Die Bände 1, 2 und 4 der Collected Short Stories sind sehr heterogen: Sie versammeln Geschichten mit unterschiedlichsten Entstehungsjahren, Längen, Themen und Schauplätzen. Auch Band 2 mischt Geschichten aus London, Süd- und Mittelamerika, Russland und heißem Asien, entstanden zwischen 1922 und 1940; Band 1 wirkt noch etwas heterogener.
Für diese Bände 1, 2 und 4 gilt auch: sie enthalten einige schlechtere Geschichten, die ich mit 6 oder weniger Sternen bewerte, so dass die Durchschnittswertung aller Geschichten eines Bandes oft um die 6 liegt. Doch die schlechten sind die kurzen Geschichten, während die längeren Geschichten zum Beispiel aus London oder Fernasien oft 7 bis 8 Sterne verdienen – rechnet man also nicht den Sterneschnitt pro Geschichte, sondern pro Seite, scheint mir eine 7-Sterne-Gesamtwertung pro Band passend. Zudem bewerte ich die fernasiatischen Geschichten meist nicht, weil ich sie früher separat besprochen habe, sie verdienen aber oft 7 Sterne.
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Die Süd- und Mittelamerikageschichten hier in Band 2 sind eine Besonderheit – W. Somerset Maugham (1874 – 1965) schrieb nicht viel über diese Region und versammelte es hier. Es sind nicht seine Highlights, sie sind auch untypisch kurz und zum Glück nicht zahlreich.
Viel mehr amüsieren die England-Geschichten – aus London, Landgütern oder Seebädern -, oft amüsante Sozialsatiren über Herren von Stand und gar nicht so hilflose Hausdienerinnen. Die steifen, standesbewussten Dialoge erinnern an Loriot – “the exquisite comedy of that meal”, beobachtet der Ich-Erzähler der London-Geschichte Jane. Mittelalte Ehefrauen oder Witwen angeln sich jüngere Liebhaber oder Gatteriche (ein beliebtes Maugham-Thema, auch in den Romanen Theatre und The Narrow Corner). Wieder und wieder betont Maugham hier seine Abneigung gegen konventionelle Ehen: Ehefrauen werden übers Geländer geworfen oder in aller Freundschaft durch eine Hausmagd ersetzt, manche entsorgen sich selbst durch Fremdgehen. Ehebruch scheint der Verfasser freudig zu begrüßen.
Viele Geschichten hier beginnen völlig plot- und dialogfrei mit ein bis drei Seiten allgemeinen Schwadronierens über Gott, die Welt, erstaunliche Zufälle als solche oder Zigarrengenuss. Erst dann kommt allmählich eine Geschichte in Gang, die nun ohne weiteres Blabla gefällig herunterschnurrt. Zwar berichtet Maugham teils Groteskes, aber bei ihm klingt es plausibel.
In vielen Geschichten ist der Ich-Erzähler ein fast passiv beobachtender Schriftsteller-Stückeschreiber. Über die Hauptfigur in der Geschichte Jane sagt ihm gar eine Nebenfigur:
She’s much more amusing than your comedies.
Freilich betont Maugham im Vorwort zu Volume 2 seiner Kurzgeschichten kokett, der Ich-Erzähler sei nicht mit dem Autor zu verwechseln, sondern lediglich ein Storytelling-Trick; der lasse die Sache glaubwürdiger klingen und sorge bequem dafür, dass man nur aus einer Perspektive erzählen müsse.
