V.S. Naipaul liefert hier lange Portraits aus vier Ländern, die sich einst – fern von Arabien – dem Islam zuwandten: aus Indonesien, Iran, Pakistan und Malaysia. In diesem Buch von 1998 wiederholt er eine frühere Reise, die er bereits 1981 in dem Band Eine islamische Reise: Unter den Gläubigen (engl. Among the The Believers: An Islamic Journey) beschrieben hatte.
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Schreibstil wie ein Präzisionsuhrwerk:
Naipaul (1932 – 2018) schreibt sehr knapp, sehr präzise und deshalb sehr schön und bewundernswert – eine Sprache wie ein perfektes, kompliziertes mechanisches Uhrwerk (ich hatte die englische Ausgabe, Beyond Belief, erschienen 1998; dt. Titel Jenseits des Glaubens). Ein, zwei Sätze reichen Naipaul, um ein indonesisches Dorfhaus oder eine Studierklause im iranischen Qum plastisch darzustellen.
Naipaul registriert und beschreibt kleinste Signale, Stimmungen und Stimmungswechsel mit geringstem Aufwand. Beyond Belief ist praktisch frei von Urteilen, Wärme, Humor oder Effekthascherei. Der englische Titel Beyond Belief ist das vielleicht einzige Wortspiel. Naipaul verweigert großteils Analysen und Querbezüge: jede Begegnung, jede Biographie steht für sich.
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Schreib- und Recherchestil erinnern deutlich an das erste Buch, Eine islamische Reise, aber auch an Naipauls India: A Million Mutinies Now (erschienen 1990, sein dritter großer Indienbericht): In diesen Büchern erforscht Naipaul den örtlichen Zeitgeist unter anderem in Redaktionen von Frauenmagazinen; hier wie dort erfahren wir nur gelegentlich von Reise-Umständen, etwa signifikante Sätze von Taxifahrern oder Übersetzern; gelegentlich sind wir bei dabei, wenn Naipaul und ein Guide die Notizen eines Dorfbesuches gemeinsam durchsehen.
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Lese-Empfehlung zu Naipauls zwei islamischen Büchern:
Die Verbindungen zwischen den zwei Berichten zum selben Land in den zwei verschiedenen Islam-Büchern sind deutlich stärker und interessanter als die Verbindungen zwischen den verschiedenen Ländern innerhalb eines Buches.
Ich würde die beiden gleichermaßen empfehlenswerten Bände darum so lesen:
- Erst den Iran-Teil aus dem ersten Band, dann den Iran-Abschnitt aus dem Nachwort des ersten Bandes, dann den Iran-Teil aus dem zweiten Band, der 16 Jahre später recherchiert wurde;
- danach: den ersten Pakistan-Bericht aus dem älteren Buch, die Pakistan-Seiten im Nachwort des älteren Buchs, anschließend den zweiten Pakistan-Bericht aus dem späteren Buch;
- nach diesem Schema auch Malaysia und Indonesien (die beide nicht mehr im Nachwort des ersten Buchs erscheinen).
Wer nur eins der zwei islamischen Bücher lesen will, sollte vielleicht das neuere nehmen: Es ist nicht nur aktueller, es ist vielleicht auch geringfügig besser geschrieben.
Naipauls persönliche Umstände:
Ansonsten spielen persönliche Umstände kaum eine Rolle in Naipauls Berichten, weder in A Million Mutinies Now noch hier in Jenseits des Glaubens/Beyond Belief. Für dieses Buch reiste Naipaul 1995 mit seiner Geliebten Margaret Murray Gooding nach Indonesien, während die Ehefrau in England ernsthaft an Krebs erkrankte.
Wenig später in Pakistan hielt Naipaul um die Hand seiner nächsten Ehefrau an (nachdem er die Geliebte von 20 Jahren noch abgesetzt hatte), während die sterbende erste Ehefrau auf Chemotherapie verzichtete, um schneller aus dem Weg zu sein. Nichts davon in Beyond Belief, das allerdings der zweiten Ehefrau gewidmet ist.
Ich habe auch die deutsche Ausgabe angelesen. Die Übersetzung von Monika Noll und Ulrich Enderwitz wirkt plausibel, wenn auch lieblos. Anders als Naipauls hochakkurates, schnörkelloses Englisch erzeugt sie keinerlei Sog – sie klingt vielmehr wie ein unrealistisch synchronisierter Charakterschauspieler. Ich habe die Wortzahlen nicht hochgerechnet, würde aber vermuten, dass die deutsche Ausgabe deutlich mehr Wörter umfasst.
Kleinere Schwächen:
In der atemraubenden sprachlichen Feinmechanik der englischen Ausgabe überraschen kleinere Aussetzer:
- Der sonst so wertungsfreie Bericht enthält einzelne harsche Pauschalurteile über den Islam.
- Die Überleitungen von Land 1 zu Land 2 und von Land 2 und 3 schreibt Naipaul in den jeweils späteren Buchteil. Dann hat man jedoch bereits die neue Überschrift gelesen und mit dem vorherigen Land abgeschlossen. Ein Beispiel: Auf den Indonesien- folgt der Iran-Teil. Die Überleitung von Indonesien zum Iran erscheint erst im Iran-Teil, unter der Iran-Überschrift, aber zunächst ohne Iran-Bezug; dort verblüfft oder verwirrt die Wiederbegegnung mit Indonesien. Ähnlich ist es beim Wechsel von Iran nach Pakistan: Die letzten zwei Seiten zum Thema Iran erscheinen erst unter der Pakistan-Überschrift.
- Am Ende der einzelnen Iran-Abschnitte liefert Naipaul jeweils unvermittelt kurze, fast mystische Beschreibungen der Berglandschaft vor seinem Hotelfenster. Es bleibt eine Zeitlang unklar, warum er an isolierten Stellen mehrfach auf die Berge zu sprechen kommt, bis wir endlich von einer wesentlichen Besonderheit der Gegend erfahren. Die zunächst scheinbar sinnlosen Einsprengsel zum Landschaftsbild stören den sonst so konzentrierten, meist linearen und scheinbar durchdachten Buchaufbau.
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Manchmal stößt das Buch auch ab:
Ich habe den Stil bewundert, die Begegnungen genossen, die vielen detaillierten Einzelschicksale gern verfolgt. Dennoch habe ich kaum mehr als fünf oder zehn Seiten auf einmal gelesen: Die entschlackte Sprache klingt mitunter trocken, zudem humorbereinigt; nicht alle religiösen Diskussionen fesseln gleichermaßen, zumal Naipaul auch völlig durchgeknallte Fanatiker wiedergibt (er würde sie nie so bezeichnen).
Die vielen religiös motivierten Morde, die Barbarei und die Widerwärtigkeiten stoßen ab; sie hatten Naipaul schon im ersten islamischen Buch fasziniert. Die geschilderten kommunistischen Umtriebe wirken aus heutiger Sicht antiquiert.
Dennoch ist Beyond Belief mindestens so stark wie India: A Million Mutinies Now, vielleicht geringfügig besser als der Vorgänger Eine islamische Reise: Unter den Gläubigen und weitaus besser als Naipauls Afrikanisches Maskenspiel (engl. The Masque of Africa) von 2010. Ich habe Beyond Belief nach mehreren Wochen und 430 Seiten mit dem Gefühl beendet, dass eine lange, interessante, faszinierende Reise zu Ende ging.
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