Biografie-Kritik: Herrndorf, von Tobias Rüther (2023) – 7 Sterne

Fazit:

Das Beste an dieser Biografie ist der Protagonist, dessen Leben und Kunst gleichermaßen faszinieren. Biograf Tobias Rüther erzählt leicht lesbar, mild feuilletonistisch, mit ein paar sprachlichen Tics. Er interessiert sich vor allem für Wolfgang Herrndorfs Bild- und Textschaffen und für sein Sozial-Digitalleben mit Höflichen Paparazzi und Zentraler Intelligenz Agentur in Berlin; weit weniger für Intimes.

Spannendes Highlight ist der Abschnitt von der Diagnose “unheilbarer Hirntumor” über eiliges Schreiben und Veröffentlichen des Tschick-Romans bis zu dessen Rezeption. Die Schlusskapitel strapazieren – mit immer neuen Beeinträchtigungen, Ringen mit der Krankenkasse und letzten Schreibprojekten sowie verzweifelten MRTs und Operationen gegen den vorhersehbaren Hirntumortod.

Diskret:

Tobias Rüther (*1973) beleuchtet gründlich Herrndorfs Gedankenwelt, Kunstverständnis und Empfindlichkeiten. Der Biograf bleibt diskret: Sehr wenig hören wir von Herrndorfs Gefühlen. Ein Beispiel: Auf Seite 88 wechselt Herrndorf von Dorothee zu Tiina (sic), ohne jeden Hintergrund dazu von Rüther. Nur zur letzten Partnerin Carola Wimmer gibt es ein paar Details, und ein Foto.

Und obwohl Rüther viele Stunden mit Herrndorfs Eltern verbrachte und sie scheinbar auch duzt, hören wir nicht, wie die Herrndorfs über ihren Sohn und seine Werke denken oder wie sie sind. Rüther schreibt generell nicht über seine Rechercheerlebnisse, auch nicht im kurzen Dankwort; “ich” sagt er fast nur bei Erwähnung seiner eigenen FAS-Rezension zu Tschick.

Der Student Herrndorf brüskiert offenbar öfter Menschen, die ihm wenig bedeuten, und in einer größeren Tischgesellschaft benimmt er sich laut Rüther

daneben… es kommt zum Eklat, der noch Jahre bei denen nachwirkt, die dabei waren.

Details kennt der Biograf gewiss, aber er schweigt. Auch über Herrndorfs Selbstmord und die Begleitumstände weiß Rüther sicher weit mehr, als er mitteilt.

Bild und Text:

Tobias Rüther redet ausgiebig über Wolfgang Herrndorfs Bilder und frühe Kurztexte, später über dessen Romane und Kurzgeschichten. So erwähnt der Biograf, dass Herrndorf für die Taschenbuchausgabe seiner Plüschgewitter “viele hundert Stellen” geändert habe, kommentiert die Änderungen aber kaum, außer dass Herrndorf Himmelsbeschreibungen nicht redigierte.

Viel ausführlicher beleuchtet Rüther die Unterschiede zwischen den verschiedenen Tschick-Fassungen. Rüthers offenbar gründliches Studium des gewaltigen Herrndorf-Nachlasses mit vielen Studien, Materialien und unzähligen Textvarianten erdrückt die Biografie aber nie.

Das Buch endet, wie viele andere Biografien, mit der Beisetzung der Hauptfigur (1965 – 2013). Wir haben viele Wegbegleiter kennengelernt, doch es gibt kein “Was aus ihnen wurde”.

Teils impressionistisch:

Der Biograf genehmigt sich einen subjektiven, teils impressionistischen Tonfall mit beschreibenden Passagen, fließend, leicht lesbar. Rüther erzählt nicht rein chronologisch, sondern zum Beispiel erst Wolfgang Herrndorfs Kindheit und danach die Geschichte der Eltern. Auch später blendet er gelegentlich für wenige Sätze irritierend einige Jahre in die Zukunft und wieder zurück.

Er wird:

Rüther erzählt im Präsens und rutscht bei Vorausblicken ins Futur – nicht meine bevorzugte Tempus–Anwendung:

 …wohnt auf 56 Quadratmetern im vierten Stock eines Hinterhofs in Berlin. Er wird bis kurz vor seinem Tod in dieser Wohnung bleiben… Das Aquarell stammt aus dem Jahr, in dem Herrndorfs erster Roman erscheinen wird, 2002.

So hält es auch Herrndorf selbst, sagt der Autor, bemerkenswert (S. 138):

Herrndorf wird… seinen ersten Roman vor allem im Präsens schreiben. Aber ihn deswegen zu einer Generation zu zählen, die einen wie auch immer gearteten Zeitgeist in Text verwandelt, führt nicht weit

Ist denn aber Rüthers Präsens Zeitgeistanverwandlung?

