Biografie-Kritik: Masked, The Life of Anna Leonowens, Schoolmistress at the Court of Siam, von Alfred Habegger (2014) – 8/10

Thailand

Das Buch liest sich sehr leicht; aber es liest sich nicht wie ein Roman, denn Habegger bemüht sich nicht um Dramatisierung, dräuende Ankündigung oder verheißungsvolle Kapitelübergänge.

Trotzdem erzählt Habegger entspannt, unprofessoral – wie unter Freunden bei einem Cognac am Kamin. Die Gliederung ist gut, viele kurze Unterkapitel erleichtern die Lektüre. Gleichzeitig wirkt alles so seriös und gründlich recherchiert wie nur denkbar (überprüfen kann ich es nicht).

Oft findet Habegger stimmige Worte, zum Beispiel über Thailands

delicate blend of sympathy and foreignness

Habegger beginnt danach mit Leonowens’ Ur-Urgroßeltern, teils religiöse Eiferer.

Falsifizierung:

Das Vorwort listet zunächst die vielen Mythen und Fake News rings um Anna Leonowens (1831 – 1915) auf. Immer wieder unterstellt Habegger Anna Leonowens’ Texten und Erzählungen 

striking inconsistencies and some odd omissions… a fraudulent account… outsized claims…most implausible… fondness for pleasing counterfactual narrative… her self-aggrandizing books… a shrewd commercial product… shockingly fraudulent… a falsified eyewitness account of her life in Siam… sensational fiction in the guise of eyewitness reporting… American career as Oriental fantasist… inflamed and questionable inventions… brazen claims and sheer effrontery… a program of vengeful, self-promoting falsification… Mrs. Leonowens’s delusions and deceptions… a tricky Victorian fantasist

Sarkastisch notiert Habegger über einen Leonowens-Artikel mit “lavish fictional treatment”: 

She sold the tale to an American children’s magazine that specialized in “true stories.”

Habegger zitiert zu ausführlich Anna Leonowens’ Falschbehauptungen und Plagiate. Er liefere (laut Nachwort) eine

biography of a heroic fraud

Im Anhang hat Habegger eine mehrseitige Synopse “Anna as Plagiarist” mit Leonowens’ Texten und daneben die von ihr abgeändert übernommenen Originaltexte ihrer Zeitgenossen.

Immer wieder äußert sich Habegger auch sonst despektierlich über seine Hauptfigur:

(not) intelligent… her hold on adult audiences was gripping but short-lived… meretricious… 

Bei allem Lästern über Leonowens’ Lügen – die das Biografenhandwerk sehr erschweren -, lobt Habegger seine Hauptfigur auch als starke, unabhängige Frau, die hergebrachte Rollen nicht still akzeptierte:

Anna wasn’t cut from the usual mold… a determined and high-minded woman could do anything… brave and resolute… one of the most formidable and unstable products of the British Empire… hard at work, and tougher than we dreamed… formidable woman… no one had better survival skills or a tougher shell… shows how benevolent and effective she could be… her daring venture outside the empire… an extraordinary person… 

Bisherige Biografien und Filme:

Auch Leonowens’ erste “Biografin”, Margaret Landon, habe viel erfunden. Und die Presse habe über Leonowens zunächst viel Schrott reportiert. Über die Anna-King-Filme meint Habegger:

Major liberties were taken with the facts… The movie alters history in many ways… spurious and stereotyped and cynical… of falsifying and cheapening the history of a non-Western people

Über das Musical:

how insulting it is and how false to history

Zu ausführlich:

Oft wird Habegger zu ausführlich. Es würde reichen, wenn er nur die Tatsachen und weniger genau die Falschbehauptungen und ihre aufwendige Falsifizierung wiedergäbe: So zitiert er ab Seite 61 drei oder vier Falschbehauptungen, unter anderem von Landon und Bristowe, rings um Leonowens’ Reise nach Syrien und Ägypten mit den Badgers; erst nach mehr als einer Seite Fake news kommt Habegger zu den (seiner Meinung nach) Tatsachen.

