Kritik Sachbuch indische Liebe: The Heart Is a Shifting Sea – Love and Marriage in Mumbai, von Elizabeth Flock (2018) – 8 Sterne

Fazit:

Die Autorin liefert einen brillanten, sehr tief gehenden Einblick in indische, urbane Mittelschicht-Seelen und indischen Alltag heute. Sie schreibt zudem hervorragend und in leichtem Englisch und nimmt sich selbst völlig zurück – das Buch lässt sich kaum weglegen. Störend nur, dass Flock jede Paargeschichte in fünf Teile zerhackt und nicht am Stück erzählt.

Die US-Journalistin Elizabeth Flock beobachtete über fast zehn Jahre drei indische Paare in der Wirtschaftsmetropole Mumbai (vormals Bombay) – Schulleiter, Kleinunternehmer, Händler, Journalisten, IT-Spezialisten, Hausfrauen; zwei Hindupaare und ein Muslimpaar; Liebeshochzeit und arrangierte Ehe.

Viele Jahre:

Elizabeth Flock begann ihre Interviews 2008 und recherchierte vor allem 2014 und 2015; in dieser Zeit lebte sie teils bei ihren Akteuren und freundete sich eng mit ihnen an. Sie berichtet teils über Vorgänge ab 1999 oder ab 1983, aus den Teenagerjahren der Akteure und von ersten, platonischen Liebeleien.

Die häuslichen Szenen klingen atemberaubend nah, wie im Roman, auch Bettszenen, Krankenhaus, intime Gedanken und Heimlichtuerei einschließlich Ehebruch. Flock sagt im Buch, dass sie einiges selbst miterlebte und anderes rekonstruierte – aus langen Einzelgesprächen, Mails, Fotos, Justiz- und Arztdokumenten. Einige kurze Chats zitiert sie wörtlich.

Die Autorin suchte sich Figuren, die starke Geschichten ergeben: gescheiterte erste Liebe, konfessionelle Schranken, Familiendramen, wilder Aberglaube, brutale Eltern, teuflische Schwiegereltern, Ehebruch, Ausbruch, Fehlgeburt, Depression, Selbstmordversuch. Zwei der drei Frauen widersetzen sich teils unerwartet ihren Eltern, Männern und Schwiegereltern und treiben so die Handlung.

Literarisch:

Flock erzählt wertfrei und wirkt nie empört, einseitig oder auch nur empathisch. Vielleicht hat sie eine leichte Sympathie für die Frauen, die freilich Schlimmes erdulden.

Elizabeth Flock schreibt enorm flüssig, setzt gekonnt Schwerpunkte und überspringt anderes. Ganz flüchtig streut sie Geschichtliches oder Religion ein, etwa zur Gottheit Ganesh oder zu Scheidungsregeln, auch historische Terroranschläge und religiöse Unruhen spielen kurz eine Rolle. Manche Fachbegriffe klärt Flock nicht, aber man will den Fluss der Erzählung auch gar nicht brechen. Es gibt kein Glossar.

Flock gibt Dialoge der Eheleute häufig als direkte Rede wieder und wechselt innerhalb einer Szene oft mehrfach die Perspektive zwischen Mann und Frau. Vergangenes schildert sie meist wie eine allwissende Erzählerin, nur selten explizit als Erinnerung ihrer Akteure  – so erscheint die Einfühlung in die Eheleute sehr intim, wie ein Roman.

Die Autorin nimmt sich zurück:

Die Geschichten wirken auch deshalb so intim, weil Flock sich selbst völlig zurücknimmt. Nicht nur, dass sie auf Wortgeklingel, aufdringlichen Schreibstil, rhetorisches Fragen, verkrampfte Originalität und Wissenshuberei verzichtet:  Abgesehen vom Vorwort erwähnt Flock nie, dass sie dabei war, vieles live miterlebte und auch in den USA ständig Nachrichten von ihren Akteuren erhielt.

Man fragt sich, inwieweit Flock allein durch ihre offene Beobachtung und als gut aussehende Singlefrau die drei Ehen beeinflusste und vielleicht die Ehefrauen zu mehr westlicher Unabhängigkeit motivierte. (Dass die Anwesenheit des Feldforschers die Erforschten beeinflusst, ist Ethnologen nicht neu, wird aber von Flock nicht diskutiert.)