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Diese Geschichten stehen in Maughams Collected Short Stories Volume 1 – 4 u.i.w. Ausgaben:
- Ev31 = auch enthalten in Collected Stories in Everyman’s Library (31 Geschichten, bei Amazon)
- B17 = auch enthalten in The best short stories of (17 Geschichten, bei Amazon)
- B10 = auch enthalten in Best Short Stories (Macmillan, 10 Geschichten, bei Amazon)
- FET = auch enthalten in Far Eastern Tales (10 Geschichten, bei Amazon)
- MFE = auch enthalten in More Far Eastern Tales (ebfl. 10 Geschichten, bei Amazon)
- RSt = auch enthalten in Rain and other South Sea Stories (7 Geschichten, bei Amazon)
Ø 6,5 |
Collected Short Stories Volume 2 |
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The Vessel of Wrath | 1931 | Südsee v. Papua-Neuguinea | 7/10 | Einsame Südsee-Inseln, Boote auf spiegelglatter See, nur ein paar Dörfler und ein paar Weiße – unter ihnen ein versoffener Tunichtgut, ein vergnügter Lokalregent, ein gestrenger Missionar und seine gestrenge Schwester. Viel Zündstoff und ein verblüffendes Ende. – Typische Südseeatmosphäre à la Maugham oder Joseph Conrad: einsame Weiße unter gleißendem Firmament und in der Weite des Meeres. Einheimische sind Diener, doof, Frau oder tot. Interessante, leicht rustikale Charaktere, im Abgang amüsiertes Schmunzeln über die Akteure und über den Autor, der uns solche Akteure ernsthaft unterjubelt. Bleibt gleichwohl länger im Kopf. Sehr beliebte, viel gedruckte Geschichte. | Ev31, B17, B10, MFE |
The Force of Circumstance
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1928 | Malaya | beliebter Unterrichtsstoff | Ev31, FET | |
Flotsam and Jetsam | 1940 | Borneo | MFE | ||
The Alien Corn | 1931 | England | 7/10 | Reiche jüdische Familie in England müht sich um Anpassung an Christengesellschaft. Sohn George soll zum Militär und ins Parlament – doch er will unbedingt unangepasster Konzertpianist werden, ein harter Konflikt. – Schön plüschig erzählte Geschichte in plüschigem, hochatmosphärischem Ambiente mit Rahmen- und Nebenhandlungen, fast 40 enggedruckte engl. Seiten. Das Ende wie oft zu melodramatisch. Der nichtjüdische Ich-Erzähler beschreibt die Juden teils unangenehm: “Her countenance was markedly Hebraic. She wore a rather heavy moustache…they did not speak like English people… they certainly spoke louder”; über einen Juden, der Juden parodiert: “his face grew cunning, his voice oily”. Geschichte lt. Maughamografin Selina Hastings “outstanding… reveals the infinite complexities of English anti-Semitism” (S. 390f). Das Thema des Rollespielens auf gesellschaftlicher Bühne steht im Vordergrund, wie auch im Maughamroman Theatre. | Ev31, B17 |
The Creative Impulse | 1926 | London | 6/10 | Gewichtige Literatin und Salonière, ihr unscheinbares Ehemännchen und Dienstpersonal. – Zu süffisant aufgetragene Ironie. Beginnt mit mehrseitig dialogfrei allgemeiner Einführung. Nach ermüdend langem nonchalantem Geschwafel eine verblüffende Pointe, ich habe laut gelacht. Erst danach beginnt eine amüsante, dialogreiche Sozialsatire. Sehr deutliche Anklänge an den literarischen Salon und die Salonière aus Maughams Roman Cakes and Ale (1930). Der geschilderte Clash of the Classes erinnert an The Treasure (ebf. Vol. 2). Lt. Selina Hastings “not one of his best”. Hier wie auch in John Irvings Garp werden fiktionale Schriftsteller für ihren meisterlichen Gebrauch des Semikolons gerühmt (hier: “the mistress of the semi-colon”). | |
