Belletristik
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Romankritik: Die einzige Geschichte, von Julian Barnes (2018, engl. The Only Story) – 7/10 Sterne
A nineteen-year-old boy, or nearly-man, and a forty-eight-year-old woman? Das fragt der Ich-Erzähler zu Beginn verblüfft – doch es funktioniert in diesem Roman über viele Jahre, jedenfalls für die zwei Hauptfiguren, weniger für die Familien und den Tennisclub, in dem sie sich begegneten (ich kenne nur die engl. Fassung und kann die Eindeutschung der langjährigen Barnes-Übersetzerin Gertraude Krueger nicht beurteilen). Amazon-Werbelinks: Die einzige Geschichte | Julian Barnes allg. | Darüber reden | Liebe usw. Erinnerungsfetzen: Julian Barnes (*1944) textet zunächst überaus einfühlsam, erwachsen und mit scharfen Dialogen – ein Genuss. Allerdings schreibt der Ich-Erzähler mit 50 Jahren Abstand, er berichtet explizit nur einzelne, unzuverlässige Erinnerungsfetzen und kredenzt immer wieder ganze…
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Romankritik: Washington Square, von Henry James (1880) – 8/10 Sterne – mit 2 Videos
Naive, zukünftige Erbin in New York wird von attraktivem Nichtsnutz umworben. Der Tochtervater, gutverdienender Arzt, ahnt den Braten und will den Bewerber blocken. Der jedoch wanzt sich unerschrocken an das Jungfräulein und ihre charmierte Tante heran. Henry James (1843 – 1916) erzählt mit feiner Ironie und psychologischer Einfühlung. Er verwendet kurzweilige Plot- und Stilelemente, die bei HansBlog gern gesehen werden: Reichlich vielsagender Dialog Kurze Kapitel Humor Chronologischer Bericht Liebe, Gewissenskonflikt, Betrug Ausgang lange Zeit nicht absehbar Verzicht auf Unrealistisches wie unpassendes Verhalten, krasse Zufälle Verzicht auf Gewalt Vielleicht malt Henry James die Positionen der Akteure etwas zu deutlich aus, zeichnet speziell die eingebildete Mrs Penniman etwas zu satirisch, den Tochtervater…
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Romankritik: Daisy Miller, von Henry James (1878, 1909) – 7/10 Sterne – mit Video
Henry James (1843 – 1916) liefert brillante Dialoge und einen kultiviert-ironischen auktorialen Erzähler, der ständig halb amüsiert, halb schockiert die Stirn zu runzeln scheint. Doch schildert Henry James die Gegensätze Europa/USA und steife Konvention/Freizügigkeit zu zaunpfahl. Das Ende konstruiert Henry James zu deutlich als Moral von der Geschicht‘ und nicht ganz glaubhaft. Seinen frühen Erfolgstext Daisy Miller von 1878 überarbeitete Henry James für die New York Edition 1909, und ich kenne nur diese spätere Fassung. Sie gilt jedoch Kritikern als verkopfter. Bei kurzen Stichproben präsentiert die zweite Fassung teils seltenere Ausdrücke – so etwa „coxcombical“ (sic), ein Wort, das dict.cc bekannt ist, Google Translate jedoch nicht wirklich („coxcombisch“). Es gibt…
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Kritik Kurzroman: Der harte Handel, von Oskar Maria Graf (1832) – 7/10 Sterne
Oskar Maria Graf erzählt spannend und unidyllisch vom Leben auf dem Dorf mit Versicherungsbetrug, Ausbeutung, Hinterfotzigkeit und kalkuliertem Sex unter Unsympathen. Der Titel „Der harte Handel“ passt perfekt zu Atmosphäre, Intrigen und Geschacher im Roman. Die Figuren werden äußerst lebendig, aber nicht liebenswert. Das Herz erwärmt nichts, zumal die Geschichte gutteils im Winter spielt. Nebenbei lernen wir einiges über Landwirtschaft, Gesetzgebung und Justizvollzug; Graf nahm die Handlung offenbar aus der Zeitung. Amazon-Werbelinks: Bayern-Bücher | Gerhard Polt | Oskar Maria Graf | Ludwig Thoma | Lena Christ Adjektivselig: Ironisch kredenzt Oskar Maria Graf (1894 – 1967) derbes Bairisch – schon in der Erzählstimme, und erst recht in der wörtlichen Rede. Graf…
