Buchkritik: Lausdirndlgeschichten, von Lena Christ (1913) – 5 Sterne

Lena Christ (1881 – 1920) erzählt 16 Sehrkurzgeschichten aus Kinderperspektive. Dabei gibt’s manchmal eine ganze Kinderschar, die untereinander oder mit den Großen Schabernack treiben. Öfter agiert die Ich-Erzählerin allein unter Erwachsenen oder sie erzählt nur Geschehnisse zwischen Erwachsenen nach. Oft geht es um verlockende Obstbäume, strenge Pfarrer und Lehrer, Eltern, Nachbarn jeden Alters – auf dem Dorf, gelegentlich in München. Viele Geschichten sind offenbar autobiografisch, einige Episoden kennt man auch aus Christs Erinnerungen einer Überflüssigen.

“In’ Roa’ einig’ackert”:

Ich habe fast alles von Lena Christ gelesen, und nur hier bei den Lausdirndlgeschichten passierte mir dies: Einzelne Geschichten verstand ich nicht. Teils verstand ich das verschriftlichte oberbayerische Bairisch nicht (“in’ Roa’ einig’ackert”); teils verstand ich die Bräuche und Hintergründe nicht, so dass mir die Pointe entging; teils verstand ich den Zusammenhang nicht. Solche Probleme hatte ich mit keinem anderen Buch der Christ.

Teils verstand ich scheinbar alles, verstand aber gleichwohl nicht, warum Lena Christ die Geschichte wiedergibt – es schien nicht lustig oder zumindest markant. Für mich eindeutig das schwächste Lena-Christ-Buch (zusammen mit Mathias Bichler, das aus anderen Gründen enttäuscht).

Stakkato:

Eine einzige Story ist unsentimental anrührend. Die meisten Lausdirndlgeschichten indes klingen aufgesetzt kindlich naiv (der kindliche Ton zu Beginn der Christschen Erinnerungen einer Überflüssigen ist besser). Christ schreibt lauter kurze Hauptsätze und packt jeden dieser kurzen Hauptsätze in einen eigenen Absatz. Beispiel:

Aber das macht nichts.

Sie hat es nicht umsonst getan.

Ich weiß schon was.

Das ist ihr Obstgarten.

Der ist so groß, wie der Hofgarten in München.

Ganz so groß nicht, aber schon fast.

Vielleicht halb so groß.

Aber er ist furchtbar groß.

Das reißt nicht vom Hocker, wirkt fast wie Platzschinderei. Kaum einmal liefert einer dieser kühn exponierten Sätze markante Einzeiler wie diesen:

Und die Luft war dick und die Ropferin auch.

Meine Allitera/Monacensia-Printausgabe enthält exakt eine Erklärung per Fußnote (für Christs Ausdruck “höllisch Feuer”), und das auf der ersten Seite. All die unbekannten Ausdrücke und Gebräuche auf den folgenden Seiten werden nicht erklärt. Dem folgt schon auf Seite 77 eine kurze editorische Notiz – das Ende. Zu den Lausdirndlgeschichten finden sich online kaum interessante Rezensionen, aber viele Hinweise auf Lesungen mit Musik und auf Umsetzungen fürs Theater.

Freie Assoziation:

  • Pfiffige, schnelle Kurzgeschichten aus dem Oberbayernbauernalltag – das liefert Lena Christ in Bayerische Geschichten  überzeugender
  • Frühe Kindheit auf dem Dorf, dann der Wechsel in die Stadt zur Mutter aller Grauen – wie in Lena Christs Erinnerungen einer Überflüssigen
  • Vom Titel her erinnern die Lausdirndlgeschichten an die früher erschienen Lausbubengeschichten von Lena Christs Bekanntem und Förderer Ludwig Thoma; doch Inhalt und Stil unterscheiden sich sehr deutlich, es gibt kaum Verbindungen
  • Natürlich erinnert der Bauernteil an die Romane und Memoiren von Oskar Maria Graf, nicht zuletzt an die Kinderstreiche in Aus dem Leben meiner Mutter und in den Dorfbanditen

Lena Christ bei HansBlog.de:

1912

Erinnerungen einer Überflüssigen (7 Sterne)

Milieu: 1/4 Dorf, 1/4 Kloster, 2/4 München, u.a. Wirtshäuser, große Bürgerhochzeit

Besonders: Memoiren, nicht Fiktion

1913

Lausdirndlgeschichten (5 Sterne)

Milieu: Kinder und Erwachsene a.d. Dorf u.i.d. Stadt

Besonders: sehr kurze Geschichten aus Kinderperspektive

1914

Mathias Bichler (5 Sterne)

Milieu: Dorf, Pflegekinder, Kirchliches, Brauchtum, Walz im Alpenland

Besonders: Religiös märchenhafter Kinderbuchton, männl. Ich-Erzähler

1914/15

Unsere Bayern anno 14/15 (7 Sterne)

Milieu: 3/4 München, 1/4 Dorf; Auswirkung des Kriegs auf Heimat

Besonders: viele kurze nüchterne Geschichten; gutes Bairisch in Dialogen

1916

Die Rumplhanni (8 Sterne)

Milieu: 3/4 Dorf, 1/4 München, dort u.a. Gefängnis, Wirtshaus

Besonders: scharfe Dialoge, auch Erzählstimme im Dialekt, extra "bairisch"

1919

Bauern: Bayerische Geschichten (7 Sterne)

Milieu: Hofbesitzer auf dem Dorf

Besonders: viele kurze unverbundene humoristische Kurzgeschichten

1920

Madam Bäuerin (7 Sterne)

Milieu: Städter und Dörfler auf dem Dorf

Besonders: relativ breiter, schenkelklopfender Humor

Wie bei allen Büchern von Lena Christ oder auch aus Papua-Neuguinea hätte ich gern ein Glossar für fremde Ausdrücke und Sitten. Schon das "Jungfernkrönlein" (in Erinnerungen einer Überflüssigen und in Mathias Bichler) konnte ich mit Google nicht eindeutig klären. Und was sind "schwarze Blonde"? Meine Lena-Christ-Taschenbücher von dtv liefern keine Hintergründe.

Ausführlich kommentiert dagegen Walter Schmitz in Lena Christs Gesammelten Werken 1 – 3 im Süddeutschen Verlag (offenbar zumindest in der Auflage von 1988/89/90, evtl. nicht bei früheren Auflagen). Ich kenne davon nur den 2. Band mit Rumplhanni und Unsere Bayern – er liefert genaueste bi/bli/ografische Aufklärung, aber kein Oberbayerntumglossar.

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