Buchkritik: Tomaten, von Annemieke Hendriks (2017) – 7/10

Annemieke Hendriks liefert viele interessante Einblicke in die industrielle Tomatenzucht Europas und räumt mit Nachhaltigkeitsmythen auf. Sie schreibt leicht lesbaren Reportagestil: unentwegt erzählen Forscher, Züchter und Glashaukonstrukteure Lehrreiches in direkter Rede. Viele Schwarz-Weiß-Bilder kommen hinzu, allerdings keine Statistiken und Infografiken – entsprechende Zahlenkolonnen fasst Hendriks in Worte.

Annemieke Hendriks (*1956) erklärt ihr Vorgehen sehr anschaulich:

Etwa sieben Jahre habe ich gebraucht… einem Dutzend ost- und westeuropäischer Staaten recherchiert… mit Züchtern und Mitarbeitern, mit Saatveredlern und Öko-Aktivisten, mit Gewächshausbauern und Geschmackstestern, mit… viel gelesen, nicht an erster Stelle Bücher, sondern hunderte von Websites, Studien und Berichten. Und ja, auch probiert habe ich… die Recherchen für dieses Buch fanden in den Jahren 2009 bis 2016 statt. Die meisten Interviews und Reportagen sind zwischen 2012 und 2015 entstanden… weitere relevante Entwicklungen… ((wurden)) nachträglich eingefügt.

Verblüffend, nein enttäuschend dann aber: die fleißige Reporterin züchtet eigene Tomaten auf dem Balkon, erklärt sich aber für

zu faul, um Samen und Sämlinge ordentlich zu beschriften.

Uneinheitlich:

Die lange Recherchezeit führt dazu, dass die Informationen nicht auf einheitlich aktuellem Stand sind. So heißt es etwa auf Seite 156:

Dieses Gespräch fand schon vor einigen Jahren statt.

Und der letzte Absatz im überlangen, ohnehin schlecht integrierten “Prolog” beginnt mit dem kursiviert gesetzten Wort “Nachtrag:” – warum hat sie die Geschichte nicht durchgehend auf einen aktuellen Stand gebracht? Ebenso endet das lange “Arbeit”-Kapitel mit einem “Nachtrag”, kein Ausweis für ein souveräne Autorschaft. Nachträge gehören in Online-Foren. Einmal heißt es auch:

Auf allen Seiten herrscht in diesen Tagen Verwirrung über die EU-Pläne.

In welchen Tagen? 2012? 2017?  Unklares dieser Art gehört nicht in ein Buch.

Der Text hat einige Tipp-, Rechtschreib- und Sprachfehler; der Kampagnen-Titel “Colourfultaste” erscheint auf Seite 260 erst korrekt und dann falsch geschrieben.

Raubmilben, Mordwanzen:

Vom Saatgut bis zum Glashausbau gibt es viele verblüffende Einblicke, dazu gehören auch überraschende Nachhaltigkeitsberechnungen – meist verpackt in direkte Rede der Interviewpartner – und Schädlingsbekämpfungstierchen “von Raubmilben bis zu Mordwanzen”.

Die erste konkrete Geschichte handelt  viel zu ausführlich von einer niederländisch-ungarischen Gemüsedynastie, die nur gelegentlich mit Tomaten hantiert, sondern vor allem mit Paprika, Gurken, Landnahme in ostdeutschen Bundesländern, Korruption und Gemüseproduktion in Ungarn. Diese einzelne Geschichte wurde laut Nachwort schon andernorts in vier Teilen veröffentlicht und verstärkt den ohnehin heterogenen Gesamteindruck des Buches.

Viel zu lange beschäftigt sich Annemieke Hendriks mit der Identität der Tomate und ob man sie einer bestimmten Nation zuordnen kann; das ließe sich mit drei Sätzen klären, aber sie kreiselt viele Seiten lang um diese Frage, die sie selbst für lächerlich erklärt.

Sehr ausführlich und scheinbar stolz präsentiert Annemieke Hendricks die weltweit erfolgreiche Tomatenbranche ihrer niederländischen Heimat. Weniger modern produzierende Konkurrenz in Nachbarländern und  Saisonal-Regional-Romantiker scheint sie zu verspotten:

Liebe Deutsche, habt ihr etwa Tomaten auf den Augen?… Österreich im Bann der Nostalgie… Tja, dieses Stadtgärtnern…mitunter trifft hier das Paradox zu: Je lokaler das Obst und Gemüse, desto ungesünder das Ergebnis… manche lokale Tomate enthält vielmehr Blei als die Supermarkt-Tomate… ((Über ein mögliches niederländisches Vermarktungskonzept:)) Man sollte die naiven Deutschen mit quasi-lokalen Tomaten übers Ohr hauen… “Lokalos”… ((Über Polen:)) Obwohl das Land so katholisch ist, gibt es zu wenig Nachwuchs. Flüchtlinge könnten hier aushelfen, aber sie sind unerwünscht… ((Über Italien und Spanien:)) Mediterrane Schreihälse… im Übrigen schmeckten die alten Rassen, die man heute romantisiert, wirklich nicht unbedingt besser als die neu entwickelten

Weit weniger berichtet Annemieke Hendriks dagegen vom riesigen Tomatenanbau in Marokko oder Südspanien; in Spanien besucht sie nur einen eigenwilligen niederländischen Tomatenbauern, dessen in den Niederlanden anbauenden Bruder sie zuvor schon ausführlich porträtierte. Kein Einblick jedoch in die typische Costa Plastica von Almeria.

Das Buch hat gefühlt nicht nur eine Vorliebe für die Niederlande, sondern gibt ihnen auch mehr Platz als den anderen Ländern. Tatsächlich entstand es zuerst auf Niederländisch für einen niederländischen Verlag, wie die Autorin im Nachwort sagt; für den deutschen Markt habe sie viele niederländische Beispiele durch deutsche ersetzt, doch die Niederlande sind immer noch überaus präsent.

Im Kapitel über die Arbeiter in der Tomatenbranche reportiert sie nicht aus eigener Anschauung die bemerkenswerte Situation in Spanien oder Italien; sie stützt sich nur auf Berichte von Presse und Nichtregierungsorganisationen – seitenlang fehlen auf einmal die lehrreichen Statements in Anführungszeichen. Auch im “Arbeit”-Kapitel widmet sie sich wieder (tendenziell missverständlich) ihrem Lieblingsfeld:

Ihre frischen Tomaten haben die Deutschen auch den Polen zu verdanken, die sie in den Niederlanden pflücken.

Assoziation:

  • Die Parallelen zu Hendricks Buch Unheile Heimat über gemischt-europäische Paare fallen deutlich auf: der achtsame Zeitreportageton; das gesamteuropäische Thema mit Blick über alle Grenzen hinweg; die Konzentration auf Personen (und unübersichtliche Familienkonstellationen), nicht Strukturen; die doppelseitige Europakarte mit Hervorhebung der Buch-relevanten Orte; die schlichten, aber informativen Schwarz-Weiß-Fotos; die vielen lehrreichen Zitate dutzender Gesprächspartner.
  • Die niederländisch-ungarische Familiensaga aus dem “Prolog” des Tomatenbuchs würde besser in die Unheile Welt passen. Sie zieht auch wieder Parallelen zwischen deutscher und niederländischer Mentalität.
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