Romankritik: Im Falle eines Unfalls, von Georges Simenon (1958, auch Mit den Waffen einer Frau) – 5 Sterne – mit Video

Simenon

Ein steinreicher alter weißer Cismann erzählt diesen Nicht-Maigret-Roman. Seine Frau ist noch älter, darum hält er nebenbei eine Privatnutte, die einst als Mandantin in seinem Büro ungefragt den Rock lupfte, und kein Höschen darunter.

Das ist sehr Simenon, sogar Altherren-Simenon, aber er kann es eigentlich besser: wenn er über bittere Rentner, verschlurfte Kleinstadtärzte oder Kleingastronomen schreibt und nicht über güldene sexbesessene Säulen der Gesellschaft. Die hier auch noch hohl sinnieren:

An jenem Sonntag habe ich begonnen, an ein Zeichen zu glauben, ein unsichtbares Merkmal, das nur von Eingeweihten zu erkennen ist, von jenen, die es selber an sich tragen.

Sogar über Rechtsanwälte – wie hier – schrieb Georges Simenon (1903 – 1989) schon interessanter, aber die soupierten auch nicht mit Ex-Ministern.

*,*

Sehr Simenon ist auch die Übersetzung. Schlecht. Naja, selbst schuld Hans, ich hatte die 1977er-Übersetzung von Hansjürgen Wille und Barbara Klau. Gibt’s inzwischen eine neue bei Kampa/Atlantik? Besser? (O-Titel En Cas de malheur, erste dt. Übersetzung lt. Impressum betitelt Mit den Waffen einer Frau, wie die 1958er-Verfilmung mit Brigitte Bardot und Jean Gabin.)

In meiner Übersetzung erscheinen schlechtdeutsche Zeilen wie

ich habe meinen Eltern vorgeredet  (S. 19, die Übersetzer meinen “vorgetäuscht)

oder bei Kanzlei-Terminen:

Meine erste Verabredung (S. 47, korrekt wäre “Termin” oder “Gespräch”, nicht “Verabredung”)

Ein Zivilanwalt ist (S. 60) “auf die schiefe Ebene” geraten. Warum nicht auf die schiefe “Bahn”?

“Ein Auto mit zerbrochener Bremse” (S. 108)… “ich habe noch zur Zeit inngehalten” (S. 124)… “ein Absteigequartier” (S. 162) – ist das alles Deutsch?

Und die hatten damals kein Google Translate oder DeepL, um den Text zu ruinieren.

Und Angst vor Dativ-e auch nicht, das hier grassiert: “in meinem Glase”, “auf meinem Wege”, “vor dem Hause” (S. 75, 87, 94).

*,*

Mein Buch ist lt. Impressum die”erstmals ungekürzte Ausgabe”. Dabei hat Simenon doch (wie W. Somerset Maugham) jedes Lektorieren untersagt. Vielleicht ist der Roman gekürzt tatsächlich etwas besser.

Vielleicht strich der Verlag 1958 ja des Ich-Erzählers Räsonnieren über “Begehren ohne Liebe und Leidenschaft. Tierische Sexualität” (S. 105), und später die “Partie zu dritt” (S. 117). Vielleicht galt deutschen Verlegern auch die Franzosenmoral als streichfähig: Die Ehefrau des Steinreichen akzeptiert seine Privatnutte, und die akzeptiert seinen Gebrauch ihrer Kammerzofe.

*,*

In der “ungekürzten” Ausgabe berichtet der Ich-Erzähler hohl triefend von

einer gewissen Höhe der Pyramide ((, auf der)) nur noch wenige Männer die Macht, das Geld und die Frauen teilen.

Wir hören also ergeben von Champagner auf Vernissagen, von Akademie-Mitgliedern zum Diner, von “südamerikanischen Gesandten” (S. 48) und einem mysteriösen Goldhändler mit “Bauernhöfen überall in Frankreich” und einem “wunderbaren Besitz an der Côte d’Azur” (S. 65).

Solch Haute-Volee konterkariert Simenon allzu zaunpfahl mit der Dirne des Ich-Erzählers und deren Vergnügen an “Stenotypistinnen und Verkäuferinnen” und “Sauerkraut in irgendeiner Kneipe” (S. 67), alles “laut und bunt und vulgär und aggressiv” (S. 72). Ebenso platt die uneheliche, halb größtbürgerlich-soignierte, halb kleinstbürgerliche Herkunft des Ich-Erzählers. (So abstoßend kann Brigitte Bardot die Figur gar nicht spielen, wie sie ihr eigener Verehrer im Roman beschreibt.)

Und noch so ein aufdringlicher Gegensatz: Nah der mondänen Stadtresidenz des mondänen Ich-Erzählers hausen Clochards auf der Straße, die er wie ein Insektenforscher durchs Fenster beobachtet. Gegen Ende vergisst der Erzähler diese Clochards, wie eine Pistole an der Wand, die nie gebraucht wird.

Assoziation:

  • Ähnlich sülzig ätherisch klingt Simenons Drei Zimmer in Manhattan
  • Der reiche Ich-Erzähler erhält “ein goldenes Zigarettenetui” – wie so viele Figuren in den Kurzgeschichten von Somerset Maugham. Maugham und Simenon waren Zeitgenossen, lebten länger im selben Land mit teils ähnlichem Lebensstil, begegneten sich aber eventuell nicht

Bücher bei HansBlog.de:


Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

 

Nach oben scrollen