Im äußerst lehrreichen Thailand-Teil verwendet er zu viel Energie darauf, einzelne Leonowens-Geschichten zu widerlegen, statt unabhängig von ihren geschriftstellerten Fantasien das Leben am Hof von Rama IV zu berichten. So schildert er auf mehr als fünf engen Druckseiten Leonowens’ melodramatische Geschichte der Konkubine Tuptim.

Dem folgt das Unterkapitel “Did anything like this happen?” Und ein späteres Unterkapitel heißt: “But did she get it straight?” Natürlich nicht. Aber dann sollte er die Fake News nicht so ausführlich nachbeten.

Anschließend widerlegt Alfred Habegger auch noch die Geschichten, die Margaret Landon 1944 auf Basis von Anna Leonowens’ Geschichten publizierte (“Landon’s version of the farcical dinner has two telling additions”). Es tut weh, die quasi rassistischen Falschbehauptungen zu lesen, die Habegger eine nach der anderen widerlegt.

Auch die Leonowens-Biografie Bombay Anna von Susan Morgan (2008) tritt Habegger en passant in die Tonne (der englische Wiki-Eintrag zu Leonowens stützt sich mehrfach auf Morgan, jedoch häufiger auf Habegger; Stand September 2023); der Rezensent in New Mandala sieht Morgan von Habegger “quite unfairly” behandelt und zitiert andere Forscher mit anderen Sichtweisen auf Leonowens’ Leben.

Tonfall:

Habegger schreibt komplett unprofessoral, sehr leicht lesbar, angenehm lässig.

Habegger mag’s kompakt und markant:

A letter he sent home on 15 October moved his father to report that he was “in good health and spirits”. Two weeks later he was dead.

Mitunter wird er aufdringlich umgangssprachlich:

but the clincher was… but here came the hitch…. he had the moxie… from then on the welcome mat was out… 

Gelegentlich schießt Habegger übers Ziel hinaus, etwa bei Leonowens’ Erfindungen über ihren katholisch-irischen Stiefvater wie auch den Thai-König Mongkut:

The wicked king and the rancid stepfather: these were Anna’s very own imaginary Siamese twins.

Anderer überraschende Vergleiche:

If Anna’s stepfather was the slow and steady tortoise, her husband was the perfect hare – fast, smart, gifted, and always losing in the end

Husband and wife were both dedicated to fighting the good fight, and they both punched well above their weight.

Gelegentlich klingt er ironisch bis selbstironisch: so bedankt Habegger sich im Nachwort bei

retired Brigadier General Edward de Broë-Ferguson, who saved me from many blunders

und bei seinem Sohn

for the dismaying vigor with which he marked up some chapters I thought I had finished

sowie bei seinen Sprachlehrern

for getting a bit of Thai into a sixty-four-year-old male brain

Und Habegger beweist Sinn für Spott und  Anekdoten:

  • In West-Australien klagte ein Leserbriefschreiber, ein Lehrer der öffentlichen Schule “couldn’t even spell grammar”.
  • Dit Bunnak, Außenminister von Rama III, habe “splendid roles of belly fat”.

Persönliche Erklärung:

Die Biografie hat viel, was hansblog.de persönlich fesselt: wahre Geschichten aus historisch und geografisch ferner Zeit, hot country reading, Interkultur, Indien, Thailand, Singapur, das viktorianische Zeitalter in England und USA und englischen Kolonialismus (hier nicht in härtester Ausprägung).

Andere erwünschte Zutaten zu einer Biografie fehlen mir indes:

  • der Autor ist teils humorvoll, doch die Hauptfigur dezidiert nicht, und
  • mit Liebe lief bei Anna Leonowens auch nicht viel (viel weniger als die Film- und Musical-Versionen behaupten).

Unter diesen letztgenannten Aspekten unterhält eine Leonowens-Biografie weniger als sagen wir ein Buch über Winston Churchill, Barack Obama oder Richard Francis Burton.

Andererseits hat die Leonowens-Biografie einen exzellenten Autor, der nicht nur offenbar sehr gründlich recherchierte, sondern auch noch sehr angenehm, sehr lesbar (und gelegentlich humorvoll) schreibt. Ich wünschte, er hätte mehr über meine persönlichen Interessengebiete publiziert.