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Romankritik: Striptease, von Georges Simenon (1958) – 7/10 Sterne
Eine kleine Stripteasebar in Cannes: Die alternden Tanzdamen fürchten die Konkurrenz der blutjungen Neuen. Ein oder zwei wollen zudem den Besitzer erobern. Doch der ist schon verheiratet und polyamor; seine Frau sitzt krank an der Kaschemmenkasse, sie ahnt die Konkurrenz. Amazon-Werbelink: Bücher Georges Simenon Unglamourös, nicht dramatisierend: Georges Simenon (1903 – 1989) recherchierte selbstlos für uns im Rotlichtmilieu und schildert scheinbar realistisch, unglamourös, nicht dramatisierend oder eifernd me-too. Er zeigt vor allem die Rivalitäten der Tänzerinnen – Hauptfigur Célita ist schon 32 und hat ohne Perspektive, die anderen sind teils fett, bettelarm oder jung und zum Anbeißen. Simenon erzählt federleicht, mit vielen kurzen Absätzen, Dialog und kleinen Rückblenden, die nie…
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Kritik: Theodor Storms Novellen (1861 – 1888) – 7/10 Sterne
1861 – Veronica – 6/10 Junge, schöne Ehefrau gewährt jungem Galan außerehelichen Kuss unter rauschendem Mühlrad – und das als Katholikin, vor dem Osterfest. Der Beichtstuhl wartet, gefühlt sogar das Schafott. Für Stormverhältnisse sehr schmalzig, pompös und anzüglich, dazu aufdringlich religionskritisch. In der Länge eine Kurzgeschichte, aber weil’s Storm ist, eine kurze Novelle. Assoziation: Punktuell der schwüle Herr von Keyserling. 1861 – Drüben am Markt – 7/10 Junger Kleinstadtarzt schlichter Herkunft möchte die edle Bürgermeistertochter freien. Sein patrizischer Freund, der Justizrat in spe mit türkischen Morgenmänteln und indischem Schnupftuch, soll helfen. Rund, heiter, einen Tick nüchterner als andere Geschichten, wie immer wohlkomponiert. Ungewöhnlich der abrupte Einstieg ohne allgemeine Schilderung, so…
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Krimikritik: Der Fall Galton, von Ross MacDonald (1959, engl. The Galton Case) – 7 Sterne
Fazit: Die Handlung schnurrt gut konstruiert und gut geölt herunter, und Ross MacDonald erzählt ebenso elegant und gut geölt – zu gut: Dialoge klingen geschriftstellert, hübsche Zufälle helfen weiter. Amazon-Werbelinks: Buch Der Fall Galton | Ross MacDonald allg. auf Deutsch | Krimis insgesamt Kultiviert: Der Krimi beginnt genre-typisch: Privatdetektiv Archer betritt eine Anwaltskanzlei, ein Fall-Hintergrund wird erzählt. Das funktioniert alles dialogisch. Bald gibt’s die erste Leiche. Die hat scheint’s nicht mit dem diskutierten Geschehen zu tun und lässt unerwünschte Zufälle befürchten. Ross MacDonald (1915 – 1983) schreibt kultiviert über kultivierte oder zumindest gutbürgerliche Menschen. Alles ist gepflegt, ziseliert, geldig, nonchalant. Der Autor betont die Besonderheiten seiner Figuren fast zu stark,…
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Kritik Kurzgeschichten/Essays: Collected Stories, von Raymond Carver (Library of America) – 8 Sterne – mit Links
Fazit: Raymond Carver (1938 – 1988) besticht durch hochrealistische Dialoge und Szenen, die zum Greifen plastisch wirken. Er verzichtet komplett auf absurdes Verhalten und unrealistische Zufälle, wenn auch nicht immer auf unrealistische Entscheidungen und unverständliche oder mehrdeutige Aussprüche gegen Ende der Geschichten. Gelegentlich in späteren Texten wird er zu religiös/humanistisch, bringt zu aufdringliche Symbole. Der gerühmte Minimalismus erscheint vor allem in den Geschichten der Sammlung Wovonwir reden, wenn wir von Liebe reden; die hatte Lektor Gordon Lish rabiat gekürzt und verändert. Die große Mehrzahl der Texte ist sehr lesenswert, auch die Essays (sofern man sich fürs Schreibhandwerk und für Carvers Leben interessiert). Amazon-Werbelinks: Raymond Carver | Richard Yates | Richard…
