Zwar ist man hier in vertrautem Lena-Christ-Land: auf dem oberbayerischen Dorf, mit all seinen Käuzen; und – bei Lena Christ – natürlich mit unehelichen und Pflegekindern. Doch die Geschichte spielt großteils schon um 1800, rund 100 Jahre früher als andere Christ-Bücher.
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Die Irschnermutter:
Und auch sonst tönt das Bichlerbuch anders als die andern: Nicht frech und flott, sondern mild märchenhaft und religiös – in den ersten Kapiteln wie ein Kinderbuch für Abergläubische.
Da ertränkt die Irschnermutter drei Fledermäuse in Milch und lässt sich dann vom Blitz erschlagen. Seltsame Dinge passieren auch bei der Wallfahrt. Ein 12jähriger Ich-Erzähler charmiert und beschläft die viel ältere Kathrein, und dann sind sie beide Waisen… Nichts ist eindeutig unrealistisch, aber das zeilenreiche Religionsgedöns und der Tränendrüsenplot voller Tragödien bis zur letzten Seite elektrisieren nur begrenzt. Immerhin rundet sich die Geschichte zum Ende gefällig.
Es gibt kaum Einblicke ins Sozialklima, stattdessen scheinen die wenigen Höfe einsam im All zu schweben. Sehr ausführlich – wie als Auftragsarbeit – beschreibt Lena Christ katholische Prozessionen, Taufen, Hochzeiten und mehrere weniger katholische Beerdigungen. Die mehrseitige Biografie der “Tiroler Kathrein” trägt zur Handlung nichts bei – sie hat für die Hauptfigur praktisch keine Bedeutung.
Wunderlich:
Das Bairisch in den Dialogen klingt Christ-untypisch wunderlich, und der Ich-Erzähler erzählt eher hochdeutsch mit irgendwie antikisierenden bairischen Einsprengseln wie hier (S. 154 dtv-Ausgabe):
Nun ich aber vor die Tür trat in die frische, kalte Winterluft, da wurd’s bald wieder kühlig in meiner obern Stuben ((…)) Nun mag ich auch nicht versäumen, zu melden, daß wir ((…))
Das ist sehr weit weg von der schelmisch-scharfzüngig-schnippischen Rumplhanni (1916). Womöglich soll der Sound die Zeit um 1800 emulieren (S. 192):
((…))indessen ich einen harten Kampf mit mir ausfocht, ob ich sollt unter falschem Namen weiter wandern oder aber ((…)) von den Schürgen aufgegriffen und nach Sonnenreuth abgeschubt werden.
Naja:
Die kindliche Perspektive, die Lena Christ in den Erinnerungen einer Überflüssigen so überzeugend liefert, bezaubert beim Jungbichler nicht. In einer kurzen Episode liefert das Bichlerbuch immerhin amüsantes Gaunergeheimwelsch.
Zum Glück ist dies nicht das erste Lena-Christ-Buch, das ich lese. Ich hätte es wohl weggelegt und auf weitere Kostproben verzichtet. Ich muss allerdings sagen, dass ich die Lektüre nie abbrechen wollte – das Schicksal des jungen Mathias Bichler interessierte mich, und sei der Ton auch noch so salbungsvoll; zumal man ja weiß, dass Lena Christ in Mathias Bichler ihrem Großvater ein Denkmal setzt, den sie in ihren Erinnerungen einer Überflüssigen so liebevoll gezeichnet hatte.
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Freie Assoziation:
- Zwar erinnert das Bichler-Buch an die Romane und Memoiren von Oskar Maria Graf, doch dort gibt’s weniger Religion und Aberglauben
- Nach langer Zeit in Kleinstädten und Einöden geht’s in die “Münchnerstadt” und dort interimistisch in den Knast – wie bei Lena Christs Rumplhanni
- Ein stiller kunstsinniger Jüngling geht vom Dorf nach München und folgt dort seiner Berufung – das gilt für Konrad Oßwald in Ludwig Thomas Altaich – er wird Maler – und für den Bildhauer Mathias Bichler im gleichnamigen Roman von Lena Christ
LenaSpurenChristSuche mit Glonner Heimatkundler (auch über den Bichler-Roman) und Süddeutscher Zeitung
1912 Erinnerungen einer Überflüssigen (7 Sterne) Milieu: 1/4 Dorf, 1/4 Kloster, 2/4 München, u.a. Wirtshäuser, große Bürgerhochzeit Besonders: Memoiren, nicht Fiktion 1913 Lausdirndlgeschichten (5 Sterne) Milieu: Kinder und Erwachsene a.d. Dorf u.i.d. Stadt Besonders: sehr kurze Geschichten aus Kinderperspektive 1914 Mathias Bichler (5 Sterne) Milieu: Dorf, Pflegekinder, Kirchliches, Brauchtum, Walz im Alpenland Besonders: Religiös märchenhafter Kinderbuchton, männl. Ich-Erzähler 1914/15 Unsere Bayern anno 14/15 (7 Sterne) Milieu: 3/4 München, 1/4 Dorf; Auswirkung des Kriegs auf Heimat Besonders: viele kurze nüchterne Geschichten; gutes Bairisch in Dialogen 1916 Die Rumplhanni (8 Sterne) Milieu: 3/4 Dorf, 1/4 München, dort u.a. Gefängnis, Wirtshaus Besonders: scharfe Dialoge, auch Erzählstimme im Dialekt, extra "bairisch" 1919 Bauern: Bayerische Geschichten (7 Sterne) Milieu: Hofbesitzer auf dem Dorf Besonders: viele kurze unverbundene humoristische Kurzgeschichten 1920 Madam Bäuerin (7 Sterne) Milieu: Städter und Dörfler auf dem Dorf Besonders: relativ breiter, schenkelklopfender Humor Wie bei allen Büchern von Lena Christ oder auch aus Papua-Neuguinea hätte ich gern ein Glossar für fremde Ausdrücke und Sitten. Schon das "Jungfernkrönlein" (in Erinnerungen einer Überflüssigen und in Mathias Bichler) konnte ich mit Google nicht eindeutig klären. Und was sind "schwarze Blonde"? Meine Lena-Christ-Taschenbücher von dtv liefern keine Hintergründe. Ausführlich kommentiert dagegen Walter Schmitz in Lena Christs Gesammelten Werken 1 – 3 im Süddeutschen Verlag (offenbar zumindest in der Auflage von 1988/89/90, evtl. nicht bei früheren Auflagen). Ich kenne davon nur den 2. Band mit Rumplhanni und Unsere Bayern – er liefert genaueste bi/bli/ografische Aufklärung, aber kein Oberbayerntumglossar.Lena Christ bei HansBlog.de:
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