Roman-Kritik: Emma, von Jane Austen (1815) – 7/10

Gleich zu Beginn gleiten allerlei junge Damen und Herren mit Beziehungsstatus Single über Jane Austens glänzend geöltes Roman-Parkett. Die werden das Buch nicht alleinstehend verlassen, glaubt man. Und wer sich auf dem Dating-Basar zu freudig beschnuppert, der vermählt sich vielleicht letztlich anderweitig. Wieviele Happy Ever Afters wird Jane Austen kredenzen?

Fast jedes der vielen kurzen Kapitel dreht das Rad der Handlung ein Stück weiter und endet reizvoll. Nur im 16. Kapitel grübelt Emmas allein vor dem Einschlafen. Das nächste Kapitel hat dann zwar wieder Handlung, jedoch vollständig in indirekter Rede, so dass es für Austen-Verhältnisse auch  gedämpft klingt.

Dieser Roman gilt als Jane Austens bester, und Slate schrieb über die Hauptfigur und den nach ihr benanntem Roman:

Emma is flawed, but Emma is flawless.

Doch auf mich wirkt die Geschichte etwas gedämpft, weil einiges nur vermutet oder berichtet wird, und keine hormongeflutete Teenagerin büxt mit feschen Soldaten aus. Das Parkett ist durchgehend das sehr provinzielle Dorf Highbury – keine Ausflüge nach London oder ins schicke Seebad Bath, auch wenn die Protagonisten von dort erzählen.

Trotz der etwas blassen Handlung: das elfte Kapitel im dritten Buch bringt einige drastische Wendungen – wie immer bei Jane Austen nicht zu unrealistisch – und ein Wechselbad der Gefühle für die Hauptfigur, das mich laut auflachen ließ.

Und wie von der Autorin gewohnt: die letzten Kapitel sind pures Herzschlagkino mit faustdicken Überraschungen und Auflösung aller dramatischen und romantischen Fragen. Ich stöhnte, ich jauchzte und weidete mich genüsslich an allen Wendungen. Wegen der erst spät offengelegten, und doch subtil angedeuteten Intrigen und Verwicklungen lohnt eine wiederholte Lektüre bei Emma noch mehr als bei anderen Austen-Büchern.

Schwächen:

Gelegentlich wirken die Motive der Akteure zu hölzern oder herbeigezogen, mehr im Dienst einer vorwärts schnurrenden Handlung als des Realismus. Dass wichtige Akteure mehrfach Vertrauliches ohne Not ausplaudern und private Briefe sofort herumzeigen, wundert mich auch. War das akzeptabel? Jedenfalls bringt es die Handlung voran. Ebenso wie Emmas grimmiger Entschluss, bestimmte Dinge nicht mehr anzusprechen (“henceforward I know nothing of the matter… dann sagen Sie es nicht, sagen Sie es nicht”).

Dass Emma gleich im ersten Kapitel über eine von ihr eingefädelte Ehe begeistert vom Ehestiften allgemein redet – und dann im Roman weitere Ehen stiftet oder bewusst darauf verzichtet –, ist aufdringlich. Und merkwürdig: ausführlich preist Emma die Ehelosigkeit, da denkt wohl jeder Leser sofort an Jane Austens eigenen Beziehungsstatus bis zum Lebensende.

Zu aufdringlich betont Jane Austen die Haupteigenschaften ihrer Figuren:

  • Mr Woodhouse jammert monothematisch über Gesundheitsrisiken und Alltagsgefahren aller Art
  • Mr Weston sieht alles positiv und plaudert alles aus
  • Miss Bates ist eine Schnattertante vor dem Herrn
  • Mrs Elton auch, und zudem peinlich eitel und übergriffig (Miss Bates und Mrs Elton werden teils nur in telegrammartigen Stichwortkaskaden zitiert)

Dazu kommen einige aufdringliche Namen:

  • Die bei weitem ritterlichste Figur im Roman heißt ausgerechnet, sic, Knightley
  • Das zu ihrem Unglück nicht blaublütige Bürgerkind Harriet heißt banal Smith
  • Die affektierte Mrs Elton trägt den damals (wie David M. Shapard erklärt) affektierten Vornamen Augusta

Gegen die Woke-Kamarilla:

Mit Freude teilt Jane Austen gegen die Berliner Woke-Kamarilla aus:

Ihre Tochter genoss ein wirklich bemerkenswertes Maß an Ansehen für eine Frau, die weder jung noch hübsch, weder reich noch verheiratet war… Nie hatte sie glänzen können, weder mit Schönheit noch mit Klugheit… Klug hätte man Harriet nicht nennen können, aber sie hatte ein sanftmütiges, folgsames, dankbares Wesen, jede Eitelkeit war ihr fremd, und sie war es gern zufrieden, sich von jemandem leiten zu lassen, zu dem sie aufblicken konnte… in dem für die Ehe so wichtigen Punkt, den eigenen Willen unter den eines anderen zu stellen und zu tun, wie einem geheißen wird… andererseits ist es aber auch nicht der Stil einer Frau; nein, dazu ist er zu kurz und knapp; eine Frau hätte es nicht so direkt ausgedrückt. Unzweifelhaft ist er ein Mann von Verstand… und sie hat Haare auf den Zähnen… alles tanzt nach ihrer Pfeife