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Kritik Kurzgeschichten: Irische Passagiere, von Richard Ford (2020, engl. Sorry for your Trouble) – 6,89/10 Sterne
Richard Fords Personal ist Ü30 bis Ü50, gehobene Mittelklasse, oft geschieden, teils (auch) verwitwet. Sie sind in Liebesdinge verstrickt. Serielles Heiraten generiert zuviel Personal auf der ersten Seite der Geschichte und dialogfreie, teils verschachtelte Rückblenden. Mehrfach schildert Ford ausgiebig Krankheit und Tod, so dass PW stöhnte: Ford’s unrelenting exploration of life’s bleakness and sadness makes these stories enervating Ford kann aber auch Teenager*: I wanted my mother to have a boyfriend, so she would not pay so much attention to me Amazon-Werbelinks: Richard Ford | John Updike The Irish in America: Scheinbar handeln alle Geschichten (s.u.) von Iren (ein „r“) in oder aus den USA, und die Sammlung sollte im…
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Romankritik: Daheim, von Judith Hermann (2021) – 7 Sterne
Judith Hermann schreibt betont achtsam, zart, feminin, spröd, mild wunderlich. Teils pseudo-literarisch-lyrisch wie Seit fast einem Jahr lebe ich auf dem Land, an der östlichen Küste ((…)) an dieser Küste Warum schreibt sie nicht „Ostsee“? Warum nicht einen Ortsnamen? Oder heißt die Gegend Daheim? Für echten, kernigen Dialog ist Judith Hermann zu deutsch, aber ganz verzichten mag sie auch nicht, also kreiert sie einen manirierten Zwitter aus direkter und indirekter Rede, und die Fragen stets fragezeichenfrei (sic): Ich sagte, wie soll ich mich fühlen. ((…)) Wieso fragen Sie mich das. ((…)) Sie würde sagen, und. Wie gefällt dir das. Amazon-Werbelinks: Judith Hermann | Dörte Hansen | Daniela Krien Otis, Mimi,…
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Kritik Roman: Stolz und Vorurteil, von Jane Austen (1813, engl. Pride and Prejudice) – 7 Sterne – mit Videos
Um Seite 50 herum wollte ich das Buch fast rauswerfen. Ich überblickte das zahlreiche Personal nicht ganz – nicht mal mit den Personenlisten und kernkraftwerkschaltplangleichen Organigrammen aus der Wikipedia. Außerdem erschien mir das Gedankengut vieler Protagnisten allzu hohl, nur auf Konvention, Geld und bella figura gerichtet: Mr. Bingleys stattliches Vermögen, bei dessen Erwähnung ihre Mutter immer ganz munter wurde, erschien in ihren Augen wertlos, verglichen mit der Uniform eines Fähnrichs. Zudem trägt Jane Austen (1775 – 1817) die Satire dick auf, die unsympathischen Figuren reden allzu krass unsympathisch. Die Hauptfigur Elizabeth Benneth strahlt zu sehr in ihrer abgeklärten, vernunftorientierten Art, die sich auch nicht von hochmögenden Adelsnasen einschüchtern lässt. Ein…
- Auswandern, Belletristik, Buch, England, Gut, Hongkong, Hot Country Entertainment, Interkulturell, Roman
Romankritik: Aufregende Zeiten, von Naoise Dolan (2020, engl. Exciting Times) – 8 Sterne
In Hongkong hat der reiche Banker Julian, 28, Brite, eine WG+ mit der armen irischen Englischlehrerin Ava, 22: Sie lebt gratis bei ihm, packt seine Koffer, erledigt den Müll und erträgt seine billigen chinesischen Zigaretten; nachts geht’s manchmal in die Kiste, zumindest oral. Aushälter und Haushälterin betonen das Unverbindliche, letztere etwas zähneknirschend. Ihre Sicht zu Romanbeginn: I am glad Julian does not demand intimacy, and annoyed at him for not offering it. (Ich kenne nur das engl. Original und kann die Eindeutschung von Anne-Kristin Mittag nicht beurteilen.) Allmählich äußert sich in flapsigen Randbemerkungen, im Abholen am Flughafen, auch Sympathie. Er nennt sie, so die Ich-Erzählerin, a tiger cub, and I…
