Kritik Memoiren: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt, von Orhan Pamuk 2003) – 5/10

Fazit:

Orhan Pamuk liefert eher allgemeine Istanbul-Kunde, erzählt weniger aus seinem Leben, und selten richtig konkret story-artig, sondern eher zusammenfassend. Er reiht überwiegend Istanbul-Assoziationen ohne direkten Bezug zu seiner Biografie aneinander, etwas romantisch, aber oft ermüdend kleinteilig, detailliert und irrelevant, so etwa zu viel Reaktion längst vergessener Schriftsteller auf Istanbul.

Die interessante Familie Pamuk erscheint nur in enttäuschend knappen Andeutungen. Erzählt der Autor doch mal etwas Privates, dann ist es zu ausführlich vom Zeichnen, “Geschwisterzank”, Masturbieren, Danke. Nur das Kapitel “Erste Liebe” hat ein bisschen erzählerischen Schwung.

Ahmet Hamdi Tanpınar, Samiha Ayverdi, Ahmet Kutsi Tecer, Orhan Kemal, Flaubert, Kemalettin Tuğcu und Yahya Kemal:

Der Autor diskutiert zu ausgiebig den Blick verschiedener Autoren und Herkunftsländer auf Istanbul:

  • Mindestens drei Kapitel widmet Pamuk der “Istanbul Ansiklopedisi” sowie “Stadtbriefschreibern” (Istanbul-Kolumnisten und -Chronisten) und ihren schönsten Sätzen (ohne zu sagen, ob er selbst sich hier zugehörig fühlt);
  • mindestens vier weitere Kapitel besprechen fleißig das Istanbul-Bild bei den Schriftstellern Nerval, Gautier, Pierre Loti, André Gide, Ahmet Hamdi Tanpınar, Ahmet Rasim, Flaubert, Samiha Ayverdi, Ahmet Kutsi Tecer, Orhan Kemal, Kemalettin Tuğcu, Yahya Kemal, Şemsettin Sami (bei Nerval diene Istanbul nur als Rahmenhandlung für andere subjektive Betrachtungen; dann sollte Pamuk gleich auf Nerval verzichten).

Teils klingt Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wie ein dröger Literaturwissenschaftler, z.B. (Seite 285):

Nerval kam nach Istanbul, um seine Melancholie zu vergessen (und übertrug, ohne es zu merken, diese Melancholie auf Gautier und dessen Sicht der Stadt). Bei Yahya Kemal und Tanpınar scheint es dagegen…

Im Zusammenhang mit den Stadtkolumnen delektiert sich Pamuk auch an Folter und Hinrichtungsmethoden, “ein seltsamer erotischer Schauer” (S. 178) wehte ihn einst beim Betrachten solcher Zeichnungen einst an.

Nur wenig Konkretes gibt’s über Pamuks Aufwachsen in Istanbul und über seine Großfamilie. Es wäre mir lieber gewesen. Stattdessen erscheint das Wort “hüzün” (Istanbul-Spezial-Melancholie) gefühlt 500mal, stehts in Gänsefüßen – als ob nicht die Lusitanier auch ihre “saudade” pflegten, die Khmers ihr gelassen deprimiertes Sourire usw. usf.

Konkurs und Verallgemeinerung:

Pamuk erwähnt zwar immer wieder

die fortwährenden Konkurse meines Vaters und meines Onkels, die Streitereien meiner Eltern und die Zwistigkeiten, die sich immer wieder zwischen unserer Kleinfamilie und dem von meiner Großmutter präsidierten Familiengroßverband ergaben,

schildert dergleichen aber nie konkret; stattdessen liefert er allgemeine Zusammenfassungen über Aspekte Istanbuls, das er mal so verklärt wie die von ihm bespotteten Istanbul-Autoren, dann wieder “als großflächige, heruntergekommene Provinzstadt erlebt” (S. 282). Manche dieser Kapitel lesen sich fast so abstrakt wie ihre Überschrift: “Religion”, “Die Reichen”, “Den Bosporus durchfahrende Schiffe, Brände, Armut, Umzüge und andere Katastrophen”. Meine Aufmerksamkeit entflutscht.

Einiges erklärt Pamuk nicht (oder war ich unaufmerksam?), so etwa “Konaks oder Yalıs”. Vor allem geht es immer wieder um die

großen Familienkonaks… Pascha-Konaks… Holzkonaks ((mehrfach))… Konak-Kino…

Abbildungen:

Schön, dass Orhan Pamuk reihenweise Schwarz-Weiß-Familien- und Stadtfotos direkt zwischen den Absätzen mitliefert (jedenfalls in meiner Hardcover-Ausgabe); unschön jedoch, dass der Bildinhalt teils selbst dann nicht zu verstehen ist, wenn man die Bilderklärungen hinten im Anhang nachliest; Bildunterschriften oder klare Bezüge im Text gibt es kaum. Einmal verweist der Lauftext auf “die abgebildete Hand” (S. 178), aber ich sehe sie nicht auf den umliegenden Seiten – nur eine gezeichnete Person ohne Arme.

