Romankritik: Diese Fremdheit in mir, von Orhan Pamuk (2014) – 8/10

Fazit:

Ein vielschichtiger, vielstimmiger Roman, der das Leben der kleinen Leute in Istanbul und die Stadtentwicklung selbst unterhaltsam erzählt. Überraschende Einblicke in Alltag, Mentalität und Denkweisen. Konstruktionsschwächen trüben das Vergnügen ein wenig.

Wenn auch etwas konstruiert, rundet sich der Roman gefällig nach netto 561 Seiten Haupttext. 461 Seiten hätten auch gereicht.

Realistisch:

Die Geschichte beruhe “gänzlich auf wahren Begebenheiten”, versichert uns der Erzähler treuherzig. Nach dieser Zusage glaube ich nichts.

Einerseits schreibt Orhan Pamuk (* 1952 in Istanbul, 2005 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2006 Nobelpreis) scheinbar sehr realistisch aus Istanbuls Kleine-Leute-Vierteln in verflossenen Jahrzehnten, leuchtet Soziales und Charaktere aus, füttert als guter Erzähler mit immer neuen stimmigen Details – fast ist man mittendrin statt nur ein Leser. Das Personal wächst einem ans Herz.

Pamuk recherchierte intensiv und ließ recherchieren; der LARB erzählte er:

The novel is based on a lot of informal conversations with boza selllers…, stuffed mussel sellers, about the tricks of their trade… For the first time, I had a group of researchers – university graduates meeting and talking to people, getting details, and sometimes introducing those people to me…

Orhan Pamuk sagt hier auch:

I like getting this kind of information – it lends authority to the novel – but the research is not what I am proud of; I am proud of its balance, its artistic composition.

Doch die Balance schwankt, der Roman kippelt in Richtung Faktenhuberei:

Gegen Ende dachte ich, Orhan Pamuk hat zu ausufernd recherchiert, zu viele Interviews geführt/führen lassen oder sein Material nicht streng genug gesiebt: er überfrachtet seinen Roman mit Kleinklein aus dem wahren Leben – ob Finten von Stromdieben und Gegenfinten von Stromablesern oder Küchenroutine eines Streetfoodverkäufers. So bringt Pamuk den über eine Seite langen, absatzlosen, berufskundlichen Monolog eines Stromablesers (S.446ff), ein Fremdkörper in dem sonst kurzweiligen Roman. Aber Pamuk im Interview:

Once I see that a person enjoys talking, I enjoy listening. … I did a lot of interviews with retired electricity inspectors and engineers

Meist ist mir zu wenig wahres Leben in der Belletristik; hier ist es mir spätestens ab Seite 440 zu viel.

Weniger stimmig:

Anderes im Roman klingt diffuser. So äußern schlichte Istanbuler mit Binnenmigrationshintergrund Poetisches über Sterne, Städte wie Tiere, sprechende Städte u. dgl. m. – das liest sich hübsch, doch hier ging der Pamuk in ihnen durch. So räsoniert sich der schlichte Straßenverkäufer Mevlut zum Buchtitel, tatsächlich ein Wordsworth-Zitat:

”Da ist so eine Fremdheit in mir”, sagte er. “Was immer ich auch tue, ich fühle mich ganz einsam auf der Welt.”

Auch nicht überzeugend: Hauptfigur Mevlut schickt seiner Angeschmachteten aus Istanbul “über drei Jahre hinweg Liebesbriefe”. Zwar antwortete sie nicht, aber “nun war sie dazu bereit, sich entführen zu lassen”. Woher wusste Mevlut das? Vermutlich hat “Korkuts Bruder Süleyman, der die Briefe übermittelte”, hier etwas angeleiert – doch ganz überzeugt das Szenario nicht:

Mevlut ließ sich von drei Jahren Antwortlosigkeit nicht entmutigen?  Und man kann ihm bei der Entführung im Dunkeln die falsche Frau unterjubeln? Die er dann behält?