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Romankritik: Meine dunkle Vanessa, von Kate Elizabeth Russell (2020, engl. My Dark Vanessa) – 8 Sterne
Kate Elizabeth Russell beschreibt die Annäherung des etwa 42jährigen Englischlehrers Strane an seine verhuschte, 15jährige Schülerin Vanessa atemraubend genau: Worte, Gesten, Berührungen, nur leicht übergriffig, sensibel rückversichernd, gleichwohl zielorientiert. Die Literatur-affine Vanessa ist verwirrt, bald ergeben. Das liest sich oft sehr gut, auch dialogreich. Wie andere US-Autoren, die literarisches Schreiben studierten (John Irving, T.C. Boyle) klingt Russell momentweise zu perfekt, zu ausgefeilt; sie verzichtet aber auf wilde Vergleiche und Wortgeklingel. Zumeist wirkt das Buch beunruhigend realistisch. Nur ganz vereinzelt hielt ich etwas für klar unplausibel (s.u.). Meine dunkle Faszination: Der Roman mit seinen 368 engbedruckten englischen Seiten ist überaus spannend – auf dunkle, verstörende Art, nie heiter, immer bedrohlich. Das…
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Kritik Roman und 2 Verfilmungen: Überredung, von Jane Austen (1817, engl. Persuasion) – 7 Sterne – mit Videos
Der Roman: Jane Austen plaudert elegant, markant und flüssig (im englischen Original; nicht in meiner mittelprächtigen Eindeutschung; s.u.). Sie schafft spannende soziale Situationen, lebhafte Dialoge und plastische Kulissen, ohne unrealistisch, melodramatisch oder aufdringlich symbolisch zu werden – es klingt fast wie genau beobachtete Gesellschaftsreportage oder nüchternes Tagebuch. Die Geschichte ist „erwachsener“ und weniger satirisch als andere bekannte Austen-Bücher, weil die Hauptfigur schon um 28 Jahre zählt und vielleicht, weil Austen bei der Niederschrift älter war. Freilich: Austen beginnt mit seitenlang dialogfrei referierter Familiengeschichte. Dem folgen viele gelungene Dialoge, Abläufe und Gruppenaufstellungen voll Entwicklung und Interaktion. Gegen Ende gibt’s wieder ein Kapitel, in dem eine Frau einer anderen langwierig das Vorleben…
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Kritik Kurzgeschichten: Und so verlierst du sie, von Junot Díaz (2012, engl. This Is How You Lose Her) – 7 Sterne
Die meisten der neun Kurzgeschichten zeigen Ich-Erzähler Yunior als jungen Mann, der aus der Dominikanischen Republik in die USA einwanderte. Yunior erzählt zunächst in maulfaul-saucoolem Slang von heißen Weibern, aber richtig rund läuft nichts – selbst dann nicht, wenn er sich mal als Frauenversteher geriert. Der aufgesetzt kaugummimalmend gleichgültige Ton der ersten Geschichten wirkt repetitiv und weckt Befürchtungen. Danach textet Creative-Writing-Professor Junot Díaz (*1968) jedoch weniger breitbeinig, er beschreibt schmerzhaft einfühlsam das Einwanderermilieu und brüchige Beziehungen. Begegnungen mit weißen US-Amerikanern gibt’s nur am Rand, der Ich-Erzähler findet schon Puertoricaner oder Kubaner in New Jersey exotisch. Insgesamt erzielen die Geschichten bei HansBlog.de einen Durchschnitt von 6,6 von 10 (Details unten). Amazon-Werbelinks:…
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Kritik Kurzgeschichten: Abtauchen, von Junot Díaz (1996, engl. Drown) – 7 Sterne
Themen sind das ärmliche Leben in der Dominikanischen Republik, Statuskämpfe, der Traum von Amerika, dann Unterschichtleben, Kleinkriminalität und immigrantisches Hocharbeiten in der US-Vorstadt, Familientristesse, Untreue. Creative-Writing-Professor Junot Díaz (*1968) entwirft keine runden Handlungsbögen: Er reiht kleine Vignetten auf, die Geschichten enden unspektakulär. Das Ambiente stößt oft ab, doch haben die Geschichten bei aller Episodenhaftigkeit etwas Brennendes, dem ich nicht entkam. Amazon-Werbelinks: Junot Díaz | Jay McInerney | Lorrie Moore | John Updike Yuniors Weg: Fünf der zehn Kurzgeschichten handeln von Yunior (eigentlich Ramón, wie der Vater); das alter ego des Autors ist hier teils neun Jahre alt und lebt zunächst in der Dominikanischen Republik, der Vater „had left for Nueva…
