Buchkritik: Bismarck. Eine Biographie, von Christian Graf von Krockow (1997) – 7/10

Fazit:

Christian Graf von Krockow schreibt durchgehend flüssig und lesbar, fast charmant. Die vielen oft ganzseitigen, gut reproduzierten SW-Abbildungen  – Fotos, Gemälde, Karikaturen, Handschriften – samt extra-langen, erzählenden Bildunterschriften in meiner dtv-Ausgabe von 2000 machen das Buch noch angenehmer.

Allerdings: Es gibt keine Stammbäume und, noch unvorteilhafter, keine Landkarten. Darum werden Bismarcks politische Umwälzungen weit weniger deutlich, und vielleicht auch wegen des Stils: Wie beabsichtigt zeigt von Krockow den deutschen Reichskanzler (1815 – 1898) als markante Persönlichkeit, die zudem Briefe und Memoiren sehr gelungen formuliert. Viele historische Grundlagen scheint von Krockow dagegen beim Leser vorauszusetzen, er kommentiert sie nur.

Darum ist das Buch zumindest in punkto Bismarck-Politik eine der Biografien, die nicht so sehr informieren als vielmehr als bekannt Vorausgesetztes diskutieren und vertiefen wollen.

Stil:

Der Autor formuliert gewandte Absatz- und Kapitelüberleitungen. Gelegentlich psychologisiert von Krockow noch vertretbar:

Schabt man den Sarkasmus fort, um zum Kern zu gelangen, so heißt die bittere Wahrheit… Wer tiefenpsychologisch schürfen will, mag meinen, daß… Wenn man in der Tiefendimension zu ergründen versucht, was die Denkmalerbauer bewegte…

Sogar die ganze Nation legt von Krockow auf die Couch (S. 408f):

das Traumhafte, der Wahn muß erklärt werden. Es gab einen abgründigen Zwiespalt der Gefühle

Unfroh stimmte mich von Krockows gelegentliches Dativ-e:

Im Jahre 1460… auf einem anderen, wichtigen Felde ((S. 322))… auf dem wichtigen Felde ((S. 324))… mit dem Range ((S. 366…))

Blick in die Zukunft:

Nur ganz ausnahmsweise produziert von Krockow hohle Verallgemeinerungen wie

Menschen können wandern. Sie können ihre Heimat verlassen, um irgendwo anders, fernab in der Fremde, ihr Glück zu suchen ((…)) Aber Nationen können nicht wandern. Die geographische Lage bestimmt ihr Schicksal ((…))Die Zukunft liegt vor uns als ein offener Horizont. Niemand kennt sie. Um so wichtiger ist es, daß wir…

Im Gegensatz zu anderen Biografien endet Christian Graf von Krockow nicht hart mit dem Tod der Hauptfigur, sondern blickt immer wieder weit darüber hinaus, behandelt u.a. Trends bei späteren Bismarck-Denkmälern und die deutsche Schlachtflottenbaubesessenheit. Im Nachwort geht es sogar um 1990, nicht ohne feierliches Dativ-e:

Genau ein Jahrhundert nach Bismarcks Entlassung im Jahre 1890 entstand der zweite deutsche Nationalstaat…

Schauerliche Gedichte:

Christian von Krockow zitiert nicht nur ausführlich Bismarck, sondern gelegentlich andere Historiker wie Lothar Gall, zudem Immanuel Kant, Nietzsche, mehrfach den offenbar bewunderten Heinrich Heine sowie Theodor Fontane, jedoch nicht den weniger Bismarck-affinen Theodor Storm.

Wiederholt zitiert der Autor zeitgenössische, teils schauerliche Gedichte, zum Beispiel um “die Gefühlslage der deutschen Einigung” mit “patriotischer Poesie” zu illustrieren (S. 256). Gleich eine Seite später schildert von Krockow “doch noch ein anderes, nachdenkliches” Deutschland, ebenfalls mit einem Gedicht, das nun nicht “wie Fanfaren” klinge.