Virtue | 1931 | London, kurz Malaya | 6/10 | Einsamer Ex-Kolonialverwalter kommt nach London, beginnt was mit Verheirateter. – Zu gedehnte verallgemeinernde Passagen, dann erst kommt eine interessante Handlung in Gang, Dialog und Kernhandlung Maugham-typisch gefällig-gediegen mit leichter Ironie und Maugham-typisch zu melodramatisch am Ende, aber auch trocken zynisch. Enthält als Nebenhandlung das Maugham-typische Kolonial-Dschungelcamp, “some outstation on the edge of the jungle… not spoken to a white man for six months”. Das Motiv “Mittelaltes Ehepaar freundet sich mit jungem Mann an, der die darob geschmeichelte Frau (40+) (fast) verführt” gibt’s 1:1 auch im Maugham-Roman Theatre, so ähnlich auch im Roman Südsee-Romanze/The Narrow Corner (dort sogar 2x) und indirekt in der Kurzgeschichte The Colonel’s Lady (Coll. Shorties Vol. 2). Online kaum diskutiert, nicht von Biografin Hastings erwähnt. | Ev31 |
The Man with the Scar | 1925 | Mittelamerika | 6/10 | Ein mittelamerikanisches Erschießungskommando, ein Rebellengeneral und seine Frau – und eine Maughamesk-gediegene Rahmenhandlung an der Bar mit “dry martini”. – Sehr kurze, dramatische Geschichte, momentweise schockierend und abstoßend. | |
The Closed Shop | 1926 | Südamerika | 7/10 | Ein neues Scheidungsgesetz führt viele scheidungswillige, frisch entbandelte US-Amerikanerinnen in ein lateinamerikanisches Land; das erzeugt Flaute in den örtlichen Bordellen. Drei führende Hauptstadtpuffmütter sprechen aus Sorge um ihr Geschäft beim jungen Präsidenten vor. – Kurze Groteske mit aufreizender Ironie, die amüsiert. | |
The Bum | 1929 | Mexiko | 4/10 | Rätselhafter rothaariger, ausgemergelter Bettler in mexikanischer Stadt. – Kurz, dabei doch weitschweifig, mehrere Themen heterogen mischend. Natürlich in gepflegtem Ton erzählt. | Ev31 |
The Dream | 1924 | Russland | 5/10 | Eifersüchtige Frau berichtet ihrem russischen Mann von schrecklichen Träumen, und dann geschieht wirklich etwas, erzählt via Rahmenhandlung im Restaurant. – Etwas belanglose Geschichte. Schauplatz, Zeit und Atmosphäre wie der erste Teil von Mr. Harrington’s Washing aus Collected Shorties Vol 3 bzw. Ashenden. | |
The Treasure | 1934 | London | 7,5/10 | Alleinstehender, selbstverliebter Herr von Rang kommt an die perfekte Haushälterin. Eines Abends, aus reiner Philantropie, tut er ihr etwas Gutes. – Sehr beliebt, viel gedruckt und eine amüsante Sozialsatire in gefällig perlendem Maugham-Parlando, wenn auch mit typisch weitschweifigem Introgeschwafel. Der geschilderte Clash of the Classes erinnert an die Geschichte The Creative Impulse (ebf. Vol. 2) (langer engl. Kommentar zur Geschichte). | Ev31, B17, B10 |
The Colonel’s Lady | 1946 | England | 7/10 | Die unscheinbare, mittelalte Ehefrau eines konservativen Gutsherrn veröffentlicht überraschend einen sehr erfolgreichen Lyrikband, in dem sie ein peinliches Geheimnis auszuplaudern scheint. Der Colonel sucht sogar seinen Freund, den Rechtsanwalt, auf. – Nicht so glaubwürdig, aber sehr hübsch erzählt, satirisch über Maughams Standardthemen Literaturbetrieb sowie Ehe(-bruch) (speziell ältere Verheiratete mit ext. Jungmann, wie auch in den Romanen Theatre und The Narrow Corner). | Ev31, B17, B10 |
Lord Mountdrago | 1939 | London | offenbar Geistergeschichte, nicht gelesen
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B17, B10 | |
The Social Sense | 1929 | London | 5/10 | Brillante Musikerin, 50+, verachtet ihren Mann, der ein nur zweitrangiger Maler ist, liebt seit langem einen anderen, ohne die Konsequenz zu ziehen. Erzählt bei einem großen Dinner. – Wehleidig, etwas konstruiert. Eine ältere Ehefrau mit langjährigem externen Bewunderer gibt’s auch im Maugham-Roman Julia, du bist zauberhaft (Theatre). | |
The Verger | 1929 | London | Küster kann nicht lesen und verliert deshalb seinen Job. Die berufliche Neuorientierung verläuft überraschend. – Sehr beliebte Geschichte, viel diskutiert und gedruckt. Ich kenne nur die Inhaltsangabe. | B17, B10 | |