Gelegentlich wiederholt Rüther bereits Gesagtes mit einem entschuldigenden “wie gesagt” (u.a. S. 85, S. 124, S. 284) – eine Schwäche. Den Umbau von “In Plüschgewittern” für die TB-Neuausgabe im Rowohlt-Verlag schildert Rüther gefühlt 1,8mal in verschiedenen Teilen der Biografie, mehrfach nennt er auch die verschiedenen angedachten Titel für den Tschick-Roman und andere Tschick-Entstehungsdetails.

Straightforward:

Rüther erlaubt sich aber auch Anglizismen und Saloppismen, die aus seinem besinnlichen Säuseln seltsam herausstechen. Vielleicht will er so das englisch und hipst durchrasste “Deutsch” der Herrndorf-Zielgruppe und seines Berlin-Biotops treffen (kursiviert wie im Buch):

Solche Pranks bleiben ein lebenslanges Hobby ((S. 41, gemeint sind Streiche))… einen Prank auf Kosten der ((S. 146))… hat dieser Prank geklappt ((S. 346))… eine Art Dürer-Cosplay ((S. 42))… geschmeidiger Socializer ((S. 39))… ein staring contest mit sich selbst ((S. 68))… von diesem hypertrophen Berlin-Sound ((S. 145))… Prokrastination ((S. 168))… straightforward ((S. 175))… ungeheuer subtil ((S. 178))… gedisst ((S. 194))… ironisch gedisst ((S. 253))… Gossip über Kolleginnen und Kollegen ((S. 200))… Borderlineformate ((S. 219))… a.k.a. ((S. 228))… neunmalcoole Stimme ((S. 234))…. Jetzt batteln sich also ((S. 274))… eine Dropbox ((S. 306))… Blurb ((S. 330))… idiosynkratische Mischung ((335))… Start-Stopp-artig ((S. 359))

Vielleicht glaubt nur ein FAS-Kulturredakteur wie Tobias Rüther, dass seine Leser solche Ausdrücke durchgehend verstehen und gar goutieren. Er sagt auf S. 307, dass er Herrndorf nie persönlich traf; eine einzige externe Quelle (hier) behauptet, Herrndorfs Eltern und Frau hätten Rüther die Biografie angetragen.

Beknackt im Buche:

Gelegentlich schreibt Tobias Rüther anbiedernd umgangssprachlich:

Professor Schillinger, der ein Fan Wolfgangs gewesen ist… Klamotten… ein richtig schönes Berliner Hinterhofloch ((S. 93))… den blöden Witzen ((S. 101))… beknacktes Zitat ((S. 113))… geknipst ((S. 127))… alles vollgekackt ((S. 143))… Bescheuerter ((S. 207))… irgendwann knutschen sie ((S. 244))… im Schriftbild irgendwie ausfransen ((S. 248))… kommt bei Kunst eh nur Scheiße raus ((S. 252))… so flipperkugelt er durch den Tag ((S. 275))… ein unlangweiliger Plot ((S. 286))… flippt Herrndorf kurz aus ((S. 296))… einer Sechzehnjährigen aus dem Berliner Wedding, die ziemlich hart druff ist und Mitschülerinnen abzockt ((S. 296f))… weil er voll war ((S. 303))… etwas Entscheidendes nicht zu checken ((S. 328))

Um so mehr überrascht danach Rüthers klebriges Dativ-e:

wie sie im Buche steht ((S. 59))… am Rande eines Briefentwurfs ((S. 92))… im Grunde ((S. 303))…

Dazu kommen zwar keine Tipp-, aber Sprachfehler – wiederholt “gleichen” statt korrekt “selben”:

im gleichen Schuljahr… den gleichen Freund ((S. 61))… im gleichen Jahr ((S. 101))… im gleichen Planquadrat der Stadt unterwegs ((S. 145))

Auf S. 168 heißt es korrekt “in derselben Ausgabe”.

Rüther bringt viele unvollständige “Sätze”. Wie etwa (jeweils ganze “Sätze”, die mit Punkt enden):

Die Epiphanie des Scheinbaren, die nur erkennt, wer dafür empfänglich ist.

Ungefähr ab 2002. ((S. 142))

Was man bei Taschenbüchern sehr selten macht. ((S. 246))

Ausstattung:

Rüther bemüht sich um ein besonders ruhiges Schriftbild. Auch längere Zitate werden nicht eingerückt.

