Kritik Monografie: A Turn in the South, von V.S. Naipaul (1989) – 7/10 – mit Presse-Links


V.S. Naipaul redet in den US-Südstaaten mit Politikern, Bürokraten, Autoren (u.a. Anne Rivers Siddons, Eudora Welty), mit Juristen, Geistlichen, seltener mit Arbeitern oder Bauern, und er berichtet nachdenklich von seinen Gesprächen. Keiner gibt Interviews so interessant wieder wie Naipaul – gut zuhörend, scheinbar neutral, intelligent, aber doch mit eigenen Gedanken und Interpretationen.

Naipaul (1932 – 2018) geht ohne vorgefasste Erwartungen in die Begegnungen:

On this kind of journey one doesn’t know what one wants from a man until one has spoken to him.

Und so entsteht ein angenehm klischeefreies Buch: O-Ton gibt Naipaul weitgehend in Oxford-Englisch wieder, nicht im Dialekt, auch wenn er gelegentlich Schwierigkeiten mit dem Dialekt erwähnt und eine einzelne Figur ordentlich fluchen darf. Die berühmte Musikszene kommt über viele Kapitel kaum vor, außer gelegentlichen Gospelchören ganz am Rand, als Beispiel für die besondere Religiosität. Schließlich bringt Naipaul aber ein paar Seiten über Elvis und schreibt dann verblüffend interessant über Countrymusik-Protagonisten – allerdings nicht über Blues, Jazz oder Bluegrass.

Stattdessen tauchen Naipaul und seine Gesprächspartner wie beiläufig tief in die Geschichte ein, fördern versteckte Wurzeln zutage, reminiszieren die Sklavenzeit und die Zeit der Rassentrennung bis in die 1960er Jahre. Immer wieder kommt er auf die Religion, schließlich ist er ja auch im Bible Belt und er sagt, dass er bewusst ein Thema für sein Buch suchte (das allerdings ursprünglich Slave States heißen sollte).

Einzelfälle:

Dabei orientiert sich V.S. Naipaul immer am Einzelfall, will nie aufdringlich verallgemeinern. So bringt er keinerlei Statistiken, kein Schulbuchwissen, und von den besuchten Autoren zitiert er nur die Sätze aus seinen Interviews, keine Bücher. Naipaul zieht allerdings gelegentlich eigentümliche Parallelen zu Malaysia, Schia-Islam und Schweden – und zu oft auch zu seiner karibischen Heimat, der Jugend unter Indern auf Trinidad und zu England von 1600 bis heute.

Einfache Leute kommen zu kurz. Afroamerikaner aus der Arbeiterklasse lernen wir kaum nicht kennen, allenfalls als Randbegegnung ohne Austausch in der Fischfabrik. Typische Rednecks (weiße Arbeiterklasse) lässt sich Naipaul von einem reflektierten Redneck ausführlich beschreiben, ansonsten gibt es nur eine Redneck-Sichtung aus der Ferne.

Stadtlastig:

Naipaul orientiert sich auch zu stark an Städten, schildert Ländliches höchstens als Transitkulisse, als Jugenderinnerung seiner nun urbanen Gesprächspartner oder beim Besuch einer hochindustrialisierten Fischzucht. Naipaul bezieht in Atlanta, Charleston, Tallahassee oder Jackson oft das beste Haus am Platz (in Tuskegee ein zu heißes Uni-Zimmer) und trifft seine arrivierten Gesprächspartner in der Hotellobby oder in deren Salons. Sie fahren zwar manchmal mit dem Auto raus in die Ländereien der Vorfahren – doch ein echtes Gefühl für das Leben auf dem Land entsteht nicht (wohl aber ein Sinn für das Zusammenleben von Schwarz und Weiß vor und nach dem Bürgerkrieg).

Liegt es an Naipauls handverlesenen Gesprächspartnern, oder ist der Süden wirklich so gut, wie er schreibt?

In no other part of the world had i found people so driven by the idea of good behavior and the good religious life. And that was true for black and white.

Kein Reisebuch:

Naipaul kommentiert seine teuren Hotels gelegentlich überflüssig und die aufdringliche Erwähnung der etablierten Hotelnamen klingt nach Schleichwerbung (laut Patrick French sammelte Naipaul allerdings Hotelrechnungen über 50.000 Dollar ein, die er später von der Steuer absetzte). Doch dies ist kein Reisebuch – wir erfahren nichts über Preise, Essen, Jahreszeiten, Sehenswürdigkeiten, Verbindungen. Das englische Penguin-Taschenbuch zeigt keine Landkarten, schon gar keine Fotos. Am liebsten hätte ich neben meine Ausgabe gleich noch ein Tablet für Google Maps und Wikipedia gelegt, habe aber auf die Ablenkung verzichtet. Auch Naipauls Begleiterin und Fahrerin, seine Geliebte Margaret Gooding, erscheint nie namentlich, nur in einem verstohlenen “we” hier und da, das auch als pluralis majestatis erscheinen kann.

