Allgemeines:
Schon in der englischen Fassung haben die neun Geschichten im Schnitt je gut 35 Seiten – im Deutschen also wohl deutlich mehr.
- Alice Munro findet in ihren Kurzgeschichten passende, uneitle Worte – ohne Bling, ohne Schäkern, auf den Punkt.
- Sie beschreibt genaueste Beobachtungen, ohne langatmig zu werden, und die Dinge klingen so lebensecht, dass sie einfach nicht erfunden sein könnten – leicht abwegig manchmal, aber eben darum vorstellbar und nicht geschriftstellert.
- Sie liebt schwierige Situationen: Krebserkrankung, Alzheimer, uneheliche fortgegebene Kinder, Tod, geplanter Selbstmord, christlicher contra agnostischer Fundamentalismus. In fast jeder Geschichte stirbt jemand nach Krankheit. Eine Geschichte beginnt:
Lionel told them how his mother had died.
- Alice Munro (*1931, Nobelpreis 2013) schreibt überwiegend keine Geschichten, die sich konstruiert gefällig runden, sondern Zusammengewürfeltes, das irgendwie mäandert und unspektakulär ausklingt – so ist wohl das Leben. Passend dazu will eine Ich-Erzählerin Schriftstellerin werden und meint, Schreiben sei
more like grabbing something out of the air than constructing stories.
- Unerwartete Küsse für etwas einsame, etwas verhuschte Frauen
- Diese malen sich mehrfach intensiv etwas aus (erwarteter Selbstmord einer Verwandten, geänderte Ehebruch-Umgebung, “why did she conjure up…”)
Unter den 100 besten Büchern des 21. Jahrhunderts sieht der Guardian Munros Himmel-und-Hölle-Sammlung auf Platz 27 (als einziges Munro-Buch).
- Amazon-Werbelinks: Alice Munro | Raymond Carver | Richard Yates | Richard Ford | John Updike
Vergleich mit anderen Kurzgeschichtlern – all das hat Alice Munro nicht:
Sie verwendet äußerst durchschnittliche Figuren, Sätze und Schauplätze.
- Alice Munro verzichtet auf Bling und witzig-coole Ein-Zeiler à la Ernest Hemingway, Lorrie Moore, Scott Fitzgerald, Jay McInerney oder John Updike
- Kein männlich-herbes Mackertum à la Hemingway, Raymond Carver, Junot Díaz, Richard Yates oder Hans Herbst
- Keine exotischen Schauplätze oder Charaktere wie bei Hemingway, Díaz, Jhumpa Lahiri oder Somerset Maugham
- Nicht elegisch verrätselt oder angestrengt minimalistisch wie Judith Hermann oder R. Carver nach dem Lish-Lektorat
Die Menschen, die Sprache, die Kulissen wirken bei Alice Munro generell grau-blassbraun.
Freie Assoziation:
- Im Vergleich zur Munro-Sammlung Liebes Leben (Dear Life, 2012) klingen die Kurzgeschichten hier etwas fülliger und konkreter.
- Munro hat praktisch keine Merkmale, die an andere Autoren erinnern (s.o.) – und in dieser Eigenschaftslosigkeit erinnert sie vielleicht am ehesten an die Kurzgeschichten von Richard Ford.
- Bei der Niederschrift ging Alice Munro auf die 70 zu, und einige Texte durchzieht eine Alterswehmut, die aufdringlicher auch in den späten Kurzgeschichten von John Updike anklingt, schlimmer noch in seinen Witwen von Eastwick. Bei Updike sind die Senioren jedoch aktiver und unruhiger, sie blicken nicht vor allem zurück.
