Gesamteindruck:
Die Kurzgeschichten handeln vom Älterwerden, bis zur Demenz, an ganz unterschiedlichen Orten in unterschiedlichen Jahrhunderten und Gesellschaftsschichten. Julian Barnes beobachtet sehr genau und schreibt oft kunstvoll sparsam – so wie eine seiner Figuren “simple, hard, true” sprechen möchte.
Andererseits textet Julian Barnes je nach Kontext gern extravagant:
cartilaginous… waxy grottoes ((das Ohr-Innere))
Außerdem Wiederkehrendes:
- ungewöhnliche Szenarien (dreimal zum Friseur, vergebliche Liebe in Schweden 1898, vergebliche Liebe Turgenjews in Russland, bizarre Geschäftsmodelle im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Kochbuchvorlesung für Demenzkranken)
- vulgär Vierbuchstabiges in überraschenden Momenten
- handlungsarme Gedankenspiele (hustende Konzertbesucher, Turgenjews letzte Liebe, Grübeleien eines Komponisten)
- Sprachklang und Szenario bei jeder Geschichte überraschend unterschieden von der vorhergehenden
Zwei Geschichten habe ich nicht gelesen: Knowing French und The Silence. Meine Durchschnittswertung der neun verbleibenden Geschichten: 6,78.
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A Short History of Hairdressing – 7,5/10
Zur ersten Kurzgeschichte: In drei verschiedenen Jahrzehnten seines Lebens geht Gregory zum Friseur.
Julien Barnes beobachtet subtil und schildert mit treffend knappen Worten: Unbehagen und Unsicherheit des Jungen bei überheblicher Jovialität des Friseurs; die Wut des jungen, von seiner Freundin verlassenen Mannes angesichts eines blasiert schwafelnden Friseurs; als fader alter Sack mit einer jungen, gelangweilten Friseuse
The Story of Mats Israelson – 8/10
Platonische Liebe in einem konservativen schwedischen Städtchen zwischen zwei Menschen, die jeweils mit Ungeliebten verheiratet sind.
Muffige Atmosphäre in dieser alter- und eigentümlichen schwedischen Welt ab 1898. Seltsames Konzept, weil nichts passiert, außer im Kopf, über Jahrzehnte. Sehr einfühlsam, aufgeladene Dialoge, ungewöhnliche Kulisse, ungewöhnliche Handlung. Interessante Details über Holzwirtschaft, Kupfer, konservierte Leichen, Pferdeparkplätze vor der Kirche, Moltebeerenmarmelade, Taubstummenheime, womöglich hochsymbolisch.
Warum habe ich, was ich sehr selten tue, ausgerechnet diese Geschichte zweimal gelesen? Sie ist trostlos, handlungsarm, in öder Kulisse. Ein Weinblogger vergleicht die Geschichte mit einem
2001 Chevalier-Montrachet, Leflaive. You could put this note to the story or the wine: Impeccable precision. Defined, balanced; impeccable focus. Multi-layered within the precision. No gloss, just pin-sharp polish. Complete.
The Things You Know 7/10
Zwei Witwen treffen sich allmonatlich zum Hotelfrühstück. Sie reden aneinander vorbei, heucheln Mitgefühl.
Mild amüsant, wie immer schön beobachtet.
Assoziationen zu dieser Geschichte:
- Zwei ältere Damen (wohl Witwen) diskutieren auch in Julian Barnes’ Kurzgeschichte Mit John Updike schlafen, engl. Sleeping with John Updike
- Die überdeutlich betonten Unterschiede zwischen USA und England erinnern an Henry James, auch wenn Julian Barnes andere Gegensätze nennt (zu gedämpfte Farben bei der Europäerin, grelle unpassende Kombinationen bei der Amerikanerin)
- Auch in der Kurzgeschichte Roman Fever von Henry James’ Freundin Edith Wharton (und mit Bezug auf Henry James’ Novelle Daisy Miller) diskutieren zwei Witwen ausführlich, unter Erwähnung ihrer Verblichenen und mit zurückgehaltenem Wissen
Hygiene – 7,5/10
Alternder, verheirateter Militär fährt wie jedes Jahr mit dem Zug in die Großstadt zu seinem Regimentstreffen und zum Stelldichein mit seiner alternden Stamm-Prostituierten Babs, seit mehr als 20 Jahren (sie hatte die Seniorenkarte für die Öffis früher als er). Eine Überraschung wartet auf ihn.
