Buchkritik: Unheile Heimat, von Annemieke Hendriks (2009) – 7/10

Fazit:

Die Autorin liefert interessante Einblicke in entlegene Winkel Europas, in denen Kulturen und Sprachen aufeinandertreffen – in Dörfern und Regionen sowie in einzelnen Familien. Ihr Stil ist zu wohlmeinend didaktisch, zudem schreibt sie zeitweise zu Banales, produziert Stilblüten und Tippfehler.

Die komplexen Familienverhältnisse und die verschlungenen Wege der Akteure zwischen Ländern, Regionen und Tätigkeiten erfasste ich nicht immer. In mindestens zwei Familien arbeiten jeweils mehrere Mitglieder im grenzüberschreitenden Kulturbereich oder in der Lokalpolitik gemischt-ethnischer Kommunen – solche Figuren mit langerprobter Agenda und routinierter Rede finde ich weit langweiliger als Menschen, die sich ohne berufliche Kontakte und Erfahrungen interkulturell durchschlagen müssen.

Viel Gefühl:

Annemieke Hendriks textet entspannt gut lesbar. Offenbar schrieb die Niederländerin das Buch direkt auf Deutsch, und es erschien zuerst in Deutschland.

Zwar berichtet Hendriks über politische Konflikte und Gefühlslagen in den verschiedenen Ländern – allgemein und bei ihren Gesprächspartnern. Jeglichen geschichtlichen Hintergrund erzählt Hendriks indes nicht wie eine Lehrerin, sondern verpackt ihn didaktisch und narrativ “wertvoll“ in Gedanken und Dialoge ihrer Akteure:

“Du, Sepp”, sagt Doris, “erinnerst du dich noch an den Geschichtsunterricht, wie er in unserer Schulzeit war? Vor dem Anfang des zweiten Weltkriegs…”

Besonders im zitierten Kärntenkapitel erscheint viel dialogisierte Politik, zudem spukt der leibhaftige Jörg Haider durch die Zeilen. Die anderen Hauptkapitel sind unpolitischer, abgesehen von wiederkehrenden Klagen über Korruption vor allem in Osteuropa. Im Nachwort erfahren wir, dass das Buch von mehreren Stiftungen unterstützt wurde, auch mit “Finanzierungshilfe“ – vielleicht wirkt sich das auf die Textqualität aus.

Oft klingt Hendriks zudem reichlich gefühlig und groschenheftig, so auf Seite 70:

+++Daria hat ungewohnt viel Zeit. Erst um 12 Uhr muss sie das Café öffnen. Sie streift durchs leere Haus. Womit soll sie anfangen? Mit dem Spielzeug, der Wäsche? Noch eben eine Tasse Kaffee, diesen ruhigen Morgen muss sie genießen…

Die Paare der Annemieke Henriks verstehen sich grundsätzlich blendend, sie muss es wirklich nicht mehr aussprechen, tut es aber:

Sie sind ein harmonisches Paar… alles gefällt ihm an ihr, noch immer, nun schon seit fast 20 Jahren… er berührt mit seinem bloßen Fuß liebkosend ihren Schuh

Das etwas streng Menschelnde des Buchs unterstreicht Hendriks, indem sie ihre Protagonisten stets nur mit dem Vornamen auffährt (s.o.).

Wer interkulturelle Reibungen oder Aha-Momente zwischen Ehepartnern erwartet, wird von diesem Buch enttäuscht. Die Gegensätze existieren vor allem auf Dorf- und Bürokratieebene. Spätestens bei der sechsten Geschichte, in Rumänien, wurde mir das zu monoton und meine Aufmerksamkeit sackte.

Das Einkaufen, das Haarefärben:

Die Autorin bringt zu viel banalen Alltag: ein Wochenende auf dem Land, das Einkaufen, das Renovieren, das Haare färben, ohne  Bezug zum interkulturellen Buchthema. Man denkt manchmal an eine “Zeit”-Reportage, die achtsam klingen muss; oder an Friede-Freude-Eierkuchen-TV-Doku-Formate wie “Zu Tisch in” oder “Geo-Reportage”: dort plaudern einfache Leute nett und lehrreich miteinander und backen herzig Kuchen, als ob ihnen nicht Kameramann, Tonmensch und Journalist auf den Füßen ständen.

