Kritik Kurzgeschichten aus: Tanz der seligen Geister, von Alice Munro (1968) – 7,33/10

Die Kurzgeschichten in Alice Munros erstem Sammelband sind relativ kurz, eingängig, teils ungewöhnlich lustig und überwiegend gut, also eine exzellente Einführung in ihr Werk. Die Szenario dieser Geschichten – das ländliche Kanada in den 30er bis 50er Jahren – kehrt in späteren Bändern immer wieder. Einige Texte zeigen den Kinderblick auf Erwachsene. Mehrfach erscheint das Wort slatternly (ich las auf Englisch).

Ich habe hier nach Vorrecherchen einige Geschichten übersprungen, die mir inhaltlich nicht zusagen. Meine Durchschnittswertung der gelesenen 12 von 15 Geschichten ist 7,33 von 10. Weil Munro sehr eindrücklich schreibt, wären mir weniger, dafür längere Geschichten lieber – also wie in ihren späteren Büchern.

Die Geschichten im einzelnen:

Walker Brothers Company ᛫ 7,5/10

Ein Vertreter für Hausmittelchen und Seifen zieht von Tür zu Tür in den 1930ern im ländlichen Kanada. Dann, die Kinder sitzen mit im Auto, ein unerwarteter Umweg. Die damals kleine Tochter erzählt im Rückblick.

Etwas fliegt aus dem Fenster, ansonsten passiert wenig. Munro schreibt indes wunderbar atmosphärische Szenen, unter anderem von der Mutter, die den Statusverlust mit Manieriertheiten überspielt, vom Vertreter-Vater, der seine ausgenudelten Sprüche an jeder Tür herunterleiert und die Kinder im Auto mit improvisierten Liedchen bespaßt sowie von seiner Ex (ist sie das?) auf ihrem heruntergekommenen Hof. Munro zeichnet markante Persönlichkeiten mit wenigen Sätzen. Ein paar Mal habe ich sogar laut gelacht, und das bei Alice Munro.

Ich kenne höchstens 20 Prozent der Kurzgeschichten von Alice Munro, aber gefühlt 20 Prozent dieser 20 Prozent handeln von der Kindheit im ländlichen Kanada, erzählt von einer Tochter im Rückblick, mit wunderbarer Einfühlung in die kindliche Perspektive (selbst wenn die Erzählerin derweil erwachsen ist). Wieder hören wir von der Pelztierzucht des Vaters, der sie  zugunsten seiner Vertretertätigkeit aufgab. Überraschend nur, dass die Ich-Erzählerin diesmal nicht auch über ihr erwaschenes Leben redet.

Assoziation:

  • scheinbar agiert die selbe junge Hauptfigur in den Geschichten Jungen und Mädchen und Rotes Kleid aus demselben Band – ebenso wie in weiteren Kurzgeschichtensammlungen Munros
  • ländliche Szenen in den Nord-US-Geschichten von Richard Ford
  • die energische Nora erinnert an die ebenfalls alleinstehende, für sich selbst kämpfende Mrs Fullerton aus der Geschichte Die leuchtenden Häuser; in beiden Fällen überlegt man, ob es Afroamerikanerinnen sind
  • Volltext, auch hier.
Danke für die Schlittenfahrt ᛫ (engl. Thanks for the Ride) ᛫ 7,5

Zwei Jungs, zwei Mädels, um die 20, am Samstagabend in tiefster Provinz.

Gelangweilte, öde, abstoßende Typen, deren Verhalten momentweise unrealistisch wirkt, jedenfalls für Munro-Verhältnisse (sie schrieb es mit 22). Das ist gut getextet, nur die Figuren stoßen alle ab, aber das ist kein Abwertungsgrund.

Assoziationen:

  • Eine groteske Unfall-Art erscheint erneut in der Geschichte Daheim (s.u.).
  • Ungewöhnlich der männliche Ich-Erzähler; wie auch in der Geschichte Stolz (aus der Sammlung Liebes Leben) ging ich eine Weile von einer Ich-Erzählerin
Die leuchtenden Häuser (engl. The Shining Houses) ᛫ 7,0

Junge Frau mit Kind betrachtet neugebaute Einfamilienhäuser im Vorort und sinniert über Veränderungen. Die Nachbarn stören sich sehr an einem alten, heruntergekommenen Kleinbauernhof inmitten der hübschlerischen Neubaupracht.

Munro präsentiert ihr Thema zu aufdringlich didaktisch, als Stoff für eine Unterrichtsdiskussion, es fängt beim Titel an. Offenbar war das eine sehr frühe Übungsgeschichte für Alice Munro (Quelle). Die Konzentration aufs Thema führt zu blasser Handung – es passiert nicht viel, so dass ein Rezensent positiv vermerkte:

We have no story getting in the way of the theme

Trotzdem interessieren und bewegen die Figuren, so die junge, zweifelnde Mary und die alte, mürrische Kleinbäuerin Mrs Fullerton; auch die jung-dynamischen Nachbarn mit Sorge um die Wertentwicklung ihrer Immobilien erscheinen plastisch.

