Kritik US-Reisebuch: Deep South, von Paul Theroux (2015) – 7/10 – mit Presse-Links


Paul Theroux reist 2012 und 2013 mehrfach länger durch die US-Südstaaten, so dass er in Deep South auf 440 Seiten über alle vier Jahreszeiten berichten kann. Theroux schreibt äußerst flüssig und lesbar (ich hatte die englische Ausgabe). Er besucht fast nur Kleinstädte und fast ausschließlich kleine Leute und Mittelschichtangehörige – häufig Pastoren und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die ihn gelegentlich an echte Hartzer vermitteln, mehr Weiße als Afroamerikaner. Dabei reist Theroux in einer Hinsicht wie ich, “more interested in conversation than sightseeing” (S. 434). Er schreibt nicht über Sehenswürdigkeiten, liefert keine Touristentipps.

Einige Plätze besucht Paul Theroux wiederholt, auf unterschiedlichen Reisen, und keiner ist so richtig markant. Dazwischen beschreibt Theroux gelegentlich lange Autofahrten, eine Landkarte zeigt er aber nicht. So entsteht der Eindruck, dass Theroux nur an einigen wenigen Stationen länger blieb, und die Unterschiede zwischen den Regionen verschwimmen; Arkansas allerdings hat “deep-fried pie” und eine Barfußkultur. Theroux rollt gelegentlich auch Historisches oder Politisches auf – nicht den Bürgerkrieg oder das Ende der Rassentrennung, aber einzelne spektakuläre Massenmorde oder rassistische Auswüchse, die in der Zeitung standen.

Resteverwertung?

Wiederholt denkt man aber auch, dass Theroux die 435 Seiten mit Dingen füllt, die er eigentlich an anderer Stelle veröffentlichen wollte. So gibt es lange Abschnitte über US-Reisebücher (Therouxs  “Tao des Reisens” war gerade erschienen), über die Freuden des Autofahrens auf guten Straßen (Theroux hatte gerade die katastrophale Afrika-Reise zum Buch Zona Verde abgebrochen) und Demütigungen an Flughäfen – all das lehrt nichts über die Südstaaten. Theroux produziert auch gelehrte Abhandlungen über Faulkner, über Südstaaten-Literatur allgemein, über Bill Clintons Jugend,  und er trifft die Autoren Mary Ward Brown sowie kürzer John Lewis und Charles Portis.

Er bringt eine lange Geschichte des Wortes “nigger”, doch die persönlichen Erfahrungen seiner Gesprächspartner mit diesem Ausdruck zitiert er an anderer Stelle und ohne interessante Rückfragen. Schade, dass Theroux ausgerechnet die letzten fünf Buchseiten mit schwer verständlichen Allgemeinheiten füllt.

Kein Reporter-Ehrgeiz:

Mein Gesamteindruck ist: Theroux – Yankee mit Wohnsitzen in Hawaii und Massachussettes – liefert interessante Reportagen und ein paar Hintergründe, aber keine tieferen Erkenntnisse. Er umgibt sich mit mild sympathischen, hart arbeitenden Landbewohnern, engagierten Sozialarbeitern und Pfarrern. Der Ausdruck “salt of the earth” fällt da unvermeidlich; die Ziegenzüchterin Dolores Walker Robinson nennt er gar “the Valiant Woman”.

Theroux bemüht sich jedoch nicht um Hintergründe, die etwas Reportergeist fordern: So besucht er stundenlang die freundlichen Eheleute Skaggs, die er über eine Hilfsorganisation kennenlernt. Er fragt sich, wovon sie leben (S. 364), bemüht sich aber nicht weiter:

I didn’t dare ask.

Wie immer klingt Theroux für US-Verhältnisse politisch leicht links und äußert sich auch kritisch über Atomkraftwerke (besucht aber mehrfach mit einer seltsamen Faszination Schusswaffenmessen).

Fast möchte man das Buch loben, nur weil Peinlichkeiten früherer Therouxbücher ausbleiben: Theroux verzichtet ganz auf Rotlichttouren oder anzügliche Bemerkungen (notiert lediglich, dass er mit Anfang 70 keinesfalls alt sei). Und: Seine Menschenverachtung und der Grant früherer Reisebücher wie Great Railway Bazaar oder Dark Star Safari sind fast verschwunden.

Der einst so zynische Theroux gibt sich als zugewandter Südstaatenflüsterer und Baumwollpflückerversteher; er zitiert mehrfach Kirchenpredigten über eine ganze Seite. Nur einmal verlässt Theroux sein Element, die einfachen Leute in den Kleinstädten, und trifft gebildete Schwarze in Little Rock, die sich jedoch abweisend verhalten (S. 393):

These were the black elite… like a shoal of leathery sharks… suspicious, chilly, with a suggestion of hauteur

(Er schreibt wie gesagt über andere, nicht über sich.)

