Romankritik: Die Entdeckung der Currywurst, von Uwe Timm (1993) – 7/10 – mit Video

Uwe Timm liefert im ersten, längeren Buchteil eine spannende Binnenhandlung bei Kriegsende mit (flüchtiger) Liebe, reizvollem Konflikt, ohne Grausamkeit, und er kredenzt interessante historische Details wie den

Eichelkaffee, der sonderbarerweise, wenn man auf Lunge rauchte, stärker nach Kaffee schmeckte

plus sozio-linguistisches Zeitkolorit wie “Pißpott”.

Timm schreibt nüchtern, momentweise derb ohne falsche Töne, wenn auch dialogarm.

  • Handlung, Konflikt (von 10): 7, 8
  • Dialog Menge, Qualität: 4, 8
  • Humor Menge, Qualität: 2, 7
  • Liebe Menge, Qualität: 6, 8
  • Erzählstimme, Kurzweiligkeit: 8, 7
  • Details: 8

Einiges störte mich dennoch:

So springt Uwe Timm (*1940) teils zwischen gleich drei Erzählzeiten hin und her:

  1. Lena Brücker und Hermann Bremer bei Kriegsende
  2. der junge Ich-Erzähler bei Tante Hilde oder an Frau Brückers Imbissstand
  3. der alte Ich-Erzähler Jahrzehnte später bei Lena Brücker im Altersheim

Manchmal berichtet der Ich-Erzähler Dinge, die er kaum selber erlebt oder von anderen Zeugen vernommen haben kann, zum Beispiel über Lena Brücker:

Sie schmatzte im Schlaf.

Das wird sie ihm kaum im Altersheim erzählt haben; dazu kommen weitere Dramatisierungen der Kriegsende-Tage, die sich der Ich-Erzähler offenbar ohne Faktenkenntnis ausdenkt. Damit verlässt der Autor die selbst konstruierte Fiktion einer Erzählung auf Basis von Interviews und Erinnerungen an Gespräche.

Zwei disparate Teile:

Die Geschichte zerfällt unschön in disparate Teile:

  1. die Liebesgeschichte kurz vor Kriegsende in der Brüderstrasse
  2. die Entdeckung der Currywurst nach Kriegsende, ohne Liebe, viel kürzer

Zwar konstruiert Uwe Timm Verbindungen zwischen beiden Teilen, unter anderem das Wort “Curry” und eine zweitverwertete Uniform; doch das wirkt angestrengt.

Dieses Heterogene beeinträchtigt den Gesamteindruck. (Gerade wegen der harten Zweiteilung des Buches würde ich diesen 180-Seiten-Text nicht als Novelle bezeichnen, auch wenn der Autor mit dem letzten Wort genau das andeutet.)

Weitere Nörgeleien:

  • Die Currywurst spielt eine sehr kleine Rolle im Buch, nur im kurzen zweiten Teil; man fragt sich, warum sie es in den Romantitel schaffte – weil es so neckisch klingt, besser als “Das Matratzenfloß”? Die vielen völlig ergebnislosen Fragen nach der Currywurst im ersten Teil wirken eingeklebt.
  • Lena Brücker steht zu deutlich als Die Gute da: Antinazi, Antikrieg, patent, sexpositiv, Herz auf dem rechten Fleck, auch kulinarisch Genießerin im Rahmen des Möglichen; während die Männer schlechter wegkommen.
  • Unrealistisch schien mir, dass Brücker den heimlichen Gast Bremer so lange vor der Hausgemeinschaft verstecken kann, wo doch sogar seine Schritte in untere Stockwerke dringen. Ebenso, dass zwar Bremer ihren Geburtstag kennt (von der Kohlekarte), an Brückers langjährigem Arbeitsplatz mit vertrauten Kollegen wie Holzinger aber nicht die Rede davon ist.
  • Der zweite kurze Teil klingt im Vergleich zum langen ersten Teil hingehuscht, als ob Uwe Timm schnell fertig werden wollte. Damit meine ich das hochgejubelte Erzähltempo und die wilden Zufälle bis zur Currywurstentdeckung.
  • Meine 2000er-Timm/Currywurst-Ausgabe erwähnt Zigarren von “Loeser & Wolf”, korrekt ist aber “Wolff”. Als Timm den Currywurst-Roman schrieb, gab es bereits Walter Kempowskis bekannten 1971er-Roman Tadelloeser & Wolff, mit Doppel-f, der auf die Zigarrenmarke anspielt; auch in Berlin Alexanderplatz soll die Zigarrenmarke vorkommen.

Ich hatte lt. Impressum die “vom Autor neu durchgesehene Ausgabe November 2000”. Man wüsste gern, wie Uwe Timm den ursprünglichen Text veränderte, aber vielleicht steht das in der reichlich lieferbaren Sekundärliteratur.

Assoziation:

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