Zitate, Zitate:

Von Krockow liefert betont viel Bismarckschen O-Ton, denn dessen “Erinnerungen” und Briefe gehörten

in den ersten Rang der deutschen Literatur

Wieder und wieder rühmt von Krockow Bismarcks Schreibkunst, sieht ihn offenbar gleichauf mit Theodor Fontane (S. 59) oder hält ihn à la Churchill und Mommsen für Nobelpreis-würdig, wenn es den Nobelpreis zu Bismarcks “Zeit schon gegeben hätte” (S. 426). So zitiert von Krockow ausführlich Bismarcks Brief, in dem dieser “eine bildschöne Engländerin” sechs Monate “auf ausländischen Meeren” verfolgt habe:

“Ich nötigte sie endlich zum Beilegen, sie strich die Flagge, doch nach zweimonatlichem Besitz ward mir die Prise von einem einarmigem Obristen mit 50 Jahren, 4 Pferden und 15000 fl. Revenüen wieder abgejagt. Arm im Beutel, krank am Herzen, kehrte ich nach Pommern zurück.”

Lesen macht hier Laune, und das Zitat fordert von Krockow zu eigener Launigkeit heraus:

Die Affäre mit einer kapriziösen jungen Dame aus England hat in Bismarcks Finanzen gewiß stärkere Verwüstungen hinterlassen als in seinem Gemüt

Allerdings hebt zumindest meine dtv-Ausgabe von 2000 die Zitate nicht typografisch heraus, sie fließen im Lauftext mit. Dass von Krockow nicht einrückt, stört besonders bei den mehrere Absätze langen Zitaten aus Bismarcks “Erinnerungen” wie auch Briefen.

Kurze Kindheit:

Mit Bismarcks Jugend macht Graf von Krockow kurzen Prozess: Schon nach 21 Seiten (ein paar ganzseitige Abbildungen nicht herausgerechnet) schließt Bismarck 1835 die Uni ab. Da bleiben Fragen offen. Auch über die rund acht Jahre nach Otto von Bismarcks Amtsentlassung huscht von Krockow uninteressiert hinweg, per Nebensatz verstirbt er die langjährige Ehefrau Johanna.

Von Krockow will explizit Bismarck als Mensch vorstellen, erörtert nicht nur seine Stimme, sondern auch das üppige Speisenangebot in Bismarcks Frankfurter Residenz und später in Varzin, lt. Fritz-Stern-Zitat

eine unabsehbare Menge eigens importierter Fäßchen Kaviar, Stör, Leberpastete, gelegentlich auch Wein

allein als Geschenke des Bankers Bleichröder.

Doch selbst beim Thema Bismarck als Mensch lässt von Krockow Fragen offen, etwa warum Jung-Bismarck das Gymnasium wechselte oder warum seine Söhne weit jünger starben als er und woran (S. 279).

Von Krockow sieht Bismarck wohl weniger kritisch als andere Historiker. Er empfindet (S. 342)

Bewunderung für den Artisten, für sein virtuoses Spiel mit vielen Kugeln

Die Antithese eine Zeile später:

Bei näherer Betrachtung drängen allerdings die Zweifel hervor.

Bei Widerspruch zu Bismarck schreibt von Krockow gelegentlich ein kokett-devotes “Mit Verlaub” (u.a. S. 292).

Holpriger Einstieg:

Verunglückt ist der Einstieg ins Buch, und das erzeugt einen falschen ersten Eindruck. Kapitel 1 beginnt nicht mit Klein-Otto auf dem Bärenfell oder mit dessen Großeltern, sondern geht wie viele Biografien gleich medias in res.

Doch für diesen Einstieg wählt von Krockow eine weniger bekannte politische Situation: den “Vereinigten Landtag” 1847. Den muss von Krockow eine ganze Seite lang umständlich erklären. Und darum erscheint im “1. Kapitel” auf der ersten Lauftextseite dieser Bismarck-Biografie der Name “von Bismarck” nicht.

Der Name steht nur auf der Gegenseite unter einem Gemälde angebl. unbekannter Herkunft des 22jährigen Bismarck, das nicht zur Szene von 1947 passt. (Lt. Wikipedia ist Bismarck hier erst 18, der Maler bekannt.)

Anderes erklärt von Krockow nicht:

So etwa Latein, Französisch und Unbekanntes in Bismarcks Briefen u.a. Quellen wie

die Prise ((s.o., Beute))… adultenium mit einer jungen mulier facilis et formosa… facile à vivre… Passauer Vertrag… 1848 ((mehrfach))… Olmütz ((mehrfach))… (Schmach von) Olmütz ((mehrfach))… konservative Durchgängerei ((Zitat))… periklitiert… Heilige Allianz… Satyrspiel… peccavi

Und (S. 335)

Bismarcks Bündnispolitik zwischen 1871 und 1890 soll hier nur knapp skizziert werden; man hat sie bis in alle Ein- zelheiten erforscht und immer wieder beschrieben…

Dieser bequeme Verweis, man möge doch andere Bücher lesen, trägt nicht bei einem populären Sachbuch.

