Romankritik: Bildnis einer Dame, von Henry James (1880, 1908, engl. The Portrait of a Lady) – 7/10 – mit Video

Henry James - (c)

Henry James schreibt sehr genaue, psychologische Dialoge und Gedankenströme – teils zu gedehnt, mitunter ironisch bis lustig. In verschiedenen Konstellationen und Ländern geht es um Eheaussichten, Eheglück und um Erbschaften. Das klingt oft intensiv, ja intim. Die Geschichte ist phasenweise spannend, vor allem in den letzten Kapiteln, manchmal dachte ich auch deswegen an eine “ernste RomKom“.

Frauen wirken teils patent bis intrigant, teils unkonventionell schroff. Männer schielen auf Erbschaft und Mitgift, siechen dahin, wollen übergriffig Heiratsfantasien umsetzen.

Kaum jemand arbeitet, alle reisen nonchalant al gusto zwischen USA, England und Italien hin und her, beschäftigt mit Spaziergehen, Besichtigung und Problemdiskussion. Allein die forsche Henrietta Stackpole muss konkret Geld verdienen, bleibt aber immer noch recht frei und glücklich dabei; Gesellschaftskritik mischt Henry James nicht in seinen Herzeleid-Schmöker.

Der Roman ist betont gut komponiert: Motive und Gesprächsfetzen gewinnen hunderte Seiten später neue Bedeutung, und der Schluss rundet die Handlung fast zu gefällig ab.

  • Handlung, Konflikt (von 10): 7, 7
  • Dialog Menge, Qualität: 6, 9
  • Humor Menge, Qualität: 3, 8
  • Liebe Menge, Qualität: 7, 6
  • Erzählstimme, Kurzweiligkeit: 7, 4

Mitunter Unplausibles, kaum Reiseblog:

Der Roman beginnt eingangs der 1870er Jahre und springt dann elegant in die zweite Hälfte des Jahrzehnts.

Überwiegend verzichtet Henry James auf unplausibles Verhalten oder absurde Zufälle, welche die Handlung aufpeppen könnten. Nur die zufällige Wiederbegegnung der US-Amerikanerin Isabel Archer mit dem Engländer Lord Warburton in Rom wirkt konstruiert; mindestens zwei weitere Zufallsbegegnungen in Rom kommen hinzu. Nicht mega-realistisch erscheint auch eine überraschende, spielentscheidende Erbschaft zu Beginn der Handlung. Die zentrale Eheschließung im Buch leuchtet mir ebenfalls nur bedingt ein.

Löblich: Henry James führt seine Akteure durch England, Frankreich, Italien, bringt auch Szenen aus USA; aber er verzichtet nobel auf zu ausführliche eigene Reiseeindrücke:

I may not attempt to report in its fulness our young woman’s response to the deep appeal of Rome

Ironie:

Henry James (1843 – 1916) übertreibt die Ironie fast. Speziell Mrs Touchett, Tante der titelgebenden Dame, erscheint im ersten Teil zu knorzig und unkonventionell, und ein Mädchen heißt despektierlich Pansy. Auch die Gegensätze zwischen freiheitlich-unorganisierter USA, leicht schlampigem Italien und allzu konventionellem England wirken aufdringlich. Und über die als allzu perfekt geschilderte Madame Merle sagt ein Akteur passend:

She’s too good, too kind, too clever, too learned, too accomplished, too everything. She’s too complete, in a word.

Pansy wirkt zu künstlich selbstreflektiert (“I’m only a little girl”) und beliebig.

Hübsch: Henry James erwähnt

the tradition that ladies, even married ones, regard the marriage of their old lovers as an offence to themselves.

Schmalzalarm erklingt nur selten, ernstlich erst auf den letzten Seiten:

…she listened to him as she had never listened before; his words dropped deep into her soul.