Die bekannten Bücher, Filme und Musicals über Anna Leonowens kannte ich übrigens vor der Habegger-Lektüre allesamt nicht nicht, und sie interessieren mich jetzt noch weniger als zuvor. Die Biografie von Alfred Habegger finde ich dagegen hochinteressant.

Ausstattung:

Anna Leonowens lebte unter anderem in Indien, England, West-Australien, Singapur, Penang, Thailand, Kanada und USA, plus Aufenthalte in Syrien, Ägypten, Deutschland, etc. Die Buchrecherche war für Autor Habegger 

an investigative journey that has lasted ten years, taken me to many places

Er bedankt sich bei hilfreichen Geistern rund um den Globus, darunter sein Sohn und dessen thailändische Frau in Bangkok.

Im Vorwort erwähnt Habegger

extensive new documentary material from five continents

geht aber nicht ins Detail. Habegger erzählt kaum von seinen gewiss abenteuerlichen Recherchen. Gelegentlich blitzt ein wenig davon durch, wenn er etwa von den

musty 1822 casualty returns

einer indischen Militäreinheit berichtet.

Der Haupttext allein hat rund 385 eng bedruckte Seiten (wenn man die Bildseiten abzieht).

Habegger bringt nicht weniger als 90 Seiten Endnoten. Diese werden aber nicht im Lauftext durch eine hochgestellte Ziffer gekennzeichnet; man muss auf gut Glück nach hinten blättern und gucken, wo Habegger eine Endnote für nötig hielt. Diese Endnoten liefern vor allem Quellenhinweise und wenig inhaltliche Vertiefung. Die meisten inhaltlichen Anmerkungen bringt Habegger auf einer Seite mit dem Haupttext, als Fußnote, diesmal mit hochgestellter Ziffer.

Seitengenaue Querverweise innerhalb des Buches gibt es indes nicht, ein Mangel (ausser auf Seite 136 bei einem nützlichen Verweis auf den Fototeil). Gelegentlich kündigt Habegger die Vertiefung eines anmoderierten Themas in einem späteren Kapitel an, oder er wiederholt sogar Dinge auffällig.

Einmal beschreibt Habegger eine kleine diplomatische Krise in Bangkok, ausgelöst durch einen anonymen Leserbrief an eine Zeitung in Singapur, “harshly critical of King Mongkut”. Dieser Brief muss Habegger vorgelegen haben, doch gegen sonstige Usance zitiert er kein Wort daraus, auch nicht im Anhang – will er die Verbreitung seines Buchs in Thailand nicht gefährden?

Unverhältnismässig viel Raum gibt Habegger  Leonowens nur fünfeinhalb Jahren in Bangkok. Dieser Buchteil beginnt 10 Jahre vor Leonowens’ Eintreffen, mit anderen Königen, Missionaren, Diplomaten und der wechselnden Haltung im Palast gegenüber dem Ausland und Ausländern.

Leonowens lange Jahre in USA bespricht Habegger nur mit Blick auf ihre Bücher und Publicitytouren. Ihre  späten Jahre in Kanada ignoriert der Biograf komplett. Es gibt auch keine Zeittafel, die diesen Zeitraum auflöst; in einem Nebensatz stirbt Leonowens. Dem folgt eine hochdetaillierte Besprechung der Leonowens-Bücher, -Filme und Musicals. Der vierseitige Stammbaum – getrennt für Anna Leonowens und ihren früh verstorbenen Mann – wirkt unübersichtlich, aber vielleicht geht es nicht anders.

Die Schwarz-Weiß-Bilder auf Textdruckpapier sind hochinteressant, aber extrem blass – eine Enttäuschung, das ginge besser. Habegger lobt die Zeichnungen von Margaret Ayer für Margaret Landons Leonowens-Buch, zeigt aber keine einzige – noch eine Enttäuschung.

Im Anhang bringt Habegger eine endlose unkommentierte Bibliografie. Man wünschte, er würde gezielt einzelne Titel empfehlen. Speziell solche, die sich so gut lesen lassen wie sein eigenes Werk.

Assoziation:

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