Könige + Kaiser:

Seitenlang redet von Krockow über die verschiedenen Könige und Kaiser zu Bismarcks Zeit, aber aus Expertensicht, unverständlich für Ignoranten. So erwähnt er in einem einzigen Absatz auf S. 105 Friedrich Wilhelm IV., dessen Bruder Prinz Wilhelm, Wilhelm I., Friedrich Wilhelm III., Königin Luise. Dann auf Seite 113 über Könige:

Er war kein talentreicher Träumer wie sein Bruder und kein behender Bescheidwisser wie der Enkel

Alles klar.

Wenig Grafisches:

Meine dtv-Ausgabe hat keine Stammbäume, weder von Bismarck noch von preußischen oder deutschen Königen und Kaisern – hier hätten sie geholfen.

Und Landkarten gibt es auch nicht – ein grober Mangel bei einem Landkartenveränderer wie Bismarck. (Natürlich kann ich mir den dtv-Weltatlas oder den Putzger danebenlegen, aber seitengleiche Landkarten im Buch will ich auch.)

Sub-ideal zudem: Komplizierte Wahlergebnisse und ihre Tendenzen beschreibt von Krockows teils über mehrere Absätze hin im Lauftext (z.B. S. 290), ebenso wie Wirtschaftsdaten (Schienenkilometer, Stahlproduktion etc.). Also keine Tabellen und schon gar keine übersichtlichen Balken, Linien, Torten oder Teilchen.

Einmal schildert von Krockow über viele Seiten die wirtschaftlichen und geistig-moralischen Veränderungen seit der Reichsgründung – der Name Bismarck erscheint dort nirgends, und es wirkt wie die Zweitverwertung eines anderen Geschichtsbuchs des Autors; ebenso die langen – interessanten – Ausführungen zum Bismarckdenkmalbau (auch dazu verantwortet von Krockow ein separates Buch mit).

Hilfreich ist definitiv die gründliche Zeittafel “Das Jahrhundert Bismarcks” am Buchende, die weit mehr als reine Bismarck-Daten auflistet.

Zurückzublenden:

Immer wieder schweift von Krockow aus, blickt in die Zukunft, und dann muss er die Rückkehr auf die Haupterzählschiene erst anmoderieren:

Um noch einmal auf das Abenteuer ((…)) zurückzublenden: ((S. 32))

Um zurückzukehren: ((S. 41))

Doch wir greifen jetzt weit in die Zukunft und kehren schleunigst zurück. ((S. 70))

Davon war freilich noch nicht die Rede, als…

Doch nun zum Briefwechsel. ((S. 93))

Wir kehren nun zum Ausgangspunkt zurück. ((S. 115))

Wir sind den Ereignissen vorausgeeilt. ((S. 185))

Wir kehren in die reale Welt und zum noch lebenden Bismarck zurück ((S. 384))

Bei Bismarcks berühmter 1850er Rede geht von Krockow auf Bismarcks Stimme und Tonfall ein und vergleicht sie nicht nur mit Wilhelm II., sondern auch mit Hitler und Adenauer. Danach muss der Autor hart wenden (S. 81):

Doch zurück ins Jahr 1850: …

Manchmal moderiert von Krockow seine Abschweifung auch an:

Dies läßt schon vorausdenken an… ((S. 125))

Einmal mehr drängt sich hier eine Nebenbemerkung auf: ((S. 128))

Ein kurzer Rückblick sei zum Verständnis hier eingeschaltet

Im Vorgriff auf eine spätere Periode sei hier eine Anmerkung erlaubt. Nachdem… (S. 155)

Ein Einschub ist hier wichtig. ((S. 195))

Ein Einschub mag erlaubt sein ((S. 273))

Um Anschauung zu gewinnen, wollen wir zunächst…, um dann zu Bismarck zurückzukehren und…

Ist dieses Hin- und Herschwenken ein Nachteil?

Speziell ab der Reichsgründung 1871 springt von Krockow immer wieder in spätere Jahrzehnte, bis zum ersten oder sogar zweiten Weltkrieg. Sehr ausführlich diskutiert er, warum Bismarck scheinbar vernunftwidrig der Annektion Elsass-Lothringens nicht offen widersprach.