Meine Ausgabe hat zudem

  • keine Fußnoten,
  • keine Endnoten mit Quellenangaben, mit oder ohne Zahlenreferenz im Lauftext (gelegentlich nennt Tobias Rüther Quellen im Lauftext),
  • keine Zeittafel,
  • keinen Stammbaum (nicht nötig),
  • ein paar gut reproduzierte Fotos auf Fotodruckpapier (ich hätte gern weitere SW-Fotos direkt auf Textdruckpapier gesehen, das geht heute in guter Qualität, aber vielleicht war das den Beteiligten zu unruhig)

Herrndorf ist ideales Biografie-Material:

  • Das Herz auf dem rechten Fleck
  • Bei den Eltern auch, ohne dass sie langweilig wirken
  • Die Hauptfigur produziert interessante und witzige Texte, Bilder und Ideen seit früher Kindheit, der Leser genießt die Arbeitsproben innerhalb der Biografie
  • Viele überraschende, herausragende Talente von Sport über Malerei bis Handwerk und Wissenschaft, die der Herrndorf-Normalverbraucher nicht ahnte
  • Nicht angepasst, aber auch kein krasser, gewollter Außenseiter
  • Viel Text, Gemaltes, Fotos liegen vor, Wegbegleiter wie Eltern und Freunde sind auskunftsbereit
  • Nur das Ende müsste anders sein (und es beginnt schon auf Seite 265 von 373 Seiten Haupttext)

Vielleicht sollte ich genauer sagen, Herrndorf ist ideales Biografie-Material für mich, denn mir taugen solche Figuren – mehr als sagen wir eine Schriftstellerbiografie von Günter Grass.

Persönliche Erklärung des Rezionärs:

Rüther erzählt in der Herrndorf-Biografie fast das Leben von Hans D. Blog:

Eine Kindheit in den späten sechziger und siebziger Jahren… eine Kindheit unter freiem Himmel mit Wolken und Geheimverstecken und Berberitzen und Juckpulver und Sonnenuntergängen und Freundinnen und Freunden, mit Fußball, weiten Feldern und kaum Kontrolle… Zivildienst… der Freiberufler, lebt und arbeitet und verwahrlost ein bisschen in seinen Tag hinein… Er bleibt auf Distanz… der selbst seinen Geburtstag auch nicht feiert… richtet er eine Dropbox ein…

Ich weiß außerdem selbst, dass diese Rezi unvollständig ist. Ich muss und werde bald noch

  • sagen, was ich vom Cover hielt
  • sagen, was ich von Herrndorf halte und gelesen habe
  • wie lange das Buch bei mir im Regal stand
  • das Leben Herrndorfs mit Kennermiene nacherzählen
  • Rezi-Aussagen zur Qualität von Bildern und Text der Biografie (nicht des Biografierten) wieder streichen

Anspielend auf Herrndorfs “Ich mache keine Fehler” beendet Rüther sein Nachwort mit:

Alle Fehler in diesem Buch sind meine. Wolfgang Herrndorf macht keine.

Und ernster schließt er den Haupttext mit:

der größte deutschsprachige Schriftsteller seiner Generation.

Ich wüsste auch keinen zeitgenössischen Autor, der besser schreibt (als Herrndorf, nicht Rüther). Ein guter Beleg dafür sind Rüthers Hinweise auf das, was Herrndorf aus Tschick  wieder strich – u.a.  Trendausdrücke, die gestört hätten.

Assoziation:

  • Rüther schildert eindrucksvoll, wie Herrndorf nach der tödlichen Diagnose unter Zeitdruck mit viel Willenskraft seinen hervorragenden Roman Tschick zu Ende schreibt – ein dramatischer Teil der Biografie (auch Herrndorfs andere Bücher bespricht Rüther detailliert, einschließlich Feuilletonreaktionen)
  • Wolfgang Herrndorf las und bewunderte die Titanic seit dem 16. Lebensjahr und wurde dann mit seiner ersten Bewerbungsmappe ihr Mitarbeiter – so wie John Updike den New Yorker seit dem 12. Lebensjahr las und dann ihr Redakteur wurde
  • wie Herrndorf startete auch Orhan Pamuk als begabter Zeichner, bevor er sich dem Schreiben zuwendete
  • Wie bei anderen Biografien auch: Rüther beschreibt wortreich allerlei Fotos und Gemälde, die im gut gedruckten, aber knappen Bilderdruckteil der Hardcoverausgabe nicht erscheinen
  • Überraschung: Herrndorf gestaltete Buchcover für Frank Schulz, die ich kenne
  • Pablo Picasso wie Wolfgang Herrndorf geben die Malerei zugunsten des Schreibens auf, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art, und in beider Biografien ist von “pranks” (Streichen) die Rede
  • Audio: langes Gespräch des Biografen Tobias Rüther mit seinem FAZ-Kollegen Paul Ingendaay über das Herrndorf-Buch
  • Amazon-Werbelinks: Tobias Rüther | Wolfgang Herrndorf | Neue deutsche Literatur |

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