vor allem Berlin-Geschichten sehen: Rote Korallen spielt überwiegend in Russland um 1904, Hurrikan in Jamaika, Hunter-Tompson-Musik in New York. Wunderlich: Einmal heißt es „Auf Costa Rica“ – meint Judith Hermann (*1970) damit das mittelamerikanische Land oder eine mir unbekannte Insel? Auch sonst gab es sprachliche Schwächen. Freie Assoziation: Einige inhaltliche und sprachliche Parallelen zum Nachfolgeband Nichts als Gespenster sind unübersehbar, so etwa „Wieso…

  • Annehmbar,  Buch,  Deutschland,  Filmbuch,  Sachbuch

    Kritik Sachbuch: Drei Zimmer Küche Porno, von Philip Siegel (2017) – 6 Sterne

    Fazit: Philip Siegel schreibt eingängig, leicht lesbar, meist reportage-artig im Präsens mit viel Dialog und ein paar überraschenden Details. Aber seine Akteure und ihr Hobby sind öde, und auch Siegels Erzählstil erregt mich nicht. Amazon-Werbelink: Philip Siegel Kontaminierte Salzstangen: TV-Journalist Philip Siegel berichtet hochdetailliert von Rudelsex-Dreharbeiten – samt kontaminierten  Salzstangen, Kinderschritten im Hausflur und Last-Minute-Ejakulation bei erschlaffendem Kameraakku. Siegel konzentriert sich weitgehend auf unscheue Amateure in Deutschland, berichtet ihre bürgerlichen Berufe, aber sonst nicht viel: Nah kommt man keiner Figur, alle interessieren sich bei Siegel nur für ihren Hochleistungssport; und der erscheint monoton und strikt vorgezeichnet, so abwechslungsreich wie Spülmaschine-ausräumen. Mehrfach merkt Siegel an, er finde die Szene unerotisch, Akteure…

  • Buch,  Deutschland,  Gut,  Historisches Buch,  Sachbuch

    Kritik Sachbuch: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955, von Harald Jähner (2020) – 7 Sterne – mit Links

    Fazit: Harald Jähner schreibt sehr flüssig und eingängig. Er gibt seiner Sozialgeschichte knapp genug Fotos mit. Allerdings störten mich Stilblüten, Zeigefingerei, inhaltliche Inkonsistenzen und zu viel Verallgemeinerung aufkosten von Einzelschicksalen. Amazon-Werbelinks: Harald Jähner | Deutschland Stunde Null | Deutschland Nachkriegszeit Orientierung an Romanen: Harald Jähner orientiert sich in dieser Zeitbeschreibung gern an bekannten Fotografen, Architekten, Theaterkritiker-Memoiren, Frauenzeitschriften (betextet von Männern) und Romanzitaten (von Borchert und Habe Ungenießbares, dito Andersch mit einem belletristischen Beleg weiblichen  Sexhungers). Dazu ein Zitat aus dem „Herrenmagazin ‚Er'“, dessen Erguss für Jähner „zu den trashigsten Texten“ gehört, aber gleichfalls viel Platz erhält, ebenso wie ein Schrottroman „von der tapferen deutschen Erika“, ehedem  „Stripteasetänzerin und Schlammcatcherin“ (S.…

  • Annehmbar,  Biographie,  Buch,  England,  Sachbuch

    Kritik Memoiren: Joseph Anton, von Salman Rushdie (2012) – 5/10 Sterne – mit Links

    Fazit: Salman Rushdie schreibt meist flüssig, fast journalistisch und halbwegs spannend. Doch das Buch funkelt nie, es gibt keinen Dialog und keine Vertiefung in andere Charaktere als Rushdie. Es ist eine nicht endende Reihung immer neuer Komplikationen über viele 100 Seiten: Todesdrohungen, bizarre Ex- und quengelnde oder hohle Neu-Frauen, Trennung vom Sohn, wankelmütige Verlage und Politiker, Krebstode im Umfeld, öffentliche Attacken, ständige Wohnungsnot, drakonische Sicherheitsvorschriften. Dazu kommen Rushdies Selbstgerechtigkeit, Weinerlichkeit, Eigenlob und Wiederholung immer gleicher Positionen. Ein fähiger nicht-autorisierter Biograf könnte den Stoff besser liefern. Amazon-Werbelinks: Salman Rushdie allgemein | Joseph Anton Leben mit der Fatwa: Man denkt beim Lesen zunächst an eine allgemeine Autobiografie Rushdies, und so steht’s auf…