- Amazon-Werbelinks: Alice Munro | Raymond Carver | Richard Yates | Richard Ford | John Updike
Die Geschichten im Einzelnen:
x von 10 | |
Hasst er mich, mag er mich, liebt er mich, Hochzeit
Schülerin Sabitha lebt beim Großvater. Ihre Mutter starb, der Vater jobbt in der Fremde. Der Vater scheint brieflich mit Johanna, der einsamen Zugehfrau des Großvaters, anzubandeln, doch die Briefe sind von Sabitha und Freundin gefälscht. Johanna reist samt entwendeten Möbeln in Erwartung einer Ehe in die Fremde zu Sabithas Vater. ᛫ Diese komplexe Konstellation erzählt Alice Munro häppchenweise unübersichtlich aus wiederholt wechselnder Perspektive; die lange unklaren Verhältnisse erzeugen einen Teil der Spannung. Daneben liefert Munro brillante Details, Dialoge, Kurzportraits und perfekte Formulierungen. Allerdings ist die Geschichte nicht klar in der Zeit verordnet, obwohl sie Moden erwähnt. ᛫ Wird teils zu Munros besten Geschichten gezählt (Quelle). Nur dies und das ebenfalls besonders beliebte The Bear Came over the Mountain am Buch-Ende enden wohlgerundet – Zufall? Verfilmt 2013 (IMDB). Engl. Titel Hateship, Friendship, Courtship, Loveship, Marriage |
7 |
Eine schwimmende Brücke ᛫ 2000
Krebskranke Jinny, ihr Mann Neal, ihre Pflegerin und deren Angehörige. ᛫ Schöne Szenen, aber heterogen, nicht rund wie etwa Hasst er mich… Nicht sehr tragisch. Der eigentlich sozial engagierte Neal wirkt gegenüber der krebskranken Jinny unglaubwürdig uneinfühlsam. ᛫ Assoziation: die weibl. Hauptfigur ähnelt ihrem Pendant in Trost (s.u., herausgearbeitet hier), in beiden Geschichten auch unheilbare Krankheit. Engl. Titel Floating Bridge |
7 |
Erbstücke ᛫ 2001
Zunächst jugendliche Ich-Erzählerin erinnert sich an mild unkonventionelle Tante. Danach Missverständnisse und Geheimnisse in der Familie. ᛫ Habe die Zusammenhänge nicht wirklich verstanden, erst Onlinelektüre brachte Aufschluss. Kein runder Handlungsverlauf. ᛫ Engl. Family Furnishings, auch Titel eines engl. Munro-Sammelbands von 2014 |
5,5 |
Trost
Frau kommt vom Tennisspielen heim, ihr Mann hat Selbstmord begangen. Er war zuvor unheilbar krank gewesen. Es folgen Suchen nach einem evtl. Abschiedsbrief und Rückblenden, u.a. zu Auseinandersetzungen mit christl. Fundamentalisten, die der Verstorbene in seinem Lehrerberuf hatte, sowie Krisen. ᛫ Die christlichen Fundamentalisten einerseits und der Selbstmord bei unheilbarer Erkrankung andererseits wirken etwas zusammengewürfelt. Trotzdem gut erzählt, überwiegend ohne Drama, aber auch ohne Rundung. ᛫ Assoziation: die weibl. Hauptfigur ähnelt ihrem Pendant in Eine schwimmende Brücke (s.o., herausgearbeitet hier), in beiden Geschichten auch unheilbare Krankheit. Engl. Titel Comfort |
6,5 |
Nesseln ᛫ 2000
Rein zufällig trifft Frau nach Jahrzehnten ihren Kindheitsschwarm wieder. Sie ist gerade solo, ihre Kinder sind beim Ex. Und er ist gerade Strohwitwer. ᛫ Wirklich hübsche Zufälle. Zudem reizvolle Einzelszenen und teils Dialoge, jedoch etwas zusammengewürfelt, und Munro begeht zwei Straftaten: Die Ich-Erzählerin ist Schriftstellerin, und es gibt unglaubliche Zufälle. Strafmildernd: Der Schriftstellerberuf spielt in der Geschichte keine große Rolle. ᛫ Assoziationen: Zufällige Wiederbegegnung zweier Ex-Lover auch in Richard Fords Kurzgeschichte Nichts zu verzollen/Nothing to Declare. Auch Theodor Storms Novelle Pole Poppenspäter lebt von einem ähnlichen, unglaublichen Zufall und verwendet Zeitsprünge. Engl. Titel Nettles. (Volltext und Audio.) |