Parallelen zu anderen Austen-Romanen:

Vieles erinnert direkt an andere Jane-Austen-Romane: Die gehobene Mittelschicht; das gehobene Landleben mit Herrenhäusern, Dienerschaft und Agrarischem; lange Plaudereien am Kamin und beim Kartenspiel; Landspaziergänge in wechselnder, stets bedeutungsvoller Konstellation; Jane Austens warmherzige Ironie, gelegentlich zu aufgesetzt; die Beurteilung nach Aussehen; Titel wie “Mrs John Knightley”.

Frank Churchill rettet Harriet Smith aus einer Kalamität und bringt sie sicher ins Haus – das erinnert stark an einen anderen Austen-Galan, der ein gestürztes Mädel aus dem Wald nach Hause trägt, nachdem ihn rein zufällig die Jagd vorbeiführte. In beiden Fällen könnte sich mehr daraus entwickeln, na klar.

Ungewöhnlich jedoch, dass die weibliche Hauptfigur diesmal eindeutig unsympathische Züge trägt: Ihre Selbstgefälligkeit (“a disposition to think a little to well of herself”), ihr Standesdünkel bis zur letzten Seite, ihre Fehleinschätzungen und eine gewisse Flatterhaftigkeit. In Emmas Haushalt fehlt zudem eine liebende oder dämliche Mutter à la manière Austen: Emma ist seit langem Halbwaisin. (Dafür macht Jane Austen Emmas ältlichen Vater zur Spottfigur.)

Untypisch auch, dass Austen (nicht eine Romanfigur) banale Verallgemeinerungen äußert und ausführlich über mögliche, aber ungewisse Vergehen in der Vergangenheit spekuliert, sogar Ehebruch in den Raum stellt. Es gibt gleich drei junge Leute, die ohne Eltern aufwuchsen, insgesamt könnten mindestens drei Paare neu zusammenkommen, aber wer endgültig mit wem, bleibt lange völlig unklar (mir jedenfalls).

Die Übersetzung:

Ich hatte mehrere Übersetzungen stichprobenartig online verglichen und entschied mich für Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié im S. Fischer-Verlag. Ihr Text überzeugte mich mehr als die Eindeutschungen von Helga Schulz oder den Grawes, und Andrea Ott gibt’s diesmal nicht.

Die Alliés klingen zumeist flüssig und nicht hölzern “übersetzt”. Mitunter tönen sie etwas blümerant gewunden, aber das muss wohl so sein:

Emma ließ es nicht an Mühe fehlen, seine Gedanken in diesen erfreulichen Bahnen zu halten

Auch die Rätselgedichte (Scharaden) bekommen sie leidlich hin. Ich weiß aber nicht, was ich von “Großmutiges zu dem Thema zu sagen” halten soll.

Die blasierte Figur Mrs Elton redet im Original teils falsches Italienisch (“cara sposa” oder “cara sposo” über ihren Ehemann; teils sagt sie es korrekt; wie von David M. Shapard betont). Daraus machen Allié/Kempf-Allié durchgängig korrektes Italienisch (“caro sposo”, u.a. S. 349); das decouvriert weniger (wenn man die Grammatik kennt).

Schwächen:

Gelegentlich klingt die Übersetzung doch zu umständlich, zu nah am Englischen:

Schnell und entschieden, wie sie war, verlor Emma keine Zeit, sie einzuladen, sie zu ermuntern… ((S. 35))… eine so vorteilhafte Heiratsgelegenheit ((S. 68))…

Eindeutig falsch scheint mir schon ohne Vergleich mit dem Original (S. 407):

Er merkte, dass er nichts bezweckte

Das muss ja wohl “bewirkte” heißen.

Wer den Shapard (s.u.) von 2012 liest, findet bei Allié/Kempf-Allié von 2019 offenbar einen sachlichen Fehler. Sie schreiben (S. 432):

eine Dame aus der irischen Ausflugsgesellschaft

Bei Austen heißt das:

one of the ladies in the Irish car party

Und David M. Shapard erklärt dazu (S. 665):

An Irish car was a carriage, inexpensive and mostly used in the country

“Irisch” ist also nicht die Herkunft der Ausflugsgesellschaft, sondern ein Kutschentyp.

