Geschichtsprofessor Michael Wolffsohn hat eine fulminante wahre Geschichte an der Hand: seine Großeltern, gutsituierte Deutschjuden, fliehen 1939 aus Deutschland nach Palästina und kehren schon 1949 zurück nach Berlin. Doch Wolffsohn kleistert sein 3-Generationen-Narrativ mit Kalauern zu, erzählt zudem unorganisiert, nicht um Nachvollziehbarkeit bemüht und selbstgerecht.
Darum habe ich die Lektüre auf Seite 100 von 416 (zzgl. Anhang) abgebrochen, gebe keine Sternewertung und poste dies nicht bei Amazon oder Goodreads. Mein Leseeindruck hier bezieht sich also nur auf die ersten 100 Seiten.
Geschichte und Geschichten:
Als Familienmitglied hat Wolffsohn (*1947) Zugriff auf Geschichten und Fotos, als Prof. Dr. hat Wolffsohn Zugriff auf Geschichte und womöglich etwas kritische Distanz. Nein, keine kritische Distanz: Figuren, die seiner Familie oder den Juden schadeten, tritt er per Buch hinterher (z.B. S. 31), und immer wieder bezieht er selbstgerecht Partei. Schwarzafrikaner, die ihm in München nach 2015 Bratwurst und Leberkäse servieren, lobt er sehr explizit.
Häufig stört die etwas nichtlineare Erzählweise, die sich nur vage an der Chronologie orientiert, etwa in den Abschnitten über die Großeltern – anders als die Protagonisten springt die Erzählung zwischen Berlin und Palästina (später Israel) hin und her. Das klingt eher wie ein Familienplausch an der Kaffeetafel, nicht wie ein möglichst nachvollziehbarer Bericht für Außenstehende. Historisches wird teils unverständlich knapp angedeutet, nur für einen Prof. Dr. histor. erschließbar (z.B. S. 88 über “1941/42” und “Oktober 1942”).
Zudem zitiert Wolffsohn über viele Seiten einen gefilmten O-Ton seiner Mutter Thea, der nur knapp anmoderiert und typografisch nicht abgesetzt ist. Auch dieses viele Seiten lange Zitat springt willkürlich erinnernd zwischen den Epochen. Wolffsohn nennt das “Bögen in spätere Zeiten und zu späteren Akteuren schlagen” (ebf. S. 65), ich nenne es Nicht-Beherrschen des Materials – der Autor hätte es ordnen müssen.
…oder andere Füllsel:
Noch auffälliger bricht Wolffsohn den eigenen Erzählfluss durch gelegentliche, teils fast narzisstische Einwürfe. So erzählt er vom Glauben seiner Großmutter und knallt völlig unnötig die eigene Position dazwischen (S. 37):
Ich halte Jesus für ((…))
Achso? Und über das Video mit den Erinnerungen seiner Mutter berichtet Wolffsohn ebenso überflüssig wie fremdeitel (S. 65):
Anders als viele Politiker, Professoren, Journalisten und andere Berufs- und Vielredner kam sie ohne ein einziges Äh oder andere Füllsel aus.
Gerade erst hatte ich das Mumbai-Sachbuch The Heart Is a Shifting Sea (2018) gelesen; dort nimmt sich die Autorin in Sprache und Inhalt maximal zurück, um ganz auf das Hauptthema zu fokussieren – bewundernswert, und welch ein Unterschied zu Wolffsohn.
Leidvolle Leidfolgen:
Wolffsohn schreibt ein aufdringliches Deutsch, das sich unentwegt eitel nach vorn drängt: rhetorische Fragen, Witze, bemüht Originelles, abgehangene Phrasen, Platitüden, herbeigesuchte Reime. Einige Beispiele aus meiner 2017er-dtv-Hardcover-Ausgabe (jeweils keine wörtliche Rede, sondern die Erzählstimme des Autors):
S. 9: Das Wo besagt viel über das Wie, es ändert nichts am Dass.
Ebf. S. 9: An den leidvollen Leidfolgen ihrer Eltern leiden R. und J. noch heute
S. 16: ((…)) streifte seine Jacke ab, wenn er denn eine getragen hatte, denn es war brütend heiß
S. 19: Karls Spritztour sollte auch eine Spritzkur sein
Wortspiele und -pirouetten, die man bald schon aus der Ferne fürchtet:
S. 22: Samuels abendländische Nachfahren führten eher – mal besser, mal schlechter – das Wort, manchmal das große.
S. 25: anno dunnemal
S. 26: Entzückt wurde das Portemonnaie gezückt
S. 27: Trotzdem muss Wasser in den vermeintlich guten Wein gegossen werden
Wie ein deutscher Humoriker mit Publikumsbespaßungsauftrag:
S. 35: wie die berühmte Faust aufs Auge
S. 44: der reale Hund war ihr denn doch zu realhündisch
S. 45 ((…)) Crêpes Suzettes goutieren. Gutes goutieren und “am Oli” residieren.
S. 53: Zwar lebt der Mensch “nicht vom Brot allein”, doch ohne Brot kann er nicht leben.
S. 54: Längst will Deutschland nicht mehr judenrein sein. Längst lässt es Juden rein.
Hier schon, auf Seite 54, fragt man sich, wie das an Lektorat und Autor vorbei aufs Papier gelangt. Dazu kommen ein paar leibhaftige Fehler wie “denen ((sic)) man damals habhaft wurde” (S. 30, richtig “deren”).
Mit Bildteil:
Auf dem Blatt ganz vorn steht herausgehoben: “Mit Bildteil”. Dies sind 14 SW-Familienfotos auf acht Seiten – also reichlich mager, wenn auch in guter Qualität; einige Seiten im “Bildteil” bleiben zudem überwiegend weiß. Bilder von historischen Ereignissen bringt Wolffsohn nicht.
Nachdem die Fotos ohnehin auf Textdruck-Papier stehen, hätte man sie auch einzeln auf den chronologisch passenden Seiten im Buch einbauen können – speziell solche Bilder, die Wolffsohn ausführlich diskutiert – anstatt drei Wolffsohn-Generationen en bloc in eine Bildstrecke zu klemmen.
Obwohl es sich wirklich angeboten hätte, gibt es keinen grafischen Stammbaum, sondern nur eine “Genealogie”-Liste (1 Seite).
Freie Assoziation:
- Großvater Karl Wolffsohn lernte bei den Verlegern Ullstein, in den 1920er Jahren überschnitt sich der Weg der Familien in Berlin
- Rezensionsnotizen auf Perlentaucher.de
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