In a Strange Land | 1924 | Türkei | 6/10 | Hi-So-Haushälterin aus London wird kleine Hotelwirtin in der hintersten Türkei. – Nette kleine Begegnung aus Maughams Expat-Sammlung, sehr kurz, beginnt aber gleichwohl fast unvermeidlich Maughamesk mit langem allgemeinem Monolog des Ich-Erzählers. Hotelwirtin erinnert in ihrer praktisch-zupackenden Art an die einsame Südsee-Hotelwirtin in French Joe (Coll. Shorties Vol 4). | Ev31 |
The Taipan | 1922 | China | offenbar Geistergeschichte, nicht gelesen | ||
The Consul | 1922 | China | 5/10 | Engländerin lebt mit chinesischem Mann in China; der aber hat noch eine Frau, eine zänkische Mutter und ein grauenhaftes Haus. Ein schrulliger Konsul betreut die Engländerin. – Zu langer allgemeiner Einstieg. Die Kombination des schrulligen Konsuls mit der Engländerin ist völlig willkürlich. Eher belanglos. Offenbar auch im Reisebericht On a Chinese Screen enthalten. | |
A Friend in Need | 1925 | Japan | 6/10 | Engländer ist in Japan bargeldlos gestrandet. Ein engl. Unternehmer vor Ort bietet einen Job, verlangt aber vom Bewerber zunächst das Durchschwimmen eines sehr schwierigen Flussabschnitts. Erzählt in maughamesker Rahmenhandlung bei Gin Fizz. – Passabel erzählt, menschliche Abgründe gegen Ende nicht sehr plausibel; oder doch? | |
The Round Dozen | 1924 | Seebad England | 7/10 | Hier: ein steifes älteres Ehepaar und ihre 50jährige Nichte, nie verheiratet. Dort: ein 11facher Bigamist, der gern das runde Dutzend beisammen hätte. Und: ein distanziert amüsierter Beobachter, der Maugham-typische alleinreisende Schriftsteller-Ich-Erzähler und Menschensammler. – Amüsante Sozialsatire mit viel Loriot darin, vergnüglich pikierte Dialoge; im Erzählteil etwas zu wortreich und mit überdehntem Introgeschwafel, die Parteien zu lange unverbunden. Lt. Biografin Hastings “not one of his best”, HansBlog was amused. | B17 |
The Human Element | 1930 | England, Rhodos | 7,5/10 | Einsamer Diplomat schmachtet Hi-So-It-Girl an. Die aber xyz. Maugham erzählt mit einer typischen Rahmenhandlung bei Cocktails im Hotel. – Sehr spannend, genau, gut komponiert, obwohl nicht viel passiert, die Zaunpfähle zu dick in der griechischen Landschaft stehen und das social distancing lächerlich anmutet. Der frustrierte Diplomat, der dem reisenden Ich-Erzähler sein Herz ausschüttet, erinnert deutlich an den englischen Botschaft in Russland aus His Excellency (Ashenden bzw. Coll. Shorties Vol 3). | Ev31 |
Jane | 1923 | London | 8/10 | Geldige Nordland-Matrone heiratet 27 Jahre jüngeren Mann; ihre schicke Londoner Schwägerin ist fassungslos; der Ich-Erzähler beobachtet still amüsiert. Die Matrone entwickelt sich ganz unerwartet. – Dick aufgetragen, elegant erzählte Sozialsatire mit typischen Maugham-Themen: Ältere Frau mit viel Jüngerem, kein Zwang zu ewiger Treue, physische und soziale Fassaden mit Unterhaltungswert (“the exquisite comedy of that meal”). Kein Wunder, dass ein erfolgreiches Theaterstück draus wurde. | |
Footprints in the Jungle | 1927 | Malaya | Ev31, FET | ||
The Door of Opportunity | 1931 | Malaya, England | FET | ||
Ø 6,5 |
Assoziation:
- Maughams amüsante London-Geschichten erinnern etwas an Graham Greenes amüsante London-Geschichten aus Leihen Sie uns Ihren Mann
- Nur in Vol 4 gibt’s Geschichten aus Süditalien, Singapur und mehrere Geschichten vom Schiff.
- Die hochtourige englische Sozialsatire erinnerte mich momentweise an Thomas Manns Juxton in den Buddenbrooks.
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- Sehr genaue Listung und Analyse bei Lit-Blogger Astrofella (engl.)
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