Biografie-Kritik: Pablo Picasso, The Minotaur Years 1933 – 1944, von John Richardson (2021) – 7/10

Richardson schreibt salopp und entschlackt, ohne ein überflüssiges Wort. Wie in den Vorgängerbänden positioniert sich John Richardson dezidiert meinungsfreudig, speziell bei sexuellen Konnotationen in Picasso-Werken:

irresistibly phallic… a kinky cluster of boxed vaginas, beehive breasts, and turdlike fingers… unquestionably his most celebrated engraving… bloodied glove suggesting genitalia… her phallic nose of a face… scrotum-like heads and penile limbs… one supremely erotic gouache… 

Mittendrin:

Biograf John Richardson (1924 – 2019) war mittendrin statt nur dabei:

I happened to be around when… Picasso would ask Douglas Cooper and myself to lunch at his home… Picasso said to me more than once…

Immer wieder heißt es: Dora Maar erzählte mir, Françoise Gilot sagte mir, Picasso meinte öfter. Die Guernica-Entstehung (1937) lässt er sich 1992 von Dora Maar berichten, die mit der Kamera dabei war.

Doch nur einmal verrät Biograf Richardson mehr als drei Worte über seine eigene Rolle: Als Vierzehnjähriger sah er Picassos Guernica in London – und war

so struck by the power of Guernica that i decided to find out more about this overwhelmingly exciting artist

Richardson lobt Pablo Picasso quer durch die Biografie, sogar die öden “Gedichte”, er sieht den Dichter Picasso als

formidable surrealist poet… also has a pictorial vividness that few surrealist poets could equal… had more in common with the Irishman James Joyce…

Klatsch:

John Richardson liefert in munterem Parlando viele – teils vorhersehbare – Bildinterpretationen, zitiert teils auch Zweitmeinungen. Und der Autor jiepert nach Klatsch:

this juicy scandal… ready to turn the slightest encounter into an orgy… In Cocteau’s milieu of luxe, gossip, and right- wing intrigue, celebrated actors, fashionistas, and gigolos thrived. Handsome German boyfriends were in great demand by both sexes…

Umso mehr betrübt den Biografen, dass Picassos Faktotum Sabartés nichts Saftiges über seinen Herrn und Meister ausplauderte: ein “obsessively discreet secretary”, wehklagt Richardson, “Sabartés never hints at anything salacious in his memoir”. Mehr zu holen ist woanders: 

Dora told me that Picasso insisted on having sex in these hallowed sheets…

Harmlose Anekdoten lässt Richardson so wenig aus wie den Sex-Klatsch – so stibitzte Picasso für eine Collage

some plastic foliage… from one of Olga’s hats

Es folgt ein überraschendes Treffen auf einer Herrentoilette. Und Sohn Paulo Picasso

had to cope with a recalcitrant mule that supplied the unit with water

Degringolade:

Richardson und seine Bearbeiter amüsieren auch mit extravagantem Vokabular (kursiviert wie im Buch):

termagant… it would have behooved Picasso… on a short monetary leash… a surrealist encomium… Dalí’s degringolade… eerie armadillo… their incessant partouses… existed only as a maquette… this bitchy galère… a rictus of grief… Dora Maar’s reign as maîtresse-en-titre

Kunst am Werk:

John Richardson schreibt jedoch wenig bis nichts über kreative Prozesse: Zwar deutet Richardson fast jedes Bild sexuell, gelegentlich politisch, und er erkennt Picassos Gefährtinnen in allen Verfremdungen. Doch Richardson sagt nicht, ob und wie die Bilder in Picassos Kopf entstanden (gelegentlich zeigt oder erwähnt er Vorstufen).

Ich verstehe nicht, warum Picasso sich – laut Richardson – laufend als Minotaurus oder klassischer Grieche darstellt. (Oder habe ich etwas überlesen? Schon möglich. Ich erkenne Picasso nicht in diesen Bildern.)

Um so ungewöhnlicher ist der Absatz, in dem Picasso den Schmerz beim Abschluss eines Werks beschreibt:

”To finish it means to be through with it, to kill it, to rid it of its soul, to give it its final blow; the most unfortunate one for the painter as well as for the picture.”

Ein anderer überraschender Moment: Während der Besatzung muss Picasso seine und Matisse’ Werke deutschen Soldaten zeigen – und täuscht sie dabei gewaltig, nichts wird beschlagnahmt.

