Buchkritik: Die Tante Jolesch (1975), von Friedrich Torberg -7/10

Dies ist eine lose Anekdotensammlung aus einem internationalen, gleichwohl einheitlich “altösterreichischen” (Torberg) und sentimental verklärten Milieu. Sie wird zusammengehalten von Friedrich Torbergs vollmundigem wie übersichtlichem, altmodisch ziseliertem Deutsch, das hervorragend zum plüschigen Ambiente passt.

Eigenwilligkeiten und Käuze:

Friedrich Torberg kapriziert sich v.a. auf witzige, mitunter leicht derbe Aussprüche, elaborierte Unverschämtheiten, auf “sprachliche Eigenwilligkeiten” und drollige “Käuze”, er räsoniert über Sprache  und das Jüdischsein. Dabei liefert er reizende Einblicke in die versunkene k.u.k. Welt unter anderem in Wien, Prag und der “Festung Europa” zu Hollywood. Zeilen- oder kapitelweise fährt er A-Promis auf wie Karl Kraus, Egon Friedell, Max Brod, Franz Werfel, Bert Brecht, “meine guten Freunde” Franz und Alma Werfel, Albert Einstein, Hermann Broch, Egon Erwin Kisch, Dorothy Parker, Arnold Schönberg, Oskar Maria Graf, Franz Molnár (kehrt im Nachfolgeband wieder) oder Franz Kafka.

Trotz aller Sprachbewusstheit indes schreibt Torberg “peripatetisch” mit “th” (dtv-Ausgabe S. 80) und schreckt nicht vor Gräuel-Koppel-s wie

Trafikantenswitwe

(sic, Seite 127) oder

Aufnahmsprüfung

(Seite 160) zurück. Und Seite 134: “ihm…besucht“. Seite 248: “am gleichen ((sic))Tisch wie ehedem”. Und Seite 238:

Kein einziger Begriff, mit denen ((sic)) er operiert, ist eindeutig.

Das ☝️ will sogar Google Docs richtigstellen.

Ansturm der Erinnerungen:

Der Autor kommt von Hölzchen auf Stöckchen und strebt nie eine durchgehende Handlung an, auch Titelfigur Tante Jolesch erscheint nur vereinzelt. Torberg redet selbstbetroffen vom “mangelhaft regulierten Fluß dieser Aufzeichnungen” und entschuldigt sich, der “Ansturm der Erinnerungen” werde ihn

wohl noch öfter in die nahezu unausweichliche Zwangslage bringen, vom Hundertsten ins Tausendste zu geraten

Er redet schon im ersten Drittel vom

mehrmals gescheiterten Bemühen, meinen Reminiszenzen zu einer halbwegs geordneten Struktur zu verhelfen

Das ist zu viel insgeheim zustimmenden Widerspruch heischendes Metagerede:

Fast alles, was ich hier noch aufzeichne, würde auch in andere sachliche oder persönliche Zusammenhänge passen – ein von mir schon wiederholt beklagter Strukturdefekt dieses Buchs, der mich indessen nicht hindern darf, die fälligen Ergänzungen vorzunehmen.

Dichtung und Wahrheit:

Schmerzlich, nicht alles hat der Autor selbst erlebt und vernommen oder auch nur sich zutragen lassen; er kolportiert auch Erfundenes, bei seiner Tante z.B. einen (S. 10 dtv-Ausgabe, kursiviert wie im Buch)

Ausspruch…, weil sie ihn getan haben könnte 

Das ist also nicht alles authentisch sondern teils Fiktion, quasi nur Witz oder, edler, erfundene Anekdote; das mindert für mich den Reiz, und man weiß nie, was echt sein könnte.

Im Vorwort behauptet Torberg auch,

die Schöpfung dieser Aphorismen zur Lebensweisheit fiel fast immer den Frauen zu. Die Männer waren vollauf damit beschäftigt, Geld zu verdienen…

Doch im Buch selbst produzieren sich fast nur alte weiße Männer (ein Skandalon). Frauen existieren fast nur als Huren, gefürchtetes/untreues Ehegespons oder als Gastgeberin immaculata.

Ziellos:

Ab etwa Seite 100 von 249 eng bedruckten dtv-Seiten strengt das charmante, elegante, intelligente und von heutiger deutschsprachiger  Literatur so wohltuend unterschiedene, aber eben völlig plotfreie Anekdotenhubern an. Trotzdem las ich weiter, nicht zuletzt, weil just an dieser Schwelle ein Kapitel zum Prager Tagblatt beginnt, und Medien interessieren mich immer.

Eins der besten Kapitel, über den liederlichen und wortgewaltigen Advokaten Dr. Sperber, kommt noch später. Dem folgt das Kapitel über Franz Molnár, das schwächer beginnt, weil Friedrich Torberg hier eingestandenermaßen seinen schon in zwei Varianten veröffentlichten Molnár-Nachruf erneut aufbäckt und  die gewohnten Anekdotenkaskaden hinten anhängt (der Nachfolgeband hat ein weiteres Molnar-Kapitel).

Auf den letzten rund 30 Seiten wiederholt der Autor weitere bereits früher gedruckte Texte offenbar ganz unverändert, unter anderem ein Buchvorwort und Mehreres zum Thema Restaurant/Kaffeehaus/Konditorei (“Sacher und Wider-Sacher”), deren Rindfleischprodukte und Angestellte – das passt stilistisch und inhaltlich nicht immer zum bisher Gelesenen. Unschön heraus stechen die neun schwachen, verallgemeinernden Seiten “über das Kaffeehaus“ ohne konkretes Personal.

Ich glaube, Torberg hatte mit den zwei Jolesch-Anekdotenkästlein wie auch mit Kishon-Übersetzungen mehr Erfolg als mit seinen Romanen; hat es ihn wohl gekränkt, dass diese Anekdoten von anderen über andere – quasi fremde Federn – mehr Beachtung fanden als seine ureigenen Produkte?

Assoziation:

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