Fantastische, sehr ausführliche, gut lesbare, schonungslose Biografie.
Multikultur-Meisterschreiber extraordinaire V.S. Naipaul setzt privat neue Standards in Arroganz, Besserwisserei und Geiz, im Ausnutzen von Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft, emotionaler Abhängigkeit und relativem Präpotenzdefizit. Sein Biograf Patrick French referiert Naipauls gesammelte Unglaublichkeiten relativ nüchtern.
Und es ist keine üble Nachrede: Naipaul (1932 – 2018) stand seinem Biograf ausführlich Rede (rund 24 mal 80 Minuten), öffnete sein Archiv rückhaltlos, hat selbst zu dieser Biografie eingeladen und dem fertigen Text zumindest nie widersprochen.(Auftrag und Zusammenkommen der Autoren erinnern deutlich an die Beziehung Graham Greenes zu seinem Biografen Norman Sherry.)
French lobt die meisten Naipaul-Bücher über ein, zwei Absätze:
Der Autor zitiert aber stets auch zahlreiche Pressestimmen und schildert die intensiven Recherchen auf mehreren Kontinenten. Nur wenige Naipaul-Werke erhalten kein Lob.
Zwischen den vielen Tagesereignissen lehnt sich French gelegentlich zurück und versucht größere Orientierung zu schaffen: An welchen Wegscheiden änderte sich Naipauls Schreibstil nach Jahrzehnten? Wo fand er früher und heute seine Themen?
Erstaunlich Naipauls lange, arme Jugend und Studentenzeit, die Geldknappheit selbst nach ersten Erfolgen auf dem Büchermarkt, das gleichwohl unerschütterliche, ja pompöse Selbstbewusstsein schon als bettelarmer Student im fremden England. Viele frühe Motive der Biografie kennt man schon aus Naipauls “Haus für Mr. Biswas” oder aus den “Briefen zwischen Vater und Sohn”. Verblüffend, dass der verkniffene, bettelarme Spätzwanziger V.S. Naipaul solche lakonischen Meisterwerke wie “Mr. Biswas”, “Miguel Street” oder den “Mystischen Masseur” texten konnte.
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Die Rolle von Patricia Naipaul:
Aber es geht nicht nur um V.S. Ausführlich lernen wir auch seine ältere Schwester Kamla und vor allem seine englische Frau Patricia kennen – aus ihren zahlreichen Briefen und Tagebucheinträgen. Patricia Naipaul ist gebildet, zurückgenommen, sympathisch und wird von V.S. über alle Maßen ausgenutzt. Aufopferungsvoll, ehrerbietig und belesen wie vielleicht nur Vera Nabokov, aber mit weniger Statur.
Sehr eigentümlich liebevoll, freigeistig und nachdenklich klingen “Pats” frühe Briefe aus der Oxford-Zeit. Ihre Ehe mit V.S. bedeutete 40 Jahre Untergang. Sie ertrug still leidend seine Schrullen, Demütigungen, Hassausbrüche, Pufftouren, Liebschaften. Als sie schließlich selbst mal schüchtern fremdgehen wollte, probierte sie es aus Versehen mit einem Schwulen.
Mit dem Tod von Patricia Naipaul, 1995, endet auch diese Biografie – also Jahre vor Naipauls Nobelpreis. Allerdings deutet French in einer schelmischen Fußnote eine Fortsetzung an. Er sagte in einem Interview, dass sein Material für die Zeit nach 1995 zu heikel für eine ehrliche Veröffentlichung sei.
Ehrlich und offen:
V.S. Naipauls Reportagen beeindrucken durch nüchterne Offenheit: er berichtet, was er vorfindet und was die Leute ihm erzählen, und zwar sehr genau (dass er verfälscht, wird ihm auch in der Biographie nie vorgeworfen). Und eine ähnliche Erzählhaltung scheinen French und Naipaul selbst auch in dieser überaus indiskreten Biografie einzunehmen:
Wir hören, was tatsächlich passiert ist, und sei es noch so privat. Naipaul selbst lässt sein Leben so wiedergeben, wie er andere Leben geschildert hat – nüchtern, vollständig, ohne Sensationslust. Wer Naipauls Bücher mag, dem gefallen wohl auch Stil und Ansatz dieser Naipaul-Biografie.
Mit einem gewissen Triumph präsentiert Autor Patrick French andere Autoren, die es vor ihm monatelang mit einer Naipaul-Biografie versuchten und von V.S. wieder abgesägt wurden. French sprach mit unzähligen Naipaul-Wegbegleitern – V.S. würde sie wohl Gehilfen nennen – und nicht wenige hassen die Person Naipaul, bewundern aber den Autor selben Namens. Auch Paul Theroux, ein anderer brillanter Weltbeschreiber, Unsympath und Naipaul-Bekannter, fehlt natürlich nicht; in Theroux’ Meta-Naipaul-Buch Sir Vidia’s Shadow entdeckt French einige Fehler.
Recherchen und Zitate:
French liefert durchaus eigene Einstufungen, montiert aber gleichzeitig dank Archivzugang und mehrjähriger Interviewphasen eine riesige Zitatcollage. Die Zitate fasst French allerdings nach englischer Art in ‘einfache Anführungsstriche’, erst das Zitat im Zitat bekommt “doppelte Anführungsstriche”; so hebt sich die direkte Rede nicht gut vom eigenen Text des Biografen ab.
Ich frage mich, warum diese gelungene, dezent analytische, weithin spannende und immer lesbare Biografie eines Nobelpreisträgers nicht auf Deutsch erscheint. Immerhin gab es Nicholas Shakespeares Biografie über einen weniger wichtigen englischen Egomanen, Bruce Chatwin, zumindest früher auf Deutsch. Karin Graf muss ran.
Meine englische Picador-Taschenbuch-Ausgabe der Naipaul-Biografie hat rund 550 Seiten, dabei zahllose Fußnoten und ein ausführliches Register. Das Buch klappt generell zu, man muss es immer mit einer Hand aufhalten oder ein Telefon über nicht benötigte Teile einer Doppelseite legen. Ich habe meine Ausgabe nicht mehr als nötig gebogen, dennoch fielen ein paar der nicht ästhetischen, aber hochinteressanten Fotoseiten bald heraus.
Das Titelbild wundert mich: V.S. Naipaul auf einem Bein stehend, den Schuh bindend, leicht hilflos lächelnd. Das hätte er niemals selbst ausgesucht und es passt weder zu seinem Werk noch zur Person. Warum? Weil er so freundlich-angstfrei daherkommt?
Fazit:
French schreibt leichtgängig, aber kein leichtes Englisch, andere englische Bücher machen mir weniger zu schaffen. Eine Doppelseite enthält schonmal fünf oder acht mir unbekannte Vokabeln, die ich tatsächlich hier gern kennen würde. Willkürlich von Seite 230 mir unbekannte Vokabeln: “reefer”, “pilchard”, “caustic”.
Gibt es vergleichbare Biografien vergleichbarer Hauptfiguren? Nicholas Shakespeare schrieb lesenswert über Bruce Chatwin, eine ebenfalls dicke Fleißarbeit über einen weiteren fast heimatlosen, vielreisend schreibenden Exzentriker mit Basislager in der englischen Provinz und sehr geduldiger Ehefrau.
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