Seltsam auch, dass ausgerechnet das frühe Kapitel über Pamuks Freude am Zeichnen (“meine Bilder hob ich alle auf”) keine einzige Abbildung zeigt. Viel weiter hinten das separate Kapitel “Ich male Istanbul” zeigt ausschließlich – Straßenfotos. Das anschließende Kapitel “Malen und Familienglück” bleibt ebenfalls ohne von Pamuk Gemaltes, ebenso wie das Kapitel “Erste Liebe”, in dem Pamuk seine Flamme laut Bericht dutzende Male zeichnet.

Dann sagt Pamuk noch (S. 316, ungegendert), es sei “ziemlich unwahrscheinlich”, dass “der ausländische Reisende gerade in Istanbul” Interieurs zu sehen bekomme, obwohl auch sie die Stadt prägten. Warum zeigt uns Pamuk dann keine Interieurs? Und zeichnet er die türkische Gastfreundschaft mit diesen Sätzen nicht unangemessen unschön?

Meine Carl-Hanser-Ausgabe liefert ein Stichwortverzeichnis und schöne Istanbul-Stadtpläne auf den inneren Umschlagseiten, nicht jedoch ein Lesebändchen oder lebende Kolumnentitel.

Gehsteig als Freude und Gefahr:

Gelegentlich klingt Pamuk widersprüchlich: so sagt er auf Seite 41, eine

Möglichkeit, dem Alltag zu entkommen, war es, mit meiner Mutter hinaus auf die Straße zu gehen… hatten die Tage, an denen ich hinaus durfte, eine ganz besondere Bedeutung für mich… war es allein schon eine Freude, auf dem Gehsteig dahinzugehen

Kurz darauf erklärt Pamuk das Gegenteil, nämlich (Seite 46)

daß ich mich am liebsten zu Hause aufhielt… die Straßen draußen, die fremden Stadtviertel schienen mir so gefährlich wie die Schauplätze schwarz-weißer Gangsterfilme… ((und S. 344:)) manchmal ging ich einfach nicht zur Schule, weil ich so gerne zu Hause war

Er sagt, dass Bücher im “kaum jemals aufgesperrten Bücherschrank… verstaubten” (S. 175) – aber verstaubt etwas an diesem Ort?

Sprache:

Die Übersetzung von Gerhard Meier klingt unauffällig lesbar, Highlight-frei. Ein Lowlight ist das immer gleiche “gleiche”, wo “selbe” geboten ist:

über die Jahre hinweg auf das gleiche Haus, die gleiche Straße, den gleichen Ausblick, die gleiche Stadt fixiert zu sein ((S. 13))… Als ich Jahre später mit meiner Tochter die gleichen Wege abging… im gleichen Haus jahrelang nicht miteinander sprachen ((S. 225))…

Schockierend dann: Ein einziges Mal schreibt es Gerhard Meier korrekt (S. 274)):

… da sie zum Teil in denselben Unterkünften residierten und von denselben Führern an dieselben Stellen gebracht wurden…

Aber  gleich  bald darauf wieder:

die gleichen Stätten ((S. 282))… die gleichen Orte ((ebf. S. 282))… in der gleichen Schrift führt er nämlich weiter aus ((S. 284))… in den gleichen Jahren ((S. 288))… gingen dein Vater und ich zu dem gleichen Maler…

Und ein grober Fehler von Übersetzer/Lektorat war schon in meiner gebraucht gekauften Ausgabe angestrichen:

Ein “wegen mir” gibt’s auch (S. 29). Und warum er von “Päonien” (S. 315) oder “der Energiebündelung Istanbuls” (S. 403) reden muss?

Assoziation zu Pamuks Roman Diese Fremdheit in mir:

Istanbul, Erinnerungen an eine Stadt hat viele Parallelen zu Orhan Pamuks Istanbul-Roman Diese Fremdheit in mir:

  • a. die Obsession mit Stadtteil- und Straßennamen,
  • onanierende Hauptfigur
  • Pogrome gegen Nichtbiotürken
  • “Boza – eine Art Hirsegetränk” und die Entführung der Geliebten
  • beide Bücher haben den gleichen  selben Übersetzer (vielleicht auch Lektor), der ständige “gleiche” statt “selbe” schreibt

In Erinnerungen an eine Stadt redet Pamuk von “abgedroschenen Themen wie… den Friedhöfen” – und genau die erscheinen in Diese Fremdheit in mir immer wieder

Weitere Assoziation:

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