7 |
Pfosten und Bohlen ᛫ 2000
Diese Geschichte mäandert noch mehr als die anderen, alle drei Absätze gibt’s eine andere Erzählperspektive, ein anderes Thema. Kein Wunder, dass die Protagonisten am Ambleside Beach abhängen. Häufig sehr genau beobachtet, doch wenig zusammenhängend, dafür oft ungemütlich: Tod der Mutter, “breakdown” des Sohnes, sein Job in der Kirche, Gedichte von Jünglingen, intensiv imaginierter Selbstmord in der Familie. Einzelne Wörter oder Sätze wirken ungemein bedeutungsvoll, aber ich verstehe sie nicht. ᛫ Engl. Titel Post and Beam |
4,5 |
Was in Erinnerung bleibt ᛫ 2001
Junges Ehepaar fährt zu Beerdigung, dann chauffiert ein anderer Gast die Frau zu einem geplanten Verwandtenbesuch. Es britzelt. Und es gibt eine zweite Zeitebene, 30 Jahre später. ᛫ Obwohl wieder seltsame Themen-Kombi (junge Eheleute, Beerdigung, Altenheim, Apartment, Hotel-Fantasie, Jugenderinnerung), erzählt Munro hier ungewöhnlich chronologisch und übersichtlich; die vielen Zeitsprünge gegen Ende verwirren nicht mehr, da wir bereits den Überblick haben. ᛫ Engl. Volltext online. Engl. Titel What is Remembered |
7 |
Queenie ᛫ 1998
Ich-Erzählerin besucht ihre erwachsene Stiefschwester Queenie. Die lebt unterwürfig mit einem Tyrannen, der früher ihr Vermieter war. ᛫ Einige Munro-typische Zeitsprünge, Abschweifungen und Unübersichtlichkeit, auch bei den Figuren – zweite Lektüre brächte Klarheit, aber so gut ist der Text nicht; doch ausgerechnet diese Geschichte erschien auf Englisch sogar als Einzelbuch. Relativ prekäre Kulisse für Munro. ᛫ Assoziationen: Zwar schildert Munro auch andere unachtsam-dominante Ehemänner, etwa in Pfosten und Bohlen und in Eine schwimmende Brücke, doch hier ist Stan Vorguilla eine miese Klasse für sich, und Queenies Anklammern an Stan erscheint unrealistisch. Der Queenie-Roman von Candice Carty-Williams schildert zwar auch eine Frau und fiese Männer, ich sehe trotzdem keinen Bezug (in beiden Texten fragte ich mich nur, warum die Frauen diese Mannsbilder nicht sofort stehenlassen). Offenbar unterscheiden sich Erstveröffentlichung in der LRB und die Buchfassung Jahre später, wie wohl immer bei Munro. Engl. Titel Queenie |
6,5 |
Der Bär kletterte über den Berg ᛫ 1999
70jährige zieht mit leichtem Alzheimer ins Heim, ihr Mann beobachtet verblüfft ihre Veränderung. Natürlich allerlei Reminiszenzen. ᛫ Ungewöhnlich für Munro die Männersperspektive. Ungewöhnliche Konflikte, interessante Einblicke – aber realistisch? ᛫ Wird teils zu ihren besten Geschichten gezählt (Quelle 1, Quelle 2), einzige Geschichte aus dieser Sammlung mit eigenem dt. Wiki-Eintrag. Nur dies und das ebenfalls besonders beliebte Hasst er mich, liebt er mich… am Buchanfang enden wohlgerundet – Zufall? Verfilmt als Away From Her. Engl. Volltext online (Zeitschr.fassung offenbar anders als Buchfassung). Engl. Titel The Bear Came Over the Mountain. Demenzthema auch in der Munro-Geschichte Mit Seeblick im Band Liebes Leben |
7,5 |
Ø |
6,5 |
Jahreszahlen von Wikipedia, dort weitere bibl. Details. Ich kenne nur das engl. Originalbuch von 2001 und nicht Heidi Zernings Eindeutschung von 2004 oder andere Textfassungen, z.B. die Erstveröff. in Zeitschriften.
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