So ähnlich lesen sich auch Hendriks’ Reportagen. Und: Was die Figuren bei Hendriks wie auch in diesen Dokus sagen, klingt oft didaktisch wertvoll und arrangiert, aber nicht lebensecht.

Ausnahmsweise wünsche ich mir darum, Hendriks hätte ihre Rolle als Beobachterin auch im Haupttext thematisiert.

Henriks’ Akteure wirken in ihrer provinziellen Umgebung leicht außergewöhnlich, sind oft unternehmungslustiger, alternativer und vielleicht auch freundlicher als das weit weniger polyglotte, weniger kosmopolitische, nicht gemischt verheiratete Umfeld. Dieses Umfeld beschreiben Henriks oder ihre Akteure wiederholt als unliebenswert, z.B. russische Bewohner Lettlands, die Polen insgesamt oder die Ungarn gegenüber Deutschen.

Im Kärnten-Slowenien-Kapitel trifft Henriks reihenweise Volksgruppen-Aktivisten – sehr langweilig. Da weiß man vorher, was die sagen.

Sechs Familien:

Annemieke Hendriks porträtiert sechs Familien, deren Partner aus zwei unterschiedlichen europäischen Ländern stammen, oft aus zwei Ländern oder Volksgruppen, die sich kritisch betrachten. Sie besuchte ihre Akteure mehrfach ca in den Jahren 2006 bis 2008. Die Unterkapitel beginnen mit Spitzmarken wie “Pécs, im Hochsommer” oder “Ein Jahr später, im Frühsommer” – doch Annemieke Hendriks nennt generell keine Jahreszahlen wie 2007 oder 2008; warum nicht?

Eine große SW-Europakarte auf der ersten und in Wiederholung auf der letzten Doppelseite hebt besuchte Ortschaften hervor. Ein paar kleine Schwarz-Weiß-Gruppenfotos gibt es auch. Ich vermisste Familienorganigramme zumindest für die komplexe, weit gestreute Kärntner Bagage.

Hendriks erzählt die Geschichte jeder Familie durchgehend, ohne hin und her zu wechseln zwischen den Familien und Ländern. Sie zitiert im Hauptteil aber auch nicht Wissenschaft, Politik oder Statistik – die sechs intereuropäischen Familien beherrschen das Bild allein, bekommen allerdings viel Lehrreiches in den Mund gelegt. Eigene politische Ansichten und minimal Autobiografisches äußert Hendriks nur im langen Vorwort.

Hendriks schreibt ausdrücklich nichts Erfundenes und betont, dass die Familien unter Klarnamen erscheinen. Die Autorin sieht bei sich aber gleichwohl “die Stilmittel Spott und Ironie” in einer “literarisch angehauchten Konstruktion”. Henriks hat ihre Familien “über mehrere Jahre hinweg immer wieder besucht”. Sie legt ihre Recherche- und Schreibweise in der Einleitung detailliert offen.

Ganz frei von Fehlern ist das Buch nicht, etwa hier:

(Seite 11) Der Berichterstattung zufolge war ein Amsterdamer Schulbus… lange durch polnische Grenzbeamte aufgehalten und die Reisenden schikaniert worden.

(Diesen Fehler vermeidet sie später im Satz “Die Menschen sind stur, die Bürokratie ist schwerfällig und die Unterstützung mager.”)

Fies: “Mietswohnung” mit Koppel-s, “wegen dem Ganzen” (S. 177). Lustig “Das klinkt einladend” (S. 176, ein paar weitere Tippfehler folgen). Überflüssig anglophon die Sporthalle “als erste Landmarke” (Seite 280). Das Wort “Zigeuner” erscheint im Rumänien-Kapitel wiederholt. Unschön (S. 234):

Gabriella weiß selbst am besten, wie schwer es ist, wenn eine ganze Familie von ((sic)) wenigen hundert Euro über die Runde ((sic)) kommen muss.

