Kritik Südstaaten-Roman: The Awakening, von Kate Chopin (1899) – 7/10

Mir ist egal, ob der Roman feministisch ist oder nicht. Er muss gut und er muss sehr realistisch sein. In der ersten Roman-Hälfte passt beides. In der zweiten Hälfte driften die Hauptfigur und mit ihr das Buch ab.

Die erste Romanhälfte spielt in einer Urlaubsanlage auf Grand Isle im Golf von Mexiko, die zweite in New Orleans. Auf Grand Isle ist Hauptfigur Edna Pontellier meist mit ihren Kindern, aber ohne Mann. Hoteliersohn Robert Lebrun umschwärmt sie. Die schwüle Hitze macht sinnlich und träge, findet auch Ednas liebe Freundin Adèle Ratignolle:

“It is really too hot to think, especially to think about thinking.”

Zurück für den Winter in New Orleans, ändert sich Edna Pontellier deutlich. Ihr Mann findet sie

a little unbalanced mentally

Und das ist noch milde ausgedrückt. Edna Pontellier widersetzt sich üblichen Erwartungen und Verpflichtungen, wirkt mehr und mehr willkürlich, wie das Konstrukt einer Schriftstellerin mit Botschaft, aber ohne Interesse an Realismus.

Satire:

Kate Chopin schreibt teils zu deutlich – die Annäherung zwischen den Liebenden, die unbekümmerte Arroganz des Herrn Pontellier gegenüber seiner sensiblen Frau Edna, das formuliert sie zu explizit. Das gilt auch für die Charakterisierung der Frauen auf der Urlaubsinsel:

They were women who idolized their children, worshiped their husbands, and esteemed it a holy privilege to efface themselves as individuals and grow wings as ministering angels

In solche Beschreibungen mischen sich scheinbar persönliche Neigungen und Satire. Mehrere Absätze am Stück beschreiben das Aussehen der Frauen:

The charm of Edna Pontellier’s physique… The lines of her body were long, clean and symmetrical; it was a body which occasionally…

Chopins Satire kann auch entzücken:

Madame coquetted with him in the most captivating and naïve manner, with eyes, gestures, and a profusion of compliments, till the Colonel’s old head felt thirty years younger on his padded shoulders.

Oder hier:

Alcée Arobin’s manner was so genuine that it often deceived even himself.

Konstruktion:

Hauptfigur Edna Pontellier wirkt zunehmend labil, ihr Verhalten nicht absehbar und beliebig.

Im Roman spielen mehrere Briefe eine Rolle, die Kate Chopin jedoch nie wörtlich wiedergibt – ein Mangel. Ungünstiger noch: die Hauptfigur liest einen wichtigen Brief, und wir erfahren, dass sie in Tränen ausbricht, aber nicht, was sie gelesen hat. Das ist ein billiger Autorentrick.

Sinnlich:

Immer wieder betont Kate Chopin Sinn- und Körperlichkeit ihrer Hauptfigur Edna Pontellier:

Edna bit a piece from the brown loaf, tearing it with her strong, white teeth. She poured some of the wine into the glass and drank it down…  She bathed her face, her neck and arms in the basin… She took off her shoes and stockings and stretched herself in the very center of the high, white bed…

Ganz zu schweigen von ihren

first-felt throbbings of desire

Und die Freundin Madame Ratignolle trägt

a negligé which left her arms almost wholly bare and exposed the rich, melting curves of her white throat.

Ednas Mann dagegen:

Er ist ein Philister, ein unachtsamer alter weißer Mann (wenn auch eigentlich nicht alt), mit sich und der Umwelt aufreizend im reinen. In die Suppe kippt er

pepper, salt, vinegar, mustard – everything within reach.

Er erkenne einfach nicht, erklärt uns Kate Chopin,

that she ((seine Frau Edna)) was becoming herself and daily casting aside that fictitious self which we assume like a garment with which to appear before the world

Stattdessen konsultiert er den Hausarzt wegen der

devilishly uncomfortable ((…)) notion in her head concerning the eternal rights of women

Sprachlich divers:

Die weißen Louisiana-Kreolen (engl. Wiki) reden im Roman ein lustiges, aber nicht sehr auffälliges Englisch-Französisch, gelegentlich mit einem Schuss Spanisch. Sogar der grün-gelbe Papagei der Lebruns spricht Französisch und “a little Spanish”.

Nicht nur gutes Pidgin gibt es, sondern auch gute Namen:

Mariequita, Adèle Ratignolle, Alcée Arobin

Und Ortsnamen:

Chênière Caminada, Grande Terre, Grande Isle, Barataria

Und Ausdrücke:

tête montée, si tu savais, peignoir

Die Norton Critical Edition (3. Auflage 2018):

Diese Ausgabe bietet viele Erklärungen zum Text direkt auf den passenden Buchseiten, u.a. geografische und historische Bezüge, Erläuterung zu Bibelzitaten, Übersetzung aus dem Französischen. So ausführlich wie David M. Shapard bei Jane Austen erläutern die Norton-Herausgeber allerdings nicht, und sie bringen auch keine Landkarten – Pläne zu Grande Isle und New Orleans wären willkommen.

Offenbar ist die dritte Auflage der Norton Critical Edition von 2018 weit umfangreicher als die zweite. Der Romantext belegt nur ungefähr ein Drittel des leichten Taschenbuchs, rund 112 enger bedruckte Seiten. Weitere rund 250 Seiten liefern zahllose historische und neuere Texte aus allen Jahrzehnten: alte Kritiken, Auszüge aus Biografien und Aufsätzen zu formalen, vor allem aber inhaltlichen Fragen des Romans, auch alte Ratgeber für die schickliche Hausfrau und verblüffende Beziehungen zwischen Kate Chopin und Edgar Degas. Jeder Monografie-Auszug belegt nur wenige Seiten, es sind dennoch nicht durchgehend entnommene Textpassagen, sondern viele kleine Schnipsel, womöglich die Filetstücke; so standen die Zitate von Emily Toth im ursprünglichen Buch laut Fußnote auf den Seiten

pp. 62, 72-75, 78, 79-81, 231, 238-39, 244

Der Umschlag zeigt eine Frau, die am Felsenstrand auf brechende Wellen blickt – das passt nicht zur Geschichte.

Vergleich mit Kate Chopins besseren Kurzgeschichten:

Im Vergleich zu ihren besseren Kurzgeschichten (soweit ich sie kenne) liefert Kate Chopin im Roman The Awakening deutlich längere Beschreibungen, teils mehrere Absätze hintereinander.

Afroamerikaner, einfache Arbeiter und Landwirtschaft spielen in Chopins Roman The Awakening kaum eine Rolle, in ihren Kurzgeschichten durchaus. Das Pidgin ist weniger ausgeprägt.

Der Roman spielt auf einer Urlaubsinsel im Golf von Mexiko und in New Orleans. Chopins mir bekannten Kurzgeschichten siedeln dagegen oft auf dem Land oder Dorf oder in nicht benannten Städten.

Weitere Assoziation:

  • Man denkt an andere Romane, bei denen Frau und Kinder sommers am Meer urlauben, während die Männer nur am Wochenende vorbeischauen – nach meiner vagen Erinnerung bei Eduard Keyserling, Thomas Mann, John Updike.
  • Südstaaten-Pidgin auch bei Eudora Welty, Zorah Nelly-Hurst, William Faulkner, Mark Twain und hier bei Jay McInerney – doch nur Kate Chopin liefert Louisiana Creole mit französischen Einsprengseln und erinnert nicht sonderlich an die genannten Werke
  • Pidgin-Bücher auf HansBlog.de

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