Praktisch nichts erzählt Richardson zudem von Picassos Finanzen oder auch nur vom Preis für einzelne Bilder – man wüsste gern mehr. Nur dass im besetzten Paris der Kunstmarkt florierte, ist zu lernen. (Angelsächsische Biografen beleuchten die Einnahmen ihrer jeweiligen Hauptfigur weit genauer, samt Umrechnung in heutigen Kaufwert.)

Frauen:

Mit nicht nur klammheimlicher Freude beschreibt Richardson, wie Picasso seine Frau Olga erst beschläft und ihr, noch bettwarm, ein Scheidungsgesuch zustellen lässt. Schon zuvor hatte Richardson mitfühlend Picassos Leiden an Olgas etepetete Spießbürgerlichkeit geschildert. Olga sei gleichwohl

an unstable woman obsessively in love with her husband… more unhinged than ever

Auch andere Frauen kommen nicht gut weg: Gertrude Stein ist “sometimes astute”, aber “often preposterous” und mitunter “egomaniacal”, er mokiert sich über

Stein’s defecatory explanation of Picasso’s approach

Im Vergleich zu Stein sei Picassos Dichtkunst “far more avant-garde than hers”.

Auch über Dora Maar textet Richardson immer gern fies, scheinbar denken Maler und Biograf unisono:

No wonder she would end up… in the hands of the psychiatrist… Picasso enjoyed playing his secretary and his mistress off against each other… Dora was used to being caricatured, humiliated, and tortured by Picasso – graphically… heavy chin, Kazbek-like nose, desperate eyes… her neck and breasts are hideously wrinkled. Dora was only thirty-three, but for Picasso that was already middle-aged… this masochistic model-mistress… Picasso fixated on the pictorial deformation of her face… Dora had thrived on punishment… master and slave… a painting of her in which her diabolically twisted face forms a figure eight. Her agonized features… the cruelty meted out to Dora…

Der kolportierende Biograf reibt sich scheinbar begeistert die Hände, wenn er schreibt

Picasso’s jokes had a sadistic tinge, 

Und über andere Frauen heißt es bei Richardson:

yet another wounded woman… his friend Éluard had proffered his wife, Nusch, to Picasso… Éluard had made her available to Picasso… while juggling multiple mistresses… Penrose had replaced his tiresome French wife with… 

Frauen nennt Richardson meist beim Vornamen, Männer beim Nachnamen: 

Picasso and Dora… Éluard put his worries in a letter to Gala… 

Während wir einiges von Olgas Exzentrik und von Dora Maars Eifersucht und Labilität hören, auch ein wenig über Françoise Gilots Vernunft und Einfühlungsgabe, bleibt Neben-Geliebte Marie-Therese Walther völlig unbeschrieben.

Männer:

Nicht mal auf den eigenen Ehemann hielt John Richardson offenbar große Stücke. So dankt ein “Editor” im Vorwort John Richardsons

ex-husband, Kosei Hara, and Sonam Chodon – the only person he really listened to and trusted

Auch ein paar Männer kriegen’s ab, insonderheit Franco:

the fat little dictator-to-be… fat little Generalissimo… 

Jean Cocteau war

the perfect target for Picasso’s affectionate, though sometimes diabolical, mockery

Richardson klingt manchmal auch “diabolical”.

Zudem wundert sich Richardson: Keiner von Picassos

homosexual friends had ever been included in their Mougins get-togethers ((um 1937))… why were the wildly avant-garde surrealists so prudish in this respect? Maybe it was a manifestation of bourgeois guilt and fear of contamination.

Bild und Text:

Richardson bringt zahlreiche Fotos und Picasso-Gemälde in Schwarz-Weiß direkt auf Textdruckpapier neben seinen Zeilen:

  • So stellt er etwa das Foto von Nusch Éluard und deren Porträt durch Picasso nebeneinander, und das direkt über den Zeilen zu dieser Frau. Oder
  • er zeigt Picassos Eckermann, Sabartés, der einen Picasso mit Sabartés-Portrait in die Kamera hält. Oder
  • er zeigt ein Cocteau-Gemälde von Paul Éluard und dazu Picassos Gemälde vom  Éluard malenden Cocteau in Dora Maars Studio – direkt über den Zeilen zu diesem Ereignis.

Kaum eine Doppelseite hat keine Schwarz-Weiß-Abbildung, wenn auch teils zu flau. Dazu kommt noch ein ausführlicher, guter Farbteil auf Fotodruckpapier.