Dazu kommen vereinzelte “sie”-Tippfehler wie

Aber es ist wohl eine Vorliebe bei den Männern, eine Leidenschaft geradezu, besonders bei den Alleinstehenden, dass Sie ((sic)) gern zu solchen Gesellschaften gehen… ((S. 131))

Auf alle Fälle müssten Sie ((sic)) so gut es gehe beisammenbleiben… ((S. 151))

David M. Shapards Anmerkungen:

Nach einem deutschen Kapitel las ich das englische Original und dazu die exzellenten Anmerkungen von David M. Shapard jeweils auf derselben Doppelseite.

Shapard schreibt glasklar und vermeidet modisches Wortgeklingel oder Persönliches ebenso wie irgendeine Wertung. Er schreibt zum Beispiel “the novel by that name” statt “the eponymous novel” (S. 637). Nur ganz ausnahmsweise poetisiert Shapard (“mistook shadow for substance”, S. 579).

Seine sehr systematischen Anmerkungen belegt Shapard oft mit weiteren Stellen aus dem Roman, aus anderen Austen-Romanen, aus Austens Briefen oder Leben. Er verweist innerhalb seiner Anmerkungen zum Beispiel von einer Notiz auf S. 119 zu einer anderen auf S. 806 oder von Seite 739 auf Seite 68 im Romantext.

Dazu kommen wirklich nützliche Erklärungen wie

come-at-table: obtainable, available

the drawing room, whose name derives from the idea of withdrawing

This ((30.000 Pfund)) is an enormous fortune for a woman. In Austen’s novels only one other woman from the landowning class, Georgiana Darcy of Pride and Prejudice, has an equal fortune.

Hilfreich zudem

  • die ursprünglichen Bedeutungen von “making love to” (S. 229)… und “in love with”
  • die sozialen Implikationen von Schiebefenstern vs. Flügelfenstern
Weniger wäre mehr:

Mitunter erklärt Shapard zu viel, wo zwei Zeilen gereicht hätten – über Möbelstile, Rinderrassen (S. 45), Anbaumethoden oder Zahnheilkunde (S. 803). Und ist noch Platz auf der Seite, klatscht er eine historische SW-Abbildung rein. Auch viele kleine Erklärungen von Wortbedeutungen waren für mich überflüssig, die Bedeutung erhellt stets aus dem Zusammenhang, etwa in:

trampers: tramps, vagrants.

doubtful: uncertain.

stout: vigorous, robust.

great: large ((…))

own: confess

material: essential

Nur gelegentlich äußert sich Shapard zu Jane Austen als Autorin. Lob oder Tadel spricht er nur in der Einführung aus, aber nicht in den Anmerkungen; und er diskutiert auch nicht die Austen-spezifische Satzstellung à la

“Cannot you guess what this parcel holds?” said she

Ein paar Fragen klärt David M. Shapard jedoch nicht: mehrfach sprechen Akteure große Indiskretionen aus. So plaudert der Arzt Perry aus, was er bei Hausbesuchen erlebte und hörte; und Mister Knightley berichtet Emma brühwarm von den Heiratsplänen, die Robert Martin Mister Knightley vertraulich erzählt hatte. Ob solche Indiskretionen üblich waren oder eher einen Kunstgriff Jane Austens darstellen, der die Handlung voranbringt, sollte Shapard mal sagen. (Und dass Emma Mister Eltons Scharade in Harriets Rätselbuch schreibt, wird im Roman als mögliche Indiskretion betrachtet.)

Shapard spoilert:

Das kannte ich von den anderen drei Shapard-Austen-Kolloborationen nicht: Shapard spoilert. Schon ohne Vorwarnungen deutet er Entwicklungen etwas zu klar an:

Subsequent events will confirm her surmise… Over the rest of the novel she will… will prove to be mistaken… Later events will demonstrate that… Later events will reveal the fallacy of this estimation… she will shortly demonstrate far more… as subsequent events will show, this statement indicates that…

Einige Anmerkungen garniert er zudem mit einem aufgeregt großbuchstabigen, gefetteten in (warum?) geschweiften Klammern gefassten

{CAUTION: PLOT SPOILER}

Hier diskutiert Shapard einige der Rätsel, vor die Jane Austen den Leser stellt, noch vor ihrer endgültigen Auflösung. Für mich als Leser eine schmerzhafte Zwickmühle: ich lese zu gern Shapards mild psychologisierende Anmerkungen; aber ich will nicht vor der Zeit wissen, wer wen vor den Traualtar führt oder welche Intrige in Gang hält. Shapard betont in den “Notes to the Reader”, dass seine Spoiler-Anmerkungen keine historischen oder sonstigen Hintergrundinformationen enthalten.

Shapards wunderbare, unaufdringlich analytische Einleitung spoilert nach Vorwarnung durchgehend – darum sollte sie am Ende des Buches stehen (solche Einleitungen lese ich generell erst nach Lektüre des Romans).

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