Ein paar von Krockowsche Formulierungen wunderten mich auch:

Bismarck fühlte sich hingerissen zu ((sic)) der jungen  ((…)) Frau ((S. 39))

Zu einer tiefen Erschütterung geriet dann für Bismarck Maries plötzliche Erkrankung und ihr früher Tod  ((ebf. S. 39))

Im gleichen Text sagt… ((S. 352))

Auf Seite 195 schreibt von Krockow, dass der wichtige “jüdische Bankier” Bleichröder völlig zu unrecht in Bismarcks Gesammelten Werken und im Brockhaus bis 1967 nicht figuriert; die Bildtafel auf der nachfolgenden Seite 196 zeigt… genau: von Roon und Moltke.

Vor- und Zurückblätterei:

Die hochgestellten Ziffern im Lauftext verweisen auf die Endnoten hinten im Buch. Man weiß nie, ob dort hinten nur eine Quellenangabe wartet oder Interessantes, Vertiefendes.

So zitiert von Krockow auf Seite 27 den Ausdruck “Kassube”, und man fragt sich, ob es sich lohnt, der dazugehörigen hochgestellten Zahl 18 nachzusteigen. Tatsächlich erklärt Anmerkung 18 auf Seite 422 den Begriff.

Solche inhaltlichen Vertiefungen gehören direkt in oder unter den Lauftext, nicht ans Buchende. Dort dürfen allenfalls Quellenverweise stehen.

Fast höhnisch wirkt die hochgestellte Ziffer 25 auf Seite 321 – hier erwartet man unbedingt eine Endnote mit weiterem Interessantem. Doch hat man sich zur Seite 455 mit Endnote 25 durchgewühlt, steht dort lediglich:

Für Zitate sei auf das folgende Kapitel verwiesen

Unterschiede zwischen den Bismarck-Biografien von von Krockow (1997) und Steinberg (2011):

Von Krockow schreibt etwas eleganter. Jonathan Steinberg klingt viel trockener, journalistischer, fast privatbriefig. Er hat weit mehr Platz und zeigt mehr Bismarcksche Facetten, v.a. negative. Es passt, dass auf von Krockows Buch ein Farbgemälde prangt, während Steinbergs Cover ein SW-Foto zeigt.

Von Krockow erscheint nicht in Steinbergs sehr langer “Bibliographie”.

Christian Graf von Krockow* Jonathan Steinberg*
Seiten reiner Lauftext ca.**

413

665

Seiten Lauftext und Anhang ca.**

489

752

Stil elegant, angenehm, literarisch angehaucht nüchtern, persönlich, ebf. unprofessoral, gelegentlich uncharmant, erwähnt sich öfter selbst, trotzdem leicht
Zitate viele, auch Lyrik, typografisch nicht abgesetzt erklärtermaßen sehr viele, auch aus Romanen, typografisch abgesetzt, deutlich mehr als von Krockow
Chronologie immer wieder Exkurse, die teils an- und abmoderiert werden, knapp noch übersichtlich schweift immer wieder weit aus, von Hölzchen auf Stöckchen, unübersichtlich, unruhig
SW-Bilder auf Textdruckpapier viele, verstreut, lange Bildtexte, gute Wiedergabe 16 S. Bildblock, mäßige Wiedergabe, kurze Bildtexte
Stammbäume nein nein
Landkarten nein nein
Diagramme für Wahlen, Wirtschaft, Demografie nein, nicht mal Tabellen wenige schlichte Tabellen, keine Diagramme
Endnoten am Buchende teils mit ausführl. Hintergrundinformationen weitgehend nur Bibliografisches
über B.s Frau “Es fällt schwer, ihre Schönheit zu rühmen, und von geistiger Originalität kann man erst recht nicht reden” (sehr ähnlich in Bildtext und Lauftext) “…besaß sie weder deren (Marie von Thadden-Trieglaffs) gutes Aussehen noch ihre geistigen Interessen” (S. 94)… Sie war weder schön noch sprach- kundig, noch hatte sie Sinn für Mode” (S. 161)
warum wechselt Bismarck Gymn.? verschweigt’s “nicht bekannt” (S. 58)
Zeittafel ja, ausführlich
Lob der Bismarck-Politik durchaus häufig, überschwänglich
Meinung zu Mensch Bismarck mild kritisch sehr kritisch

*jew. dt. Taschenbuchausgabe; ** jew. ohne IHV, inkl. Vorwort, Bildseiten jeweils mitgezählt, auch die 16 nicht-paginierten bei Steinberg

Assoziation:

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