Romankritik: Die Witwe Couderc (1942), von Georges Simenon – 7/10

Wie immer beschreibt Georges Simenon Details so plastisch, als ob er selbst dort aufgewachsen sei. Hier aus Jeans Perspektive,  überraschend allein auf dem Hof:

Was gab es an diesem Tag zu tun? Er drehte das Rad des Ziehbrunnens und fing an, die Salatpflanzen zu gießen.

Auch Brutapparate und Schwefelspritzen, die rote Augen machen, lernen wir kennen. Allerdings trägt der Autor die schweren Jugenderinnerungen der zweiten Hauptfigur zu dick auf. Und Simenon dramatisiert verboten aufdringlich:

Er wusste nicht… dass seine sorglosen Stunden gezählt waren.

Und dann wiederholt Simenon gefühlt ein Dutzend Mal, gähn, den Satz

Die Todesstrafe wird durch Enthauptung vollzogen.

Ja, kursiviert. Auch mal melodramatisch auf Pünktchen endend:

Die Todesstrafe wird durch Enthauptung…

Ohnehin ist Jean, die zweite Hauptfigur,  langweilig bis hohl. Interessanter dagegen das Szenario mit zwei verfeindeten Häusern auf gegenüberliegenden Seiten eines kleinen Kanals.

Dazu Simenons bekannte Altherrensinnlichkeit. Nicht nur bei der sexpositiven, verwitweten Hauptfigur, sondern auch bei deren Stieftochter Félicie:

Wie immer trug sie ihre Kittelschürze und fast nichts darunter, höchstens ein Hemdchen. Sie kroch auf das Kind zu, das im Gras saß… Beim Schlafen ließ sie sicherlich einen Arm hinunterhängen, die Brust unbedeckt…

Mehrere Frauen sind latent nuttig, schlafen mit Hausbesitzer oder reichem Gönner, weil

“…er doch die Wohnungsmiete und meine Kleider bezahlt”

Das Szenario:

Einmal schreibt Simenon:

Zwischen den beiden Häusern, Tatis großem und dem kleinen von Françoise, waren es vielleicht 200 m Luftlinie. Françoise blickte zu Tatis Fenster herüber. Tati blickte zu Françoise hinüber.

So realistisch Simenon sonst ist, diesen Blickwechsel über vielleicht 200 m glaube ich nicht.

Das sagt Paul Theroux:

In seinem Nachwort (ursprünglich für die NYRB) stellt Paul Theroux allen Ernstes La veuve Couderc neben den Fremden von Albert Camus aus demselben Jahr. Camus’ Buch sei “überschätzt”.

En passant reminisziert Paul Theroux allerlei Simenon-Romane und die Simenon-Biografien von Marnham und Assoulin. Nicht überraschend interessiert ihn auch der Sex in den Simenon-Romanen,

Assoziation:

  • Ein Mann allein zu Fuß auf der Landstraße, das erinnert auch an den Beginn von Simenons Zeit mit Anais; beide Herren werden aus ähnlichen Gründen mit ähnlichen Delikten straffällig
  • Das primitiv ländliche Ambiente in denjenigen Kurzgeschichten von Alice Munro, die in den 1940ern in Kanada spielen
  • Nur die Tiere, ein anderer Bauernhof-Roman aus Frankreich
  • Die Verfilmung Die Witwe und der Sträfling, Regie Pierre Granier-Deferre, mit Alain Delon and Simone Signoret (Trailer)

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