Naipaul schrieb das Buch auf Basis einer einzigen langen Reise. Er liefert demonstrativ nicht unverbundene Reportagen, sondern erwähnt das Fortschreiten der Jahreszeit und zieht immer wieder interessante Querverbindungen zwischen Begegnungen in verschiedenen Landesteilen und sozialen Schichten. Das Thema Religion zieht sich durch alle Kapitel, und die langen Gespräche mit weißen Christen in Nashville – Presbyterier und verschiedene Baptisten, Überzeugte, Kritische und Abtrünnige – musste ich teilweise überblättern. Auch die manchmal eigentümlichen geografischen Sprünge stören den Zusammenhalt. Auf den letzten Seiten blickt Naipaul zurück auf seine allererste Begegnung in den Südstaaten, fast zu erwartbar

Ich war gar nicht so sicher, ob mich dieses Naipaul-Buch ansprechen kann – Naipaul-Länder wie Indien, Trinidad oder die nicht-arabischen islamischen Länder interessieren mich viel mehr. Doch gleich auf der ersten Seite überzeugt Naipaul wieder mit seinem sorgfältigen, zurückgenommenen Ton und den interessanten  Beobachtungen, und ab da freute ich mich auf 300 Seiten Südstaaten-Reise.

Einmal schreibt Naipaul sehr sicher, dies werde seine letzte Reise-Monografie. Tatsächlich produzierte er aber noch einige weitere monothematische Bücher über heiße Länder – über Indien (1990), über islamische Länder (1998) und Afrikanisches Maskenspiel (2010).

Theroux’ Konkurrenzbuch:

Naipauls Freundfeindkollege Paul Theroux veröffentlichte 2015 sein eigenes Südstaaten-Buch, Deep South. Theroux zitiert Naipauls Turn in the South gleich zu Beginn zweimal und unterscheidet sich sehr deutlich: Im Vergleich zu Naipaul trifft Theroux mehr Schwarze und mehr Arme, ist fast nur in Kleinstädten und lässst sich mehr treiben – seine Route ist nicht festgeklopft, erlaubt Wiederbegegnungen mit interessanten Zufallsbekanntschaften, und er trifft andere Autoren ausführlicher (Mary Ward Brown, John Lewis, kurz Charles Portis).

Die Kapitel sind viel kürzer, die Themen konkreter, darum lässt sich Theroux leichter lesen, wirkt aber auch sprunghafter. Theroux verallgemeinert jedoch manchmal, ohne auch nur den Einzelfall zu schildern, er springt thematisch hin und her, zitiert aufdringlichen Dialekt, mimt den Kumpel es einfachen Mannes, sonnt sich in Klischees, als ob er persönlich sie entdeckt hätte.

Die Kritiker:

Patrick French in seiner Naipaul-Biografie (S. 432):

His efforts to draw parallels with his own social efforts were unsuccessful… many interviews were too long… lacked the rigour and analysis

New York Review of Books, zitiert nach Patrick French (s.o.):

Sentences and paragraphs read easily enough… Despite its brillant moments Naipaul has not worked this book up to his highest standard.

New York Times:

Among the things omitted are the whole trans-Mississippi South, the newly arrived and the newly rich, and the political culture of Reaganland.

Kirkus Reviews:

A revealing, disturbing, elegiac journey… Naipaul uses both the alien nature of what he sees and the resonances it creates with his own past in Trinidad to etch his impressions subtly and deeply: a powerful, permanent portrait of a unique culture.

Los Angeles Times:

He is patient with time wasters and bumpkins, and he tolerates the most self-aggrandizing politicians…

Charlotte Observer:

Uneven, often superficial and cliché-ridden… ((Naipaul)) didn’t spend much time in the South, stuck mostly to cities and college towns

Caribbean Review of Books:

Naipaul thought The Loss of El Dorado was his “dud,” but it is a much better book than A Turn in the South.

Frank Kermode in London Review of Books:

the reporting of speech is very full, and marked by that skill in the registration of regional oddities he has always commanded…


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