Dass später Mevluts Kumpel Ferhat, der einst die Liebesbriefe für Mevlut textete, ausgerechnet Mevluts eigentlich Angeschmachtete ehelicht, macht die Sache nicht besser, wenn auch vielleicht poetischer. Und damit ist die symmetrisch verschlungene Romanhandlung noch nicht zu Ende

Istanbul:

Eine weitere Hauptfigur ist Istanbul. Offenkundig will Orhan Pamuk, studierter Architekt, die Wandlung und Modernisierung seiner Stadt in den Roman einflechten, er berichtet immer wieder – insgesamt zu aufdringlich – von Neuerung, Vergrößerung, Immobilienhaien, Lokalkorruption, neuen sechsspurigen Straßen und Fußgängerüberführungen, dem Weichen der Holzhütten für siebenstöckige, später 14stöckige Wohnblöcke:

immer höhere und entsetzlichere Betonkästen

Alle zwei Seiten betet der Erzähler vielsilbige, i-Punkt-lose Namen immer anderer Straßen, Stadtteile und Vororte aus dem Hut:

Nach Kültepe oder Duttepe konnte er als Stromableser natürlich nicht… doch er nahm sich die anderen Hügel vor, Kuştepe, Harmantepe, Gültepe, Oktepe und andere Viertel… gleich Zeytinburnu, Gaziosmanpaşa oder Ümraniye ((jew. S. 450))… in Kadırga, Sultanahmet, Kumkapı oder Aksaray, also im alten Istanbul ((S. 511))… so alte Viertel wie Edirnekapı, Balat, Fatih und Karagümrük

Der Istanbul-besessene Orhan Pamuk produziert mehr Orts- als Personennamen. Die Häutungen der Stadt im Lauf der Jahrzehnte registriert die Hauptfigur beim Herumziehen als Straßenverkäufer, beim Pendeln zwischen Favela und Innenstadt, sie fügen sich damit gut in die Handlung. Ganz am Rand erscheint auch die Weltpolitik, meist als Teil der Fernsehnachrichten, und hilft zusammen mit den stets genannten Jahreszahlen bei der zeitlichen Einordnung. Und die Zeittafel am Buchende listet private als auch weltgeschichtliche Ereignisse.

Stil:

Immer wieder lässt Orhan Pamuk verschiedenste Figuren direkt erzählen; dazwischen berichtet ein allwissender Erzähler, der nicht identifiziert wird – eine  wunderliche Konstruktion, die nicht überzeugt, zumal die O-Töne im letzten Viertel stark zurückgehen. Pamuk im Interview der LARB:

I wanted to bring the realism of the many first-person singular voices we had recorded ((bei den Recherchen)).

Nur selten erlaubt sich Pamuk einen dräuenden, fragwürdigen Vorausblick:

Das aber sollte Rayiha in ihrem kurzen Leben nicht mehr beschieden sein… In diesen letzten Tagen ihres Lebens kam Rayiha dann allerdings… Es sollte ihr letztes Treffen gewesen sein

Seltsam wirkt der häufige Wechsel zwischen auktorialem Erzähler und verschiedensten Ich-Erzählern. Zumal der erste Ich-Erzähler relativ spät auftaucht, eine wunderliche Überraschung. Sämtliche Ich-Erzähler sind am Tonfall nicht zu unterscheiden.

Ungefähr zur Buchmitte, etwa ab Seite 280, bringt Orhan Pamuk plötzlich neue Hauptfiguren: sie waren schon bisher wichtige Nebenfiguren, aber jetzt geht es nur noch um sie, und die bisherigen Hauptfiguren Mevlut und Rahiya agieren nurmehr am Rand – eine Schwäche, man meint, der Autor wolle zusätzlichen Stoff unterbringen und sehe dafür nur die Möglichkeit neuer Hauptfiguren.

