Kritik Sachbuch: Wie Gott verschwand aus Jorwerd, von Geert Mak (1996) – 8/10 Sterne

Geert Mak schreibt ein fast ideales Sachbuch: Faktensatt, ohne Blabla, sehr flüssig. Er mischt allgemeine Schilderungen gut mit Einzelschicksalen und flicht gelegentlich Landschaftsimpressionen ein. Maks Bericht entwickelt einen Zug fast wie ein Roman.

Interessant: In den Niederlanden erschien das Buch 1996, auf Deutsch erst 2007 – offenbar hielt der deutsche Verlag Maks Buch auch 11 Jahre nach Erscheinen und mindestens 12 Jahre nach Recherche immer noch für interessant. Und ich las es 2023 immer noch fasziniert – und gibt es eine Fortsetzung? Seine Agentur antwortete mir dazu nicht.

Industrialisierung, Mechanisierung, Mistquote, Milchquote:

Mak erzählt vom späten Mittelalter bis 1995, samt Industrialisierung, Mechanisierung, Kriegszeiten, Mistquote, Milchquote, Depression und Boom. Er zitiert nicht nur Dörfler, sondern auch Soziologen, Historiker, Journalisten und Agrartelefonseelsorger; er redet über “Zweithäuschen” und “die städtischen Zugezogenen auf dem Land”, und er blickt vereinzelt nach USA, England, Polen, Deutschland und in Anna Karenina. Gelegentlich könnte Maak für meinen Geschmack weniger tief schürfen, etwa hier auf S. 76:

Und der Bauernhof von Sake, wo inzwischen drei Generationen von Casteleins wohnten, wurde hundertsiebzehn Jahre lang, von 1795 bis 1912, von ein und derselben Familie betrieben – weitergegeben vom Vater an den Schwiegersohn, vom Bruder an die Witwe; eine Kette, die dreizehn Nachfolger umfaßte.

Mak bezeichnet sich “als “Stadtmenschen durch und durch”. Stimmungsvoll illustriert er gleichwohl seinen dichten Bericht mit kurzen Rundblicken auf Umgebung und Natur:

Überall auf den Wassergräben und den Kanälen war das Schrappen von Schlittschuhen zu hören. Über das Land rannte ein einsamer Hase. Ab und zu stand er kurz aufrecht auf seinen Hinterläufen und sah sich um, dann rannte er wieder los, über die Felder, über die zugefrorenen Wassergräben, im Zickzack…

Meine Taschenbuchausgbe (btb 1. Auflage 2007) hatte keine Bilder, Karten oder Stammbäume.

Eigenbrötler:

Gert Mak (*1949) betont immer wieder das regional Friesische; doch er schreibt Jorwerd allgemein Niederländisch mit “d”, während es friesisch Jorwert mit “t” heißt und unter diesem Namen in der Wikipedia, bei Google Maps und bei OpenStreetMap erscheint (s.a. Mak, S. 250).

Isabelle de Keghel übersetzte flüssig und scheint’s fachkundig (ich kann’s nicht beurteilen), allerdings wunderte mich die Verwendung von “Eigenbrötler” (sic, z.B. S. 70) für Selbstversorger oder Subsistenzwirtschaftler – selbst wenn das die ursprüngliche Bedeutung ist. Noch mehr störten mich die englischen Wörter “peasants” und “farmers” im deutschen Text (u.a. S. 66). Dazu kommt abgestandenes Dativ-e in abgehangenen Phrasen wie “im Jahre” (u.a. S. 149), “aus dem Jahre” (S. 250) und “auf dem Lande” (u.a. S. 259).

Geert Mak schreibt zumeist dicht ohne Bla-bla, liefert knackige Fallbeispiele oder wissenschaftliche Erkenntnisse. Erst gegen Ende kredenzt er obsolete Allgemeinplätze wie (S. 289, 291)

Wenn eine Gesellschaft schnellem Wandel unterworfen ist, bekommen Eltern und Kinder Streit. Die ältere Generation sieht das Leben nun einmal anders als die junge, und das ist auch unabdingbar, denn sie müssen in unterschiedlichen Welten überleben. Solche Brüche können auch innerhalb des eigenen Lebens stattfinden, und dann gerät man in Konflikt mit sich selbst. In einer festgefügten und festgelegten Welt – und so war es in Jorwerd bis 1945 – ist es sehr wahrscheinlich, daß auch wirklich eintritt, was ein Mensch erwartet. … Händler sehen immer ein wenig frivoler aus als Bauern…

Im Kuhdorf:

In meinem kleinen deutschen Kuhdorf las ich zustimmend Sätze über das niederländische Kuhdorf wie (S. 96f):

In den fünfziger Jahren ging die echte, tiefe Stille von Jorwerd verloren. … Später hörte man nur noch das Dröhnen der Motoren… die Jauche, die seit den siebziger Jahren aus den Liegeboxenställen kam, roch scharf nach dem Kraftfutter, mit dem die Produktion der Kühe gesteigert wurde, säuerlich nach dem Spülwasser, das hineingeraten war, ordinär nach den Nachgeburten, die durch die Betonbalken getreten worden waren, und manchmal konnte es rings um Jorwerd ganz schön stinken.

Sogar in sprachlichen Besonderheiten scheinen niederländische und deutsche Kuhdörfer übereinzustimmen. Mak:

Viele Bauern redeten von » der Frau«, während ihre Ehepartnerin neben ihnen saß

Freie Assoziation:

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