Dreimal 40 und mehr:

Flock erzählt grob chronologisch, wechselt aber regelmäßig zwischen den Paaren. Im Hauptteil des Buchs bekommt jedes Paar dreimal gut 40 Seiten. Im Vor- und Abspann hat jedes Paar erneut je einen Kurzauftritt. So entfallen auf jede Konstellation fünf Buchteile, immer wieder unterbrochen durch die Abschnitte der anderen Paare.

Ich vergesse dabei Details, und ich möchte gern ein Paar durchgehend beobachten und so besonders genau kennenlernen. Darum habe ich erst die Geschichte eines Paares komplett gelesen, und dann das nächste Paar über alle Abschnitte hinweg. Dank Inhaltsverzeichnis fällt das Überblättern der zwischengeschalteten Abschnitte für andere Paare leicht (die nichtssagenden lebenden Kolumnentitel helfen allerdings nicht weiter).

Störende Unterbrechungen:

Es gibt keine offenkundigen Klammern oder Parallelen zwischen den Geschichten und keinerlei Überschneidung in Personal oder persönlicher Entwicklung; die Figuren entwickeln sich denkbar unterschiedlich; Flock vergleicht auch nirgendwo etwas, zieht kein Fazit. Es spricht also wenig dafür, alle 40 Seiten zu einem anderen Paar zu schwenken.

Ich glaube zu erkennen, dass Flock die Geschichte jedes Paares zunächst durchgehend abdrucken wollte, ohne regelmäßige Wechsel zu anderen Paaren. Das wäre besser gewesen, auch wenn das Buch dann deutlicher in drei disparate Blöcke zerfällt. Aber heutige literarische Werke – auch diese literarische Reportage – müssen wohl immer verschachtelt sein: Flock zerhackt ihre Narrative, andere Autoren verwirbeln Geschichten durch überflüssige Rückblenden.

Besonders verwirren die Kurzauftritte aller drei Paare in Vor- und Abspann. Warum diese Inhalte dort erscheinen, weiß ich nicht. Einige 40-Seiten-Episoden enden mit dramatisch vorausblickenden Einzeilern. Sie wirken wie angeklebte, billige Cliffhänger.

Dieses Unterbrechen der Geschichten ist m.E. der einzige ernsthafte Mangel eines ansonsten brillanten Buchs. Zudem betont Flock zu oft Hitze, Schwüle und streunende Tiere (“on a blistering hot day in June”, S. 302, solche Sätze erscheinen unentwegt; oder ganz typisch, “slanting rain that rendered umbrellas useless and sent the city’s stray cats hiding, mewing”, S. 310).

Kein Mangel, aber auch nicht so schön: Die Geschichten enden im Irgendwo, es gibt keinen gefällig runden Abschluss. Anders als im Roman geht das Leben außerhalb der Buchdeckel weiter, und wer weiß, ob Flock irgendwann Fortsetzungen liefert.

Reine Reportage:

Ich verstehe Flock so, dass sie nichts bewusst erfindet. Aus dem Vorwort:

This is a work of nonfiction.

Also ein reines Sachbuch – willkommen in einer Zeit fiktionalisierter Biografien und autofiktionaler Ergüsse. Die Autorin anonymisiert jedoch die Namen ihrer Akteure. Damit könnten sie teils immer noch identifiziert werden, und ich vermute deshalb, dass Flock unerklärt weitere Details verfremdete.

Meine englische US-Hardcover-Ausgabe von Harper zeigt keine Fotos, doch sonst ist Flock übersichtlich: Ihr Buch beginnt mit einem kurzen Recherchebericht samt Zeitrahmen, Umständen und Motivation; dem folgen Landkarten von Indien und Mumbai sowie Besetzungslisten der Hauptbeteiligten samt Umfeld. Hier nennt Flock auch die Berufe der Akteure, nicht jedoch deren Geburtsjahr – ein Versäumnis; auch eine Zeitleiste hätte mir gefallen. Das Buch endet mit einem kurzen, interessanten Literaturverzeichnis.

Freie Assoziation:

Persönliche Erklärung:

M.E. ist The Heart Is a Shifting Sea “objektiv” hervorragend, aber es trifft zusätzlich auch meine *persönlichen* Faibles: Geschichten aus dem globalen Süden, speziell Asien; nicht romantisierte Liebe; hart recherchierte wahre Geschichten (nicht fiktional an den Haaren herbeigezogen); trotzdem einige gute Dialoge; manchmal sogar lustig, unaufdringlich erzählt von einer Autorin, die sich weitestmöglich zurücknimmt und weder durch persönliche Auftritte noch durch sprachlichen Klimbim auftrumpfen muss


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