Manches verblüfft einfach:

((Ein)) Hahnenkampf, der gleich losgehen sollte, vom Tierschutzverein organisiert

Lehrreich:

Vieles lernen wir en passant und scheinbar didaktikfrei über Istanbul und Anatolien. Doch gelegentlich klingt Orhan Pamuk belehrend: er bespricht das Gecekondu-System mit über Nacht auf Staatsland gebauten Häusern, “das Wichsen”, den ‘71er-Putsch, Clan-Kriminalität, Elektrizitätsgesellschaften, das Kellnern und die Organisation der Atatürk-Schule in Duttepe; hier bringt der Autor sogar einen längeren O-Ton des stellvertretenden Schulleiters “Skelett”.

Man fragt sich, ob Orhan Pamuk das Gecekondu-System – und anderes – speziell für nicht-türkische Leser beschreibt und ob derlei in der türkischsprachigen Ausgabe weniger Sätze erhält. Nigerianische oder indische Autoren erläutern Landestypisches in ihren Romanen ausdrücklich nicht ausführlich, um sich dem Ausland bewusst nicht anzudienen.

Umgekehrt gilt freilich auch: ich weiß nicht, wie viele Insider-Anspielungen für türkische Leser Pamuk einbaute, die ich nicht verstehe.

Mir ist auch etwas viel Politik im Roman: Zu viel Linke gegen Religiöse, Kurden-Aleviten-Aramäer-Arminier-Juden-Griechen gegen rechtgläubige Biotürken, Erinnerungen an vergangene Pogrome, jüngere Putsche, “Einsperren und Foltern”, bei jedem Polizeikontakt Angst vor Prügeln. Pamuk bettet die Privatsituation seiner Figuren zwar halbwegs in diese Konflikte ein, aber sein Material überwältigt ihn doch, zumal die Hauptfigur eher unpolitisch ist.

Übersicht:

Orhan Pamuk müht sich leserfreundlich um Übersicht für seinen personalreichen Roman:

  • mehrseitiges, kleinteiliges Inhaltsverzeichnis mit Personen- und Jahresangaben
  • eng gedruckte Zeittafel mit Privatem und Historischem
  • Personenregister samt Erklärung und Seitenzahlen
  • Stammbaum

Das hilft, denn Pamuk erzählt explizit nicht chronologisch, um (so im Roman):

tatsächlich geschehene seltsame Vorfälle in eine vom Leser leicht zu begreifende Abfolge zu bringen. Um das Leben und die Träume unseres Helden angemessen zu schildern, werde ich in der Mitte der Geschichte beginnen

Aha.

Zudem haben in dem anatolischen Personenreigen zwei erwachsene Brüder, Vater und Onkel von Hauptfigur Mevlut, unterschiedliche Familiennamen und sind mit zwei Schwestern verheiratet. Freilich führt Pamuk sie zumeist ohnehin nur mit Vornamen an. Weitere ineinander verdrehte Verwicklungen folgen.

Karten von Istanbul und West-Anatolien fehlen zu meiner Verblüffung in der Fischer-Taschenbuchausgabe.

Sprache:

Die Übersetzung klingt halb flüssig, recht umgangssprachlich, doch Übersetzer Gerhard Meier unterwältigt teils. Etwa bei dieser Formulierung (S. 70):

Wer unternehmend genug war, auf unbebautem Gelände ein Haus zu errichten…

So redet doch keiner? 0der (S. 87, ein Schüler):

Wenn in der Klasse alle nach Schweiß und Dreck riechen, fällt so ein Parfüm natürlich auf, und wenn ich es nicht dran hatte…

Ein Parfüm “dran haben”? Oder “Umgehungsautobahn” (S. 529). Oder:

…obwohl er weit entfernt von der Mutter und den Schwestern war, empfand er doch das Stadtleben viel schöner als das Leben auf dem Land

“….das Stadtleben als viel schöner” wäre besser. Oder:

Ich bin als Witwer und meine drei kleinen Töchter als Halbwaisen zurückgeblieben

Nur selten gibt’s klebriges Dativ-e:

Dort am Rande der Stadt ((S. 379))…

Immer dasselbe:

Mehrfach schreibt Übersetzer Gerhard Meier “gleichen”, wo es “selben” heißen müsste: So haben etwa zwei Brüder (S. 56 TB-Ausgabe)

nicht den gleichen Familiennamen

Und die zwei Brüder rasieren (S. 70)

sich morgens mit der gleichen Klinge

Nur bemerkenswert, und sicher auch gemeint, ist dieselbe Klinge. Oder (S. 104f):

kam Mevlüt sich manchmal vor, als sehe er ständig den gleichen Film

(Auch das “sich” ist fragwürdig.) Oder:

Und wie eng es dort war. Der gleiche Tisch, das gleiche Bett, sonst kaum irgendwelche Sachen

(Gemeint ist “selbe”.) Oder:

Als der Bus an der gleichen Raststätte hielt und Mevlüt sich an den gleichen Tisch setzte ((S. 235)… abends mit dem gleichen Bus zurückfahren ((S. 282, beide zeitgleich in ein und demselben Bus))… das in in dem gleichen Haus noch eine Zugehfrau gesucht werde ((ebf. S. 282))… die gleichen Kollegen ((S. 474))… Neben dem gleichen alten Holzofen ((S. 529))… “Ich bin eben nicht mehr der gleiche wie damals” ((S. 562))…

Gelegentlich stimmt es auch, etwa beim Vergleich zweier ähnlicher Getränke:

“Ist das das Gleiche?”

Umgekehrt erscheint auch “selbe” ausnahmsweise korrekt:

die Pappeln waren noch dieselben.

Persönliches vom Rezessenten:

Meine Taschenbuchausgabe hat einen Aufkleber “Spiegel-Bestseller” – solche Bücher gefallen mir eigentlich nicht, diesmal aber schon.

In der Atatürk-Schule gibt es auf Seite 83 einen Schüler, der

beim Absingen der Nationalhymne… nach Herzenslust furzte, was ihm sowohl bei den frommen und rechtsgerichteten als auch bei den nationalistischen und linksgerichteten Schülern höchste Achtung und Bewunderung eintrug

Darf der Pamuk sowas? Ist das nicht strafbewehrt?

Assoziation zu Pamuks Memoir Istanbul, Erinnerungen an eine Stadt:

Das Memoir Istanbul, Erinnerungen an eine Stadt hat viele Parallelen zu Orhan Pamuks Istanbul-Roman Diese Fremdheit in mir:

  • u.a. die Obsession mit Stadtteil- und Straßennamen
  • onanierende Hauptfigur
  • Pogrome gegen Nichtbiotürken
  • “Boza – eine Art Hirsegetränk” und die Entführung der Geliebten
  • beide Bücher haben den gleichen  selben Übersetzer (vielleicht auch Lektor), der ständige “gleiche” statt “selbe” schreibt

In Erinnerungen an eine Stadt redet Pamuk von “abgedroschenen Themen wie… den Friedhöfen” – und genau die erscheinen in Diese Fremdheit in mir immer wieder

Weitere Assoziation:

  • Die 2023er Doku „Remake, Remix, Rip-Off“ über billige türkische Spielfilme der 1960er und -70er Jahre samt nackten Weibern – die Trashstreifen/-weiber spielen für Pamuks jugendlichen Romanhelden eine Rolle (YouTube; Beschreibung ZDF; Webseite)
  • Beschwörendes, fast mantraartiges Herunterleiern der Ortsnamen wie bei Oskar Maria Graf (bei Graf “die Weimbertinger, die Freiselfinger, Pfreimdinger und Trostinger”)
  • Solche Mantras erklingen auch in der Rabbit-Reihe von John Updike und in der Frank-Bascombe-Reihe von Richard Ford – dort werden jedoch meist Geschäfte und Werbung heruntergeleiert

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