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Kritik Psychologie-Liebe-Geschichten: Die Liebe und ihr Henker, von Irvin D. Yalom (1989, engl. Love’s Executioner) – 8 Sterne
Die fiktionalisierten Fallgeschichten sind mal 15, mal 50 Seiten lang (ich kenne nur das engl. Original, nicht die Eindeutschung von Hans J. Heckler). Ein Highlight ist wohl die Geschichte der „Fat Lady“ Betty: Yalom beschreibt ihre Diäterfolge mitreißend wie einen Sportwettkampf und zieht Parallelen zu ihrer Jugend, als sie zuletzt ähnlich wenig wog, und er ändert dabei zugleich seine Haltung zur Patientin. Hier gibt es – ungewöhnlich – eine kleine Querverbindung zu einer anderen Geschichte im Buch. Psychiatrie-Professor Irvin D. Yalom hält in der Psychotherapie diese Grundgegebenheiten für wichtig: wir und unsere Liebsten müssen sterben; wir gestalten unser Leben selbst; wir sind letztlich allein; das Leben hat keinen klar erkennbaren…
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Romankritik: Mittagsstunde, von Dörte Hansen (2018) – 7 Sterne – mit Video
Dörte Hansen hat tolles Material an der Hand: Echte Dörfler vom Alten platten Land, die prächtig Dialekt reden; interessante Details aus Landwirtschaft und Land-Wirtschaft; drei Generationen. Terroir ohne Ende. Sie verwebt ihre Motive vielfach, alles hängt mit allem zusammen. Was die Autorin nicht hat: Eine knackige Handlung. Und vorhandene Plotspuren versteckt Dörte Hansen noch aufwändig. Da entsteht (auf gut Deutsch) kein Flow, kein Narrativ, kein Storytelling, kein Suspense: Dörte Hansen zerhackt die Geschichte in mindestens zwei häufig wechselnde Zeitebenen (ca. 1960er, ca. 2010er Jahre) und viele Einschübe und Verallgemeinerungen. Jeder Bäcker oder Briefträger bekommt ein Kurzdossier, unentwegt pfeift der Wind, pladdert der Regen, wabert der Nebel, zetern die Krähen. Die…
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Romankritik. Bessere Verhältnisse, von John Updike (1981, engl. Rabbit Is Rich, Rabbit Teil 3) – 8 Sterne
John Updike (1932 – 2009) schreibt realistisch, klar und detailreich, mit fließenden, spannungsreichen Dialogen, meist aus der Perspektive des Toyota-Händlers Harry „Rabbit“ Angstrom. Werbung und Tagespolitik kommen unentwegt zur Sprache, ohne dass es in zeitgeistige Markenhuberei ausartet. Die Geschichte spielt vom 23. Juni 1979 bis zum 20. Januar 1980 in der pennsylvanischen Mittelstadt Brewer, Hauptfigur Harry „Rabbit“ Angstrom ist 46 und seit gut 22 Jahren verheiratet. Früh schon entstehen Fragen: Ist die langbeinige Autokäuferin Rabbits Tochter? Wie löst sich die Spannung im Haushalt mit Frau, Schwiegermutter und unwillkommenem Sohn? Will der Sohn ins Geschäft eintreten? Zusätzlich brisant: Die Hauptfigur schnüffelt mehrfach ungebeten im Privatbereich anderer herum, sieht teils Überraschendes und…
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Romankritik. Hasenherz, von John Updike (1960, engl. Rabbit, Run, Rabbit Teil 1) – 7 Sterne