Assoziation:

  • Südstaaten-Geschichten von Eudora Welty, Kate Chopin, Zora Nelly-Hurst (u.a. mit den Motiven Wildfremder Mann erscheint, Ehemann verschwindet)
  • Wohnlagen und mögliche Wertveränderungen in der Frank-Bascombe-Reihe von Richard Ford
  • die resolute Mrs Fullerton erinnert an die ebenfalls alleinstehende, für sich selbst (und hier noch für ihre blinde Mutter) kämpfende Nora aus der Geschichte Walker Brothers Company; in beiden Fällen überlegt man, ob es Afroamerikanerinnen sind
  • Volltext
Das Büro (engl. The Office) ᛫ 7,5

Junge Hausfrau, Mutter und Schriftstellerin möchte endlich in Ruhe schreiben und mietet sich zwei Blocks von zu Hause ein Büro. Doch dort belagert sie der Vermieter.

Die ab dem zweiten Drittel überraschend amüsante Satire betrübte mich zunächst. Ich dachte, auweia, Schriftstellerin schriftstellert über Schriftsteller, wie bei Leipziger  Literaturmechatronikern, und hier noch mit  feministischem Furor: Frauen können zu Hause nicht in Ruhe arbeiten, so die Ich-Erzählerin, weil man doch immer erwarte, dass sie Kinder, Katze, Küche bewirtschaften; während daheim arbeitende Männer viel eher in Ruhe gelassen würden.

Doch im Mittelpunkt der Satire steht der anstrengende Bürovermieter, der die ersehnte Ruhe und Einsamkeit der Ich-Erzählerin torpediert. Der Ton ist für Alice Munro ungewohnt, sie selbst redet von “flippancy”. Ein Schwachpunkt: wie die Familie der ich-erzählenden Schriftstellerin auf deren Teil-Auszug reagiert, erfahren wir nicht.

Assoziation:

Ein Gläschen Medizin (engl. An Ounce of Cure) ᛫ 7,5

Unglücklich verliebte 15 jährige entdeckt beim Babysitten die Whiskyflaschen ihrer Gastgeber. Die Kleinstadt ist bekannt für ihre Anti-Alkoholiker-Bewegung, die Eltern der 15-jährigen gehören auch dazu (engl. Volltext).

Amüsante Geschichte. Im Rückblick erzählt von einer verheirateten Mutter. Die Hysterie einer 15-jährigen schildert Alice Monroe genüsslich ironisch, trotz der Mini-Katastrophen heiterer als ihre anderen Jugendgeschichten und heiterer als die anderen Texte im Buch (soweit ich sie las):

“Martin has enough conceit to sink a battleship,” I said morosely… I gave up my soul for dead… (we might have been discussing an incurable disease I had)…

Eine gute Mischung aus hormongesteuerter Teenie-Aufgeregtheit und mild erwachsenem Rückblick.

Erst gegen Ende erscheint die 15-jährige eindeutig zu altklug, geradezu metafiktional:

I felt that I had had a glimpse of the shameless, marvellous, shattering absurdity with which the plots of life, though not of fiction, are improvised.

Vielleicht packt Alice Munro zu viele Themen in die kurze Geschichte:

  • Liebes-Aufgeregtheit einer Teenagerin,
  • Besäufnis halb aus Versehen,
  • Kleinstadtskandal,
  • Anti-Alkoholiker-Bewegung

Assoziation:

  • Drama um enttäuschte Liebe wie in Postkarte (s.u.), hier aber in einer anderen Altersgruppe.
Tag des Schmetterlings ᛫ (engl. Day of the Butterfly) ᛫ 6

Außenseiterin in der 6. Klasse ist isoliert, kommt ins Krankenhaus.

Einfühlsame Kinderszenen, doch die Geschichte leidet darunter, dass die Lehrerin den 11. Geburtstag der Außenseiterin, als diese im Krankenhaus liegt, unbedingt drei Monate zu früh feiern will, sehr unrealistisch. Der Autor von Sitting Bee u.a. Kommentatoren erklären die Motivation der Lehrerin; ich hatte es nicht verstanden; trotzdem befremdet mich das Vorziehen einer Geburtstagsfeier um drei Monate. Wieder einmal beschreibt eine Erwachsene Kindheitsszenen.

Postkarte ᛫ (engl. Postcard) ᛫ 7,5

Ü30erin erfährt aus der Zeitung, dass ihr langjähriger unehelicher Partner unangekündigt eine andere heiratete.