Außerdem schreibt Henriks mehrfach “entwischt”, wenn es im Kontext nicht recht passt (Seite 42, 49 (es geht nicht um heimliches oder schnelles Entfernen) (deutsches Lektorat für die Körber-Stiftung: Dr. Kerstin Schulz))

Häufiger begegneten mir Sätze, die leicht missverständlich oder nicht ganz rund klingen, auch wenn ich mein Unbehagen nicht immer begründen kann. Ein Beispiel von Seite 190:

Annas Familie, die Kezars, wurde von den Partisanen immer wieder heimgesucht, um sich Lebensmittel zu besorgen.

Oder Seite 193,

In denjenigen 205 Kärntner Ortschaften, wo zumindest ein Viertel der Einwohner slowenischstämmig war.

Oder über die Familie Mistelbauer auf Seite 197:

Sehr sportlich sind die Mistelbauer.

Oder Seite 248:

Christa überlegt sich, ob die drei, Andrea und ihre beiden Töchter, nach ihr schlagen.

Seite 263:

… eine international anerkannte Koryphäe der Pécser Avantgarde der Sechziger

Es gibt auch schöne Sätze wie über den Primat der Wirtschaft in der EU:

..beim EU-Vorgänger EWG stand das “W” schließlich für “Wirtschaft” und nicht für “Werte”.

In stets angenehmem Tonfall benennt die Niederländerin Hendriks im Vorwort und im Hauptteil Dinge, die deutsche Medien kaum flüstern: gefeierte deutsch-polnische Begegnungsstätten würden kaum besucht; deutsche Qualitätsmedien prangerten Polenhass westlich der deutsch-polnischen Grenze an, verschweigen aber den Deutschenhass auf der östlichen Seite.

Persönliche Erklärung:

Schön war es für mich, im Buch  Europa-Patrioten zu begegnen, zuerst der Autorin Annemieke Hendriks, die sich im Vorwort outet und erneut in der Danksagung:

meine Begeisterung für das vereinigte Europa

Erst rechnete ich auch den Kärntner Slowenen Bernard Sadovnik dazu, weil er sich im Buch über eine schrankenlose Schengengrenze freut. Auf den anschließenden Seiten wird indes klar, dass ihn nicht Europa interessiert, sondern nur die Kärntner Slowenen – jeder hat seine partikularen Interessen, entweder sich, seine Familie, seine Volksgruppe oder die Region, vielleicht das Land. Aber gewiss nicht Europa:

Kärntner Slowenen, die idealen Vermittler.

Und die Fragen bei einer Diskussionsveranstaltung dort

betreffen Kärnten, Kärnten und noch mal Kärnten.

Mir selbst wird immer warm ums Herz, wenn ich in ferner Ferne eine Europafahne sehe, z.B an einem südspanischen excelentísimo ayuntamiento – are we one?

Assoziation:

  • Die Parallelen zu Hendriks’ späterem Tomaten-Buch fallen deutlich auf: der achtsame Zeitreportageton; das gesamteuropäische Thema mit Blick über alle Grenzen hinweg; die Konzentration auf Personen (und unübersichtliche Familienkonstellationen), nicht Strukturen; die doppelseitige Europakarte mit Hervorhebung der Buch-relevanten Orte; die schlichten, aber informativen Schwarz-Weiß-Fotos; die vielen lehrreichen Zitate dutzender Gesprächspartner.
  • Elizabeth Flocks Langzeitbeobachtung indischer Paare. Beide Autorinnen nehmen sich im Hauptteil völlig zurück, sehr angenehm. Flock splittet jedoch die Geschichte jedes Paares in fünf Teile auf, unterbrochen durch Berichte der anderen Protagonisten. Dagegen erzählt Hendriks die Geschichte jeder Familie durchgehend – besser so.
  • Eine (kürzere) deutsch-polnische Beziehung liefert auch der Roman Ein Jahr unter Eulen von Roman Israel
  • Amazon-Werbelinks: Unheile HeimatAnnemieke HendriksLandwirtschaft Europa

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