Harry „Rabbit“ Angstrom, 26, und Küchengerät-Vorführer, ist ein Unsympath: die schwangere Frau mit Kleinkind lässt er sitzen und zieht zu einer Gelegenheitsdirne. Wer liebenswerte Hauptfiguren braucht, wird mit diesem Buch nicht glücklich. Autor John Updike (1932 – 2009) liefert präzise Dialoge, tiefenscharfen Realismus und ein raues Milieu, das sich mit Händen greifen lässt. Updike schreibt packendes, leicht umgangssprachliches Englisch*; das Schreiben im Präsens empfand er als „exhilaratingly speedy and free“. Die starke Erzählstimme lässt manchmal Fragen offen, sie werden später en passant geklärt. Doch dazu kommen seltsame Rückblenden in die Kindheit der Hauptfigur, lange Beschreibungen (u.a. 2 Seiten über Gartenpflanzen, kein Absatz, und das Radioprogramm bei einer langen Autofahrt) oder…
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Kritik Kurzgeschichten. Der weite Weg zu zweit, von John Updike (engl. The Maples Stories bzw. Too Far to Go) – 8 Sterne
Diese Wirklichkurzgeschichten entstanden über Jahrzehnte hin und sind sehr heterogen, auch wenn immer dasselbe Ehepaar Maple im Mittelpunkt steht. Tonfall und Erzählperspektive schwanken, es gibt wenig Verbindungen oder Querbezüge, Übergänge fehlen. In zwei Geschichten (Wife-Wooing, Plumbing) tauchen die Namen der Hauptakteure gar nicht auf, sie wurden dem Storyreigen wohl erst nachträglich zugeordnet. Besonders unzusammenhängend wirken die ersten etwa acht Geschichten. Liebe, Untreue, Kinderaufzucht, Scheidung und Wohnen sind die Hauptthemen. Man weiß jedoch kaum, ob und was Richard Maple arbeitet – er hat zu viel mit Frauen, Kindern und Heimwerken zu tun; nur die erste Geschichte ordnet ihn der Werbebranche zu, in Giving Blood erwähnt er werktägliche Trips in die Bostoner…
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Kritik Kurzgeschichten. The Early Stories 1953 – 1975, von John Updike – 7 Sterne
John Updike schreibt teils atemraubende Dialoge und Konstellationen aus dem Eheleben. Auch ein paar hübsche Teenager-Geschichten. Und das mit teils hervorragender Erzählstimme, nur momentweise zu auftrumpfend bildungsbürgerlich. Fast immer legt John Updike erkennbar sein eigenes Jugend-, Familien- und Sozialleben zugrunde (Einzelbesprechungen weiter unten). Dann wieder liefert John Updike (1932 – 2009) elegische Betrachtungen zu Laub, Rasen oder Installateuren, die ermüden, vermischt mit ein bisschen Trauer um Verflossene, Betrogene oder noch nicht Gewonnene. In den 1950ern textet er auch allzu impressionistische Szenen einer jungen Ehe. Oder er produziert seltsame Experimente, lässt Kleinst- oder Urlebewesen agieren (versammelt im passend benannten Buchteil „Far Out“). Amazon-Werbelinks: John Updike Early Stories | John Updike Romane…
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Kritik Kurzgeschichten. Collected Later Stories, von John Updike (1976 – 2008) – 7 Sterne
David Lodge lobte Updikes ability to make slight episodes from ordinary life glow with significance through the fidelity and freshness with which he described them… Updike was the most extravagantly gifted prose stylist of his generation of American writers. Die Kurzgeschichten aus Collected Later Stories belegen Lodges Urteil – längst nicht alle, aber genug. Amazon-Werbelinks: John Updike Collected Later Stories | John Updike Romane | John Updike Kurzgeschichten | John Updike Englisch | John Updike insgesamt Haupthemen Ehebruch, Scheidung, Wiederheirat: The town was rich in divorcées and men on the loose: Die Geschichten sind chronologisch angeordnet und fiktionalisieren oft Updikes Familienleben in den 1970er Jahren: Ehebruchiaden, Trennung von erster Frau…
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Romankritik. Ehepaare, von John Updike (1968, engl. Couples) – 7 Sterne