Henry James

Dialoge und Humor:

Die Begegnungen voll respektvoller Respektlosigkeit und soignierter Gestelztheit vor allem im ersten, im England-Teil liefern viel Humor – ich habe öfter gelacht. Über weite Strecken bringt Henry James aparte, pfiffige, überraschende Dialoge voller Zwischentöne.

Doch dann folgen wieder lange, absatzlose Sermone – gezirkelte Sentenzen, mitunter mehr als eine absatzlose Doppelseite; Kostprobe:

Her presence proved somehow less irreducible to soft particles than Ralph had expected in the natural perturbation of his sense of the perfect solubility of that of his cousin.

So gibt es nur karge 7 Absätze auf vollen zehn Seiten von Vol II, Kapitel XLII – Grübeleien der Hauptfigur, und das sind hier eng bedruckte englische Seiten. In einer deutschen Ausgabe vermute ich dafür mindestens 12 Seiten (aber auch, dass das Lektorat zusätzliche Absatzschaltungen einfügt).

Die Sache wird nicht besser dadurch, dass auf den ersten 70 enggedruckten Seiten (James’ Vorworte nicht mitgezählt) praktisch nichts passiert; das Personal verplaudert sich nonchalant in englischen Landgärten und Kaminzimmern. Henry James notierte sogar selbst:

There has been a want of action in the earlier part

Dann aber prasseln auf Hauptfigur Isabel gleich zwei Heiratsanträge ein.

Nun könnte Fahrt ins Narrativ kommen – doch nicht so bei Henry James, der noch das heikelste oder schlichteste Szenario mit doppelten Verneinungen und anderen komplizierten Konstruktionen verschwurbelt:

It is the good fortune of a man who for the greater part of a lifetime has abstained without effort from making himself disagreeable to his friends, that when the need comes for such a course it is not discredited by irritating associations.

Henry James’ gezirkeltes English enthält einige Wörter, die Google Translate nicht kennt oder schwach übersetzt, ja sogar dem Diktionär Unbekanntes wie applausive; ein anderes Wort kennt wiederum nur Google Translate.

Ich las die englische, überarbeitete 1908er-Version des Romans in der Norton Critical Edition. Diese Ausgabe bringt hinten auf Dutzenden telefonbuchartigen Seiten die vielen Änderungen, die James gegenüber dem Original von 1880f vornahm und zwei Aufsätze allein zu den Änderungen. Generell klingen die nachgelieferten Ausdrücke eleganter, teils komplizierter.

Assoziation:

  • Die zunächst freigeistige, US-amerikanische Hauptfigur Isabel Archer in England und Italien erinnert deutlich an ihre Landsfrau, die Titelheldin aus Henry James’ kurz vorher veröffentlichtem Erfolgsromänchen Daisy Miller; in beiden Romanen geht es auch um “the poison of the Roman air”
  • Der England-Teil erinnert an Jane Austen: Die besitzenden Klassen ergehen sich auf dem Land, parlieren, charmieren, hofieren, sondieren Ehe- und Zugewinnchancen
  • Amis und Engländer liebesleiden in exotischer Fremde, und die Einheimischen spielen so gar keine Rolle – Graham Greene lässt grüßen (Henry James’ Protagonisten interessieren an Italien nur Ruinen und Gemälde, und der schäbige Graf Gemini, einer der wenigen Italiener, tritt nie persönlich auf)
  • HansBlog-Hausautor Graham Greene schrieb einen kurzen Essay über Portrait of a Lady, zu finden in der Norton Critical Edition
  • Auch HansBlog-Hausautor John Updike monologisierte über den Roman
  • Die mild despektierlichen Wortwechsel beim hochmögend-steifen Romanpersonal erinnern momentweise an P.G. Wodehouse
  • Die 1997er-Verfilmung mit Nicole Kidman (Amazon-Werbelink) und die schriftliche Roman-Fortsetzung von John Banville, “Mrs Osmond” (Amazon-Werbelink)
  • Amazon-Werbelinks: Bildnis einer Dame | Henry James allg. | Jane Austen |

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