Lese-Eindruck Kurzgeschichten: Osten, Westen, von Salman Rushdie (1994)

Fazit:

Seine Kurzgeschichten aus Indien, England, Fantasialand und dem Mittelalter schreibt Salman Rushdie mit stark wechselndem, aber stets sicherem und beeindruckendem Tonfall. Er macht Kulissen und Personal mit wenigen Sätzen lebendig.

Öfter stellt Rushdie seine Fabulierkunst und Belesenheit zu deutlich heraus – in exotischen Wörtern wie “palindromically” und in markanten Stil- und Literaturparodien. Das wirkt mal frühreif, mal wie ein Glasperlenspiel fürs Schreibseminar. Und nicht immer durchschaut der Hobbyleser Rushdies köstliche Andeutungen.

Indien, Fantasialand und swinging London:

Zudem kredenzt Rushdie teils exzentrische Themen, die nicht allesamt auf Anhieb fesseln:

  • Manche Geschichten wirken sehr realistisch und fast heutig, so spielen Guter Rat und Das kostenlose Radio grob im provinziellen Indien der 1970er Jahre. Der Courter zeigt Inder im swinging London der 1960er. Alle drei Geschichten haben komische
  • Bei anderen Stories bricht der orientalisch-fantastische Erzähler durch, es wird unrealistisch beliebig, so in Das Haar des Propheten, angesiedelt in einem Märchen-Srinagar.
  • Die Geschichten im “Westen”-Teil spielen nicht im heutigen Westen, sondern beamen teils ins späte Mittelalter zurück, so Yorick (mit Shakespeare-Bezug) und Christoph Columbus und Königin Isabella; oder sie siedeln in Fantasialand (Die Versteigerung der roten Schuhe). Dafür agieren in zwei Geschichten des Teils “Osten, Westen” Inder im heutigen London – Rushdie lässt sie ein degeneriertes Englisch reden, dass ein rein westlicher Autor nie schreiben dürfte (die Geschichte Chekov und Zulu ist wohl eine Star Trek-Parodie, was eventuell die Sprache beeinflusst, ich weiß es nicht).

Die meisten der neun Stories belegen nur je rund zehn Seiten, wohl weil sie überwiegend für Magazine mit Platzvorgaben geschrieben wurden; der Text Der Courter braucht deutlich mehr Seiten.

Assoziation:

Die Geschichten im einzelnen:

Guter Rat ist kostbarer als Rubine ᛫ 7,5/10

Inderin besucht englisches Konsulat für ein Visum, mit dem sie zu ihrem Mann nach London reisen will.

Souveräne, ironische Erzählstimme. Atmosphärisch. Verblüffendes Ende, die Motive etwas zu deutlich ausgemalt. Selbstbewusst-ironische Hauptfigur nicht überaus realistisch.

Erschien zuerst 1987 hier im New Yorker, engl. Titel Good Advice Is Rarer Than Rubies

Das kostenlose Radio ᛫ 7,5

15jähriger Rikschafahrer heiratet Witwe mit fünf Kindern. Die Regierung will arme Männer sterilisieren und dafür womöglich belohnen.

Interessante Einblicke ins Dorfleben. Klangvolle Stimme des Ich-Erzählers, eines wenig beteiligten Dorflehrers. ᛫ engl. Titel The Free Radio

Geschichten wie Guter Rat…, Das kostenlose Radio und Der Courter könnte ich am Laufmeter lesen, gern auch als Roman – aber Rushdie schreibt überwiegend anders:

Das Haar des Propheten ᛫ 6

Ein weltlicher muslimischer Geldverleiher versteckt zuhause ein Haar des Propheten, das eigentlich in der Moschee ruhen  sollte. Er verändert sich dramatisch, und seine geplagte Familie will das Haar stehlen lassen.

Eine märchenhafte, teils unrealistische, zuletzt sehr blutrünstige Geschichte im wohlklingenden Ton einer orientalischen Sage. Ironie und Rückblenden brechen das gefällige Parlando. Ein Beispiel:

The moneylender’s wife began a fit of hysterics ((…)) and subsided into a raga of sniffling

 Zu Beginn der zunächst realistisch klingenden Geschichte störte mich, dass im tiefsten Kaschmir-Winter ein verletzter Mann eine ganze Nacht draußen übersteht; indes weit größere Wunder folgen.

Die 1981er-Zeitschriftenversionen könnten sich von der Buchfassung, die ich nur kenne, unterscheiden: hier in der LRB und hier im Original-Layout im Atlantic. Engl. Titel The Prophet’s Hair

Christoph Kolumbus und Königin Isabella von Spanien erfüllen ihre gemeinsame Bestimmung (Santa Fé 1492) ᛫ 4

Christoph Kolumbus fiebert nach Geld und Leib der Königin Isabella, um endlich gen Westen segeln zu können. Sie aber spielt mit ihm.

Im Ton wie immer bezwingend, doch formal eigenwillig. Ich fand keinen Zugang, womöglich nur für Historienkenner interessant oder allgemein für klügere Köpfe.

Erschien zuerst 1991 im New Yorker, engl. Titel abweichend vom deutschen Christopher Columbus and Queen Isabella of Spain Consummate Their Relationship (Santa Fé, AD 1492)

Der Courter ᛫ 7,5

Drollige wohlhabende indische Familie in London.

Witzige Wortspiele (“the difference between nipples and teats”), Popzitate, Slapstick (Saris klemmen in Rolltreppen), auch ein bisschen Mafiagewalt, wieder ein völlig anderes Milieu als bisher. Klingt wie aus einer Autobiografie. Allerdings porträtiert Salman Rushdie zwei eher schlichte Figuren mit unterschiedlichen Sprachproblemen, die sich beide als Schach-Genies entpuppen– realistisch?

Erinnerte mich vage an die asiatische Familie in London ganz zu Beginn des Romans Crazy Rich Asians. Engl. Titel The Courter

Kurzgeschichten-Vorgeschichte:

Drei Geschichten erschienen zunächst im New Yorker, weitere u.a. in Granta, LRB und Atlantic Monthly – laut Nachwort für die Buchausgabe bearbeitet. Drei Texte hatten keine Magazin-Vorgeschichte – es sind die zwei nicht-realistischen Texte Harmony of the Spheres und Versteigerung der roten Schuhe (die man sich schwer in Magazinen vorstellen kann) sowie das deutlich längere Der Courter.

Ich habe das englische Original unter dem Titel East, West gelesen und kann die Eindeutschung von Gisela Stege nicht beurteilen; Online-Stichproben überzeugten mich nicht. Einige Geschichten übersprang ich nach Vorrecherchen, weil sie zum Beispiel ins Fantastische lappten oder mir nicht nachvollziehbar waren, so übersprang ich The Harmony of the Spheres, Chekov und Zulu (beide nicht in Zeitschriften gedruckt), Auf der Versteigerung der roten Schuhe und Yorrick.

Meine engl. Ausgabe schreibt die indische Sängerin Asha Bhosle mit einem unpassenden “n” (S. 27), ein überraschender Fehler.

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