Verallgemeinerungen:

Theroux liefert jedoch zu viele Verallgemeinerungen, wenn der Einzelfall gereicht hätte, er zitiert aufdringlich Pidgin und intoniert generell demonstrativ lässig “ammo” statt “ammunition”. Theroux mimt den Kumpel des einfachen Mannes und sonnt sich gelegentlich in abgehangenen Klischees, als ob er persönlich sie entdeckt und erstveröffentlicht hätte.

Manche Details wiederholt er überflüssig, seine Kritik an der Clinton Foundation und anderen Hilfsorganisationen erscheint weitaus zu oft: Er kritisiert, dass sie nur in Afrika und Indien helfen, aber nicht in den US-Südstaaten, deren Landschaften und Kleinstädte ihn immer wieder an Sambia, Zimbabwe und Kenia erinnern; in seinem Afrika-Buch Zona Verde kritisiert Theroux ebendiese Hilfsorganisationen für den Schaden, den sie in Afrika angerichtet hätten.

Fotos:

Mein englisches Penguin-Taschenbuch hat 16 Seiten Farbfotos des gefeierten Magnum-Fotografen Steve McCurry. Die meisten Bilder zeigen Therouxs wichtigste Gesprächspartner in ihrer typischen Umgebung, aussagekräftig und exzellent komponiert, doch auch sehr kühl. Zweimal sieht man Theroux, einmal McCurry.

Gleich zu Anfang zitiert Paul Theroux mehrfach das Südstaatenbuch seines Freundfeindkollegen V.S. Naipaul, A Turn in the South – Theroux klingt im Vergleich leichter lesbar, aber auch oberflächlicher. Anders als Naipaul hat Theroux sich auf Kleinstädte und Soziales konzentriert.

Interessant, dass Theroux in seiner Würdigung der US-Reisebücher nicht auf Naipauls Turn in the South kommt, obwohl es dorthin gepasst hätte; stattdessen zitiert er längst vergessene Skribenten. Bei aller demonstrativen Gelehrtheit produziert Theroux immerhin auch interessante Details und Literaturtipps.

“Cliché and decay ” – die Kritiker:

  • Goodreads.com: 3,77 von 5 Lesersternen, 961 Stimmen
  • Amazon.com: 4,1 von 5 Lesersternen, 171 Stimmen (jew. März 2016)

New York Times, Dwight Garner:

a penetrating mind and a pumalike style; he’s among the most consistently interesting writers… Mr. Theroux’s analytical mind does emerge

New York Times, Geoffrey C. Ward:

a leisurely, even languid book, reiterative and sometimes simply forgetful… Discursive asides… slow the narrative

The Washington Post kritisiert wohl am schärfsten:

The superficial stereotypes pile up at once… the author makes observations worthy of a freshman sociology major…

Kirkus Reviews:

As thoughtful as it is evocative, the book offers insight into a significant region and its people and customs. An epically compelling travel memoir.

Financial Times:

a travelogue that doesn’t just pass through. Rather, he seeks here to remain in relationship with his subject… this engrossing book

The New Yorker:

vignettes rendered with a primary focus on literary artistry, rather than analysis, so he never has to state a full-dress argument

Geographical:

The descriptions are warm and intimate, like stumbling back in time to a place where conversation is most people’s principle daily pastime

Publishers Weekly:

Free of the sense of alienation that marked his recent travelogues, this luminous sojourn is Theroux’s best outing in years

SFGate:

Theroux encounters the South through a literary template. He frequently invokes William Faulkner, James Agee and Erskine Caldwell

The Literary South:

Throughout the book, Mr. Theroux appears to be on a quest to prove the stereotypes… readers of Mr. Theroux’s latest book will fail to get a true picture

Wall Street Journal:

Each of the book’s four main sections, undertaken in the four seasons, features a lyrical description of Mr. Theroux’s home in Massachusetts

Charleston Currents:

I grab the book and want to hurl it through the window… elitist, degrading attempts at phonetically capturing the Southern accent.

Los Angeles Review of Books:

Regrettably, Deep South reads as disaster porn… Theroux’s ramblings, on the road and on the page, come off as half-baked...

Jan Morris in The Spectator:

none of his previous travel books has so well illustrated the depth of his humanity, at once worldly, detached and sympathetic

Boston Globe:

Most of the book is given over to tales of the inequity between black and white

Dallas News:

His storytelling is brightest in narrative scenes throbbing with local color. However, the momentum stalls with diversionary lectures

Charlotte Observer:

Theroux’s focus on impoverished places and poor people is exceptionally informative and extremely timely, offering readers insight

Council of Conservative Citizens:

three sources – the narrative of the Civil Rights Movement, Southern literature, and his contacts with local anti-poverty workers.

Washington Independant Review of Books:

Deep South works because Theroux is a master of his craft, but also because he has just the right amount of road-weary wisdom

Australian Book Review:

Like Naipaul, who covered similar terrain in A Turn in the South, he ignores Louisiana.


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