Romankritik: Die Abenteuer des Huckleberry Finn, von Mark Twain (1884, engl. The Adventures of Huckleberry Finn) – 7 Sterne

Vordergründig wirkt es wie ein Jungs-Abenteuer-Buch, wie eine Tom-Sawyer-Fortsetzung: Verwahrloster Dorfjunge und entlaufener Sklave hausen auf einer unbewohnten Mississippi-Insel und reisen wochenlang per Floß flussabwärts, treffen Banditen, überstehen Schießereien. Doch Mark Twain erzählt so plastisch und detailliert – er war selbst Mississippi-Lotse gewesen –, dass es manchmal wie ein realistischer Expeditionsbericht klingt. Außerdem bringt Twain interessante Dialoge, Abläufe und Gewissenskonflikte, mehrfach wird es arg spannend. Themen wie Rassismus und Moral klingen an.

Manchmal wie eine Besinnungsgeschichte:

Und manchmal klingen diese Themen zu deutlich durch, dann wirkt der Roman wie eine Besinnungsgeschichte. Mitunter schreibt Twain auch zu viel Nebensächliches, offenbar, um humoristisch mehr Anekdoten, Mundartliches und Sophistereien unterzubringen, auf Kosten der Stringenz.

Einmal erzählt der Sklave Jim eineinhalb Seiten am Stück – ein Fremdkörper in der Erzählung, aber Twain musste die kuriosen Beispiele für Aberglauben wohl unbedingt geballt platzieren. (Eine gut 12seitige Passage, die nichts zur Handlung beiträgt, flog in der Fahnenkorrektur noch ganz heraus; sie bringt nur Episoden aus dem Mund anderer und endet lahm; diesen Abschnitt entfernte Twain laut Peter Coveney aus Platzgründen, sie erscheint in meiner Penguin Classic-Ausgabe als Outtake).

Breiter Dialekt:

Ansonsten ist Huckleberry Finn der Ich-Erzähler. Er redet im englischen Original einen breiten Südstaaten-Dialekt mit deftigen Analogien; fast alle Vergangenheitsformen erscheinen amüsant falsch, einschließlich falscher Unregelmäßigkeiten (“clumb” statt “climbed”) (ich hatte das englische Original). Eine Weile unterhält Finns mundartliches Schwadronieren, auf Dauer ermüdet es. Huckleberry Finns Slang lässt sich aber noch einigermaßen verstehen, während ich die Worte des Sklaven Jim nur mit Mühe dechiffrieren konnte. (Ich sah eine deutsche Übersetzung, in der die Akteure eine Art derbes Schwäbisch oder Fränkisch reden, schwer erträglich.)

Für sein Alter und seine Entwicklung klingt Ich-Erzähler Finn weit zu reflektiert – in restringiertem Code moralisiert er äußerst elaboriert. Er wird noch übertroffen vom gleichaltrigen Tom Sawyer, der an den Rändern des Romans auftaucht und wie ein wandelndes Lexikon für arme Leute schwafelt.

Great American Novel – bis Kapitel 16:

Huckleberry Finn gilt als “Great American Novel” zumindest des 19. Jahrhunderts und erhielt höchstes Lob u.a. von T.S. Eliot und Hemingway. Der allerdings empfahl auch, wie so viele Kritiker und Gelehrte, die Lektüre nach Kapitel 16 abzubrechen – also nach 103 von 320 Romanseiten in meiner Ausgabe.

Nach Kapitel 16 hatte Twain die Arbeit am Roman für viele Monate eingestellt. Und ab Kapitel 17 spielt die Geschichte weniger auf dem Fluss und in wilder Natur, sondern öfter unter Leuten am Flussufer, es gibt mehr Schießereien, Trickbetrüger und Wildwest-Klamauk – teils reinen Bauernstadl, in den Worten der US-Kritiker eine “Minstrel-Show”, Realismus adé. Mehrere Kapitel gegen Ende beschreiben, wie Huck und Tom ihr Ziel nach komplizierten Vorlagen aus alten Romanen erreichen wollen, statt eine naheliegende, gradlinige Lösung zu wählen – für ein Problem, das letztlich gar nicht besteht.

Assoziation:

Zwei skurrile Jungs auf Entdeckungskurs im heißen Land, das klingt auch nach Jasmine Nights.

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