Wie in andere Munro-Geschichten aus diesem Band fand ich schwer hinein, die Personen und Orte diesmal besonders unübersichtlich. Und wie bei anderen Geschichten konnte ich ab der dritten Seite kaum noch absetzen. Interessante Figuren. (Sehr ausführliche engl. Analyse.)

Assoziation:

  • Drama um enttäuschte Liebe wie in Ein Gläschen Medizin (s.o.), hier aber in einer anderen Altersgruppe.
Sonntagnachmittag ᛫ (engl. Sunday Afternoon) ᛫ 7,0

Sorglose Mittelschichtkanadier treffen sich sonntags Mittags zum Lunchen und Picheln – geschildert aus der Perspektive einer jungen, nachdenklichen Haushälterin.

Interessante Beobachtungen, doch Alice Munro überbetont die Differenzen zwischen der unerfahrenen Haushälterin und ihren in anderen Sphären schwebenden Arbeitgebern und deren Freunden und Kindern.

Assoziation:

  • Das Szenario erinnert an Kurzgeschichten und Romane von John Updike und an Kurzgeschichten von John Cheever.
Ein Ausflug an die Küste ᛫ (engl. A Trip to the Coast) 6,5

Grossmutter, Mutter und Tochter bewohnen die Tankstelle in einem gottverlassenen Drei-Häuser-Nest.

Unsympathisches Szenario, aber attraktiv maulfaule Dialoge. Die Haupthandlung setzt erst auf den letzten Seiten ein, davor nur Geplänkel und Atmo. (Vielleicht ist es auch schon die Haupthandlung, und ich kapiere es nicht.)

Tanz der seligen Geister ᛫ (engl. Dance of the Happy Shades) 7,0

Alternde, altmodische, zunehmend weniger gefragte Klavierlehrerin arrangiert jedes Jahr in ihrem Eigenheim einen Vorspielnachmittag für ihre Schüler und deren Eltern.

Die Geschichte besteht zum Teil aus Rückblenden und Verallgemeinerungen. Trotzdem überzeugen die sehr suggestiven Beschreibungen der betulichen, aus der Zeit gefallenen Klavierlehrerin und ihrer ebenso schrulligen Schwester. Amüsant auch die  Eltern – genervt, aber unfähig, sich der Vorspieltortur zu entziehen. Das Ganze ist eine Serie von groben Peinlichkeiten für distinguierte Mittelschichteltern, und dann setzen sich zu deren Schreck auch noch geistig behinderte Kinder ans Klavier. Die letzte Pointe zu aufdringlich.

Rotes Kleid – 1946 ᛫ (engl. Red Dress) ᛫ 8

13jährige quält sich mit ihrer end-peinlichen Mutter und mangelnder männlicher Zuwendung bei Tanzveranstaltung.

Hervorragende Einfühlung in teenage ängst, sehr plastische Ich-Erzählstimme.

Assoziation:

  • Nicht unähnlich der Tanzveranstaltung aus Stimmen (s.o.), und noch näher an Jungen und Mädchen (s.u.), beide ebenfalls aus Jugendsicht geschildert
Jungen und Mädchen ᛫ (engl. Boys and Girls, Zeitschr.-veröff. 1964) ᛫ 8

Bruder und Schwester wachsen auf einsamer Pelztierfarm auf, arbeiten in unterschiedlichen Rollen teilweise mit.

Hochatmosphärisch, starke Jugendstimme (obwohl von Erwachsener im Rückblick erzählt), klingt fast wie Privatbrief, typisches autobiogr. geprägtes Munro-Ambiente, das Thema “Geschlechterrollen” unaufdringlich entwickelt, gut konstruiert und bewegendes Finale.

Assoziation:

Nicht gelesen:
  • Der Friede von Utrecht ᛫ (engl. The Peace of Utrecht),
  • Die Zeit des Todes ᛫ (engl. The Time of Death)
  • Bilder ᛫ (engl. Images) ᛫ g.

Einige Texte habe ich online gefunden und gelesen. Teils waren es sicher die Zeitschiftenversionen, die sich deutlich von späteren Buchfassungen unterscheiden können. Meine erste ausgedruckte Fassung von Boys and Girls hatte so viele Tippfehler und Wortaussetzer, dass ich nach einer anderen Fassung suchte. Die schien zunächst besser, lieferte aber immer noch Grauenhaftes wie:

He cut with they scythe and I raked into piles.

Eigentlich sollte man bei so etwas abbrechen und ein ordentliches Buch kaufen; aber ich war so drin in der Geschichte, dass ich weiterlesen musste. Die Mehrzahl der Geschichten las ich im Taschenbuch.

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