Trostlos und satirisch zugleich. Amüsant schnarrender Kasernenhofton, ungewöhnlich in diesem Kurzgeschichten-Band. Wie immer exzellente Details.
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The Revival – 5/10
Spekulationen über die Liebe des 60-jährigen Turgenjew zu einer 25-Jährigen Schauspielerin.
Hat interessante Momente, gut geschrieben natürlich, aber spekulativ und durchsetzt mit sehr heutigen vierbuchstabigen Dreckwörtern.
Erst wollte ich das nicht lesen wegen des Themas, Szenarios und der übergestülpen Fiktionalität, aber andere Geschichten des Autors sprachen mich so an, dass ich schließlich auch zu dieser griff. Naja.
Vigilance – 6,5/10
62-jähriger Klassikfreund ärgert sich seitenlang vehement über hustende, niesende, raschelnde und nicht still sitzende Konzertbesucher, die er mit allerlei fiesen Interventionen maßregelt oder maßregeln will.
Amüsant, jedoch ohne durchgehende Handlung und wie eine verbitterte Privatfehde des Autors mit Londoner Konzertgängern. Mit Dialog und originellen Ideen bestmöglich aufgepeppt, aber doch kein Wunder, dass diese “Geschichte” nicht im New Yorker stand.
Bark – 6,5/10
Geschäftsmann im 19. Jahrhundert wechselt von der Völlerei zu spartanischem Essen (auch ein Stück Rinde täglich), um seine 39 Geschäftspartner zu überleben und dadurch besonders wohlhabend zu werden.
Eigentümliche Mischung von Ess-Betrachtungen und wunderlichem Geschäftsgebaren, eingebettet in altertümliches französisches Ambiente. Mild originell, nicht mitreißend. Im Gegensatz zu anderen Geschichten aus verflossenen Jahrhunderten verzichtet Barnes hier gnädig auf stilbrechende Four-letter-words, kann sich indes Hinweise auf “carnal delights” nicht verkneifen.
Appetite – 5,5/10
Die Ich-Erzählerin liest ihrem an Demenz erkrankten Mann bevorzugt aus Kochbüchern vor, erinnert zwischendurch glücklichere Zeiten.
Wieder so ein ungewöhnlicher Barnes-Einfall, wieder mit ganz eigener, passender Erzählstimme und interessanten Details. Und wieder unerwartet mit harter Vulgarität, Barnes mag das wohl wirklich.
The Fruit Cage – 7,5
81-jähriger Biedermann verlässt seine 80-jährige Frau zugunsten einer schrillen etwa 65-Jährigen. Wurde er von seiner Frau geschlagen? Der Sohn des getrennten Ehepaars ermittelt und erzählt.
Starke Dialoge, markante Charaktere, überraschende Wendungen. Besonders löblich: Verzicht auf Vulgarität (warum?).
Assoziation:
- Auch im Kurzgeschichten-Band Unbefugtes Betreten/Pulse (2011) mischt Julian Barnes historische und heutige Themen
- Das blasiert gebildete Parlieren in einigen Geschichten erinnert an die Schwafelbacke Ollie/Oliver in den Barnes-Büchern Liebe usw. und Darüber reden.
- engl Wiki zum Buch: https://en.wikipedia.org/wiki/The_Lemon_Table
- Ausführliche englische Rezensionsübersicht bei Complete Review
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