Viele Bilder, die Richardson kommentiert, sind auch abgedruckt – sehr angenehm, und nicht üblich (siehe Gefter über Avedon). Aber es gibt keine leicht nachzuvollziehenden Verweise zwischen Text und Bildern. Richardson sollte Abbildungsnummern verwenden, die exakten Bildtitel auch im Lauftext nennen und nicht nur unter den Abbildungen oder seine Kommentare direkt unter die Bilder schreiben; dann könnte man Text und Repro sofort verbinden, ohne erst über die Verbindung zwischen beschriebenen und  gezeigten Bildinhalten nachdenken zu müssen.

Um 1935 entsagte Picasso vorübergehend dem Malen und produzierte surrealistische Gedichte. Dieses Gewuhre zitiert Richardson auf Englisch – man weiß nicht einmal, ob Picasso ursprünglich auf Französisch, Spanisch oder Katalanisch textete; es gibt auch keine Endnoten dazu.

Entstehung von Teil IV:

John Richardson starb 2019, und dieser Picasso Teil IV (The Minotaur Years) erschien erst 2021. Offenkundig vollendeten andere das  unvollständige Werk – genannt werden die Zuarbeiter Ross Finocchio und Delphine Huisinga ohne Details zu ihrem Beitrag. Das mehrseitige Nachwort von “–The Editor” dankt vielen Helfern allgemein, sagt indes nichts zum Zustand des Manuskript bei Richardsons Tod und zur weiteren Bearbeitung. (Aber es gibt acht Zeilen zur verwendeten Schriftart.)

Man weiß nie so genau, wer die deftigen  Einschätzungen im Text abgibt. Laut NYT 2019 war Band IV bei Richardsons Tod “close to completion… although no publication date has been set”.

Was soll der “Epilogue” am Schluss der Biografie? Er liest sich wie ein ganz normales Kapitel – kein Resümee, kein Ausblick auf kommende Jahrzehnte (jedoch auf Françoise Gilot, die schon ante portas wartet, als ob sie das kommende wichtige Ding sei). Diesen lieblosen Teil steuerten womöglich die Bearbeiter bei.

Endnoten:

Die Kapitelüberschriften nennen keine Jahreszahlen, diese erscheinen auch nicht als lebende Kolumnentitel. Die Quellenhinweise stehen in zahllosen Endnoten, durch hochgestellte Ziffern im Lauftext referenziert. Gelegentlich liefern die Endnoten auch inhaltliche Vertiefungen (nicht nur Bibliografie), so dass man eigentlich laufend nach hinten blättern müsste (inhaltliche Vertiefungen gehören direkt zum Lauftext, entweder in den normalen Text oder als Fußnote unmittelbar unter den Text).

Bei diesem Buchkonzept braucht man also drei Lesezeichen:

  • für den Lauftext
  • für den geschlossenen Farbteil (dessen Abbildungen zum Lauftext passen, ohne dass der Lauftext dies erwähnt)
  • für die Endnoten mit ihren gelegentlichen inhaltlichen Vertiefungen (also nicht nur Quellenhinweise)

Doch meine Knopf-Hardcover-Ausgabe hat nicht ein einziges Lesebändchen.

Persönlich vom Rezionär:

Im ersten Teil dieses Bandes nerven Picassos Ekel gegenüber Ehefrau Olga und sein Wimmern nach Mätresse Marie-Thérèse Walter (auch wenn es mir selbst genauso gegangen wäre).

Lustig: Das Vorwort dankt auch 

late editor in chief Sonny Mehta, to whom this book is dedicated, and who overaw ((sic!)) the flawless ((ha!)) production of John’s work

Assoziation:

  • Picasso wie Wolfgang Herrndorf geben die Malerei zugunsten des Schreibens auf, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art, und in beider Biografien ist von “pranks” (Streichen) die Rede
  • Dogmatischer Feminizmus zerfrisst Siri Hustvedts Rezension in der NYT, gleichwohl nennt sie Punkte, die auch mir auffielen: Frauen werden nur beim Vornamen genannt, “coy aggrandizement of the artist’s work and complicity with his behavior”, Wunder über das Lob von Picassos Dichtkunst
  • Englischer Pressespiegel zur Biografie bei Bookmarks
  • Ob sich John Richardson auch für Somerset Maugham (1874 – 1965) interessierte?

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