Kritik Erzählung: Lady Barbarina, von Henry James (1884, 1908) – 6/10

Fazit:

Der kurze Text liefert lange, teils witzige, hintersinnige Dialoge. Er reitet auch ermüdend herum auf Unterschieden zwischen Amerikanern und Engländern, geldigen Tatmenschen und standesbewusst ungeldigen Blaublütigen; er beginnt mit einem verwirrenden Personenreigen und lebt von einer kaum nachvollziehbaren Entscheidung der Protagonistin – Henry James schiebt seine Akteure umher wie transatlantische Schachfiguren, die seine Ideen illustrieren müssen.

Heitere Arroganz:

Henry James schildert im ersten Teil lustvoll Neben-Nebenfiguren: die Dexter Freers, Sidney Feeder, Lady Marmaduke, er foppt den Fokus begehrenden Leser. Ich hatte zunächst keine Orientierung – und war dank langer, perlender Wortwechsel trotzdem amused, das gibt’s sonst nicht.

Eine Dramatis personae wäre nützlich (und Mantex bietet sie, ebenso wie eine Analyse). Eine wiederholte Lektüre zumindest des ersten Teils liefert ein völlig neues Verständnis dieser Abschnitte.

Personen beschreibt Henry James mit heiterer Arroganz:

… a nose that rather drooped than aspired, yet was salient withal… they had flat backs and small waists… the vegetation of the beard itself was tropical… Lord Beauchemin. Mr Freer had caught quite the right pronounciation of this name, which he successfully sounded as Bitumen… his ambrosial beard… copious fringe of his lips… 

Manchmal allwissender Erzähler:

Nach dem aufreizend trödeligen, verplauderten Einstieg mit Nebenfigurenkarussel irritieren die späten Zeitraffer-Kapitel um die eigentlichen Protagonisten. Ebenso unrund:

Mal schildert Henry James Dinge scheinbar aus der Ferne, so dass der Erzähler bei aller Auktorialität nicht völlig sicher ist:

At a distance he appeared to be talking and she to be listening without response… If i mistake not… What Lady Beauchemin’s sister thought of it is not recorded… I know not how Lord Canterville may… an incident i have no space to report… 

Unpassend heißt es dann wieder, perfekt allwissend:

…thought Sidney Feeder… It is open to us to know that… 

Diesmal kommodiert dem Erzähler die Allwissenheit offenbar.

Online begegnete mir kein Hinweis dazu, wie Henry James sein 1884 veröffentlichtes Original für die New Yorker Ausgabe von 1908 veränderte.

A magnificient brood:

James nervt mit seinem ständigen Kontrastieren von Amis und Engländern, er klingt nachgerade rassistisch:

brood… they were all one race… the good of the species… a part of the history of England in her blood… a daughter of the Crusaders… a species of calm goddess… flower of an ancient stem…its fragrance a thing quite apart… a Californian of the wrong denomination… a gallant special specimen of unsophisticated young America… the general loftiness of her breeding… the look of race… he already scans for the look of race… “What a pity she isn’t American”… alien organisms… things he had heard about the English…

Assoziation:

  • sprühender Dialog und ein Ami auf Brautschau in Europa: auch in Henry James’ Novelle Daisy Miller, die zu ähnlicher Zeit entstand wie Lady Barbarina
  • viele motivische Parallelen zu The Siege of London von Henry James: unter anderem das Herumreiten auf englisch-amerikanischen sowie Stadt-Land-Gegensätzen, eine aparte Schwiegermütter in spe und Hyde-Park-Details. The Siege of London ist übersichtlicher und leichter lesbar, doch die Dialoge funkeln durchgängig weniger als die besten Gespräche in Lady Barbarina
  • aparter Spott über gehoben Bürgerliche wie etwas später bei Thomas Mann; beide Autoren lassen ihre Figuren teils allzu deutlich Ideen illustrieren, auf Kosten der Plausibilität; beide kaspern mit signifikanten Nachnamen, hier Barbarina Lemon; beide schrieben in jungen Jahren sehr heiter, später tragisch verschwurbelt; über beide schrieb Colm Tóibín einen Roman
  • viele amüsante, versnobbte Society-Dialoge erinnern an ein Theaterstück, ja zeitweise an den sophisticated Dramatiker Oscar Wilde
  • bei den Society-Szenen in New York dachte ich momentweise an Henry James’ Freundin Edith Wharton
  • bei den Society-Szenen in London dachte ich momentweise an Jane Austen, die sich sonst jedoch deutlich von Henry James unterscheidet

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