Der Leser ist mittendrin statt nur dabei: im Bett bei (außer-/)ehelichem Rumpelsex, bei Abendessen in großer Runde, bei Kirchgang und religiösen Grübeleien. John Updike (1932 – 2009) schildert Dialoge und Reaktionen der Ostküsten-Mittelschicht in den frühen 1960ern intelligent, feinsinnig und unterhaltsam. Weniger Fun jedoch: Updike beschreibt auch Wohnungen, Sakralbauten, Baustellen, Vegetationszyklen und Lebensläufe sehr detailliert – für alle 2×5 weißen Heteros im Zentrum des dicken Romans, und an der Peripherie tummeln sich weitere Ehepaare, die meisten haben zudem Kinder (dringend nötige Übersicht verschaffen die Besetzungslisten bei Wikipedia und bei Goodreads (nur dort mit hilfreichem Ehebruch-Register)). Amazon-Werbelinks: John Updike Ehepaare | John Updike alle Romane | John Updike Kurzgeschichten | John…
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Romankritik. Heirate mich, von John Updike (1976, engl. Marry Me) – 7 Sterne
Jerry und Sally lieben sich, doch beide sind anderweitig verheiratet, jeweils mit Kindern, und planen ihre Schäferstündchen mit viel Heimlichtuerei. John Updike (1932 – 2009) beschreibt Gefühle und Upläufe teils atemberaubend nah und nachvollziehbar. Die betrogenen Ehepartner sind ihrerseits keine Kinder von Traurigkeit. John Updike bringt sehr genaue Beobachtungen aus der US-Mittelschicht Anfang der 1960er Jahre, scharfe Dialoge ohne schnelle Pointen, jedoch mit viel Hintersinn und vergifteter Freundlichkeit. Der Leser meint, er muss höflich weghören, doch das ist unmöglich. Amazon-Werbelinks: John Updike Heirate mich | John Updike alle Romane | John Updike Kurzgeschichten | John Updike Englisch | John Updike insgesamt John Updike erzählt durchweg aus Sicht der Frauen, in…
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Kritik Nacherzählungen: Shakespeare erzählt, von Michael Köhlmeier (2004, Piper-Verlag) – 8 Sterne
Vergleich: Die Shakespeare-Nacherzählungen von Michael Köhlmeier (Piper-Verlag), Walter E. Richartz (Diogenes-Verlag) und Urs Widmer (Diogenes-Verlag Teil 2): Alle Autoren erzählen William Shakespeares Dramen vollmundig eigenwillig, aber gut lesbar. Jedes Drama bringen sie auf rund 15 bis 22 Seiten zu Ende. Kein Autor bringt Interpretierendes, Historisches, Englisches und zumeist keine Zitate aus dt. Übersetzungen. Michael Köhlmeier schreibt besonders eigenwillig und stakkato, bleibt dabei aber gut lesbar. Scheinbar hält er sich strenger ans Original, verzichtet aber wohl auf geflügelte Worte der jeweiligen Stücke. Köhlmeier schreibt eher chronologisch, die Handlung lässt sich gut verfolgen – für Shakespeare-Neulinge günstig. Die Geschichten ähneln sich in Ton und Struktur, jedoch erzählt Köhlmeier nur 11 Geschichten. (8…
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Romankritik. Das kann uns keiner nehmen, von Matthias Politycki (2020) – 7 Sterne
Zwei Männer-Männer stiefeln angeschlagen, doch breitbeinig durch Ostafrika und diesen Roman. Die Eier schleifen übern Boden, die Verdauung ruckelt. Herb müffelndes Mansplaining. Der Ich-Erzähler deutet früh allerlei Tragödien an, deren Enthüllung der brave Leser gewiss zum Roman-Ende erwarten darf. Schon der Klappentext raunt schwülstig*: Doch der Tod fährt in Afrika immer mit, und nur einer der beiden wird die Heimreise antreten. Weitere Andeutungen folgen (S. 140): „Er hatte nur noch einen ((Tag)). Doch das wußte er natürlich nicht“ nebst enigmatischen Verweisen auf Verflossene. Das ist ein verschwitztes Buddy-Movie. Frauen gibt’s in diesem Buch nur als himmlische Ex oder Haptik-affine Kellnerin. Matthias Politycki bei Amazon (Werbe-Link) Schwer erträglich ist das, und…
- Belletristik, Buch, Frankreich, Gut, Historisches Buch, Hot Country Entertainment, Mediterran, Roman
Kritik Roman, Essay: Hintergrund für Liebe, von Helen Wolff, Marion Detjen (2020) – 8 Sterne
Ich mag pathosfreie Romane über Liebe, ich mag Mediterranien; und ich mag Schriftstellerbiografien, sofern die Protagonisten auch außerhalb der Schreibstube was erlebten. All das bekomme ich hier luftig leicht, frisch und lebendig. Fein. Dichtung Im Roman Hintergrund für Liebe schildert Helen Wolff ihr südfranzösisches Liebes- und Landleben schmalzfrei mit Herz, feinsinnig, mild selbstironisch, unaufdringlich originell und mit teils unbürgerlichen Ansichten. Eine sympathische, eigenwillige Erzählstimme. Auf fällt, dass die Ich-Erzählerin gern Ansagen von Männern bekommt: ((Ich)) tue, was ein fremder Herr von mir will: Ich belege einen Platz im Autobus nach Toulon. Ohne klare Anweisungen fehlt ihr was, so kurz nach einer Trennung: Ich bin ein paar Tage Frau gewesen und…
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Kritik Roman, Film. Zoë Heller: Tagebuch eines Skandals (2003, 2006, engl. Notes on a Scandal) – 7 Sterne – mit Video
42jährige verheiratete Lehrerin beginnt Affäre mit 15jährigem Schüler. Sie fliegen auf, die Presse frohlockt. Die 62jährige Freundin und Kollegin der 42jährigen erzählt die Geschichte im Rückblick – auf Seite 2 wissen wir alles Wichtige. Zoë Heller kreiert eine plausible Erzählstimme, plausible Dialoge, plausible Figuren mit viel Alltagsrealismus. Sie konstruiert sehr durchdacht einen Roman voll Spannung. Tagebuch eines Skandals auf Amazon Im Roman: Die 62jährige Ich-Erzählerin pflegt im Roman einen sehr persönlichen, fast Tagebuch-artigen Ton. Sie tönt leicht geschwätzig bis sensationsheischend, mal blasée cultivée, mal unerwünscht privat und aufdringlich verständnisvoll. Dem kalten Blick dieser Matrone entgeht nichts, keine kleine Peinlichkeit, kein gescheitertes Witzchen, keine Verschiebung im Beliebtheitsranking oder im Lehrerklo-Papierkorb. Die…
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Kritik Roman. W. Somerset Maugham: Seine erste Frau bzw. Rosie und die Künstler (1930, engl. Cakes and Ale) – 7 Sterne
W. Somerset Maugham schreibt einen freundlichen Plauderton, der runtergeht wie milder Cognac. Ein paar Snobismen und ironische Arroganz geben die nötige Würze. Dazu kommen clevere Dialoge – einen Tick filmi vielleicht, aber gut zu haben, voller Persönlichkeit und Idiomatik. Den Stil-Pep braucht’s auch, denn inhaltlich passiert zunächst nicht viel: das erste Kapitel redet nur allgemein über den Schriftsteller Roy Kears, ein weiteres Kapitel enthält den ergebnislosen Dialog zwischen Schriftsteller Kears und dem Ich-Erzähler-Schriftsteller Ashenden, und das dritte Kapitel berichtet vom Auftauchen des Schriftstellers Driffield im südenglischen Kaff Blackstable, beobachtet vom Ich-Erzähler-Schriftsteller Ashenden in jungen Jahren. Drei Schriftsteller und keine Handlung, na Danke. Aber gefällig klingt’s. Der Roman blendet dann in…
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Kritik Roman. W. Somerset Maugham: Theater, ein Schauspieler-Roman bzw. Julia, du bist zauberhaft (1937, engl. Theatre) – 7 Sterne – mit Videos
W. Somerset Maugham erzählt routiniert, gefällig und sehr ironisch von einem Ehepaar in der Theaterbranche in London um die 1930er Jahre herum, meist aus Sicht der Starschauspielerin Julia, 46. Im zweiten Drittel kommt eine betont undramatische Ehebruchiade in Gang. Erfolgs-Stückeschreiber Maugham kennt das Milieu bestens und delektiert sich an Karrieristen, Schleimern, Statusgockeln, Selbstdarstellern, Edelmännern und gesellschaftlichen Zwängen. Show, don’t tell: Der kurze Roman wechselt zwischen gut gezeichneten Szenen mit markanten Dialogen und längeren Passagen, in denen Maugham über ganze Jahre flüchtig hinwegerzählt – die überzeugen nicht so. W. Somerset Maugham macht es sich zu leicht, behauptet zuviel, statt Handlung und Dialog zu präsentieren. Er schreibt seinen